Moderne Tänzerinnen

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Von J. Lorm. – Hierzu 8 photographische Aufnahmen.
Daß der Tanz eine der wunderbarsten Erfindungen ist, die uns von den Griechen und Römern überkamen, wird niemand leugnen, der das sechzehnte Jahr überschritten und das fünfundzwanzigste noch nicht erreicht hat. Sofern er männlichen Geschlechts ist, wird sich diese Neigung zur choreographischen Kunst in späteren Jahren wieder einstellen, so nach dem fünften Dezennium, wenn die allmählich gelichteten Locken schließlich einer unbewaldeten Fläche gewichen sind, die wenig zartfühlende Seelen mit dem Namen „Glatze“ und enfants terribles mit dem Ausdruck „Skating-Ring für Fliegen“ heimtückisch zu bezeichnen pflegen.

Allerdings ist dieser spätsommerliche Tanzenthusiasmus dann nicht mehr aktiver, sondern beschaulicher Natur und beschränkt sich darauf, von den ersten Parkettreihen oder einem bequemen Logenfautenil aus, die Pirouetten und Entrechats zu bewundern und staunend der Wandlungen zu gedenken, die der Tanz und sein Ausdruck im Lauf des letzten halben Säkulums erfahren. Im Salon wie auf der Bühne. Wohl klingen noch wiegende Tanzweisen, und junge, in Tüll und Blumen gehüllte Mädchen gestalten harren der Tänzer, die sich, noch zögernd, in den Ecken des Saals flüsternd unterhalten. Sie sprechen vom Ringkampf und vom Meisterschaftsprügeln um das „Championat der Welt“, aber wenn sie endlich tanzen, so ist es nicht der Walzer, mit dem einst der Zauberer Johann Strauß die Seele der Donauweibchen in Musik gesetzt. Sie gleiten und schreiten, winden und verrenken sich – es ist der Boston oder der Cake-Walk, diese Tänze, die vielleicht ein malitiöser Neger ersann, um seinen weißen Brüdern zu beweisen, daß von ihnen beiden bis zum Kronzeugen Darwinscher Theorie nur ein Schritt ist….

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Der Rhythmus und die Schönheit sind geschwunden, und Grazie und Anmut wohnen nur noch in dem Kunsttanz, der sich auf der Opern-und Varietébühne siegreich behauptet. Daß er sich da heimisch gemacht, daß er nicht mehr wie einst nur das Theater zu seiner Heimstätte erkor, liegt an der Veränderung, die sich in seinem innersten Wesen vollzogen. Die Tanzweise der Taglioni, Elßler, Adele Grantzow und anderer, einst viel bejubelter Größen lebt nur noch in einzelnen Vertreterinnen jener Kunst. Ihre über alle Maßen entwickelte Technik und ein Reichtum an persönlicher Grazie lassen uns noch heute eine dell’Era bewundernd anerkennen. Diese ausgezeichnete Prima-Ballerina des Berliner Opernhauses, eine Schülerin Taglionis, die bereits als vierzehnjähriges Mädchen als Star des Balletts des Khedive Ismail Pascha in Kairo glänzte, kann als eine der idealsten Vertreterinnen jener Richtung bezeichnet werden. Ihre vollendete Kunst, die ihr auch anläßlich eines Gastspiels in Petersburg als „Sylvia“ und „Satanella den Beifall Kaiser Alexanders III. des Vaters des jetzigen Zaren, errang, ließ sie selbst in Paris zur Zeit der Ausstellung ganz außerordentliche Erfolge erzielen.

Mme. Saharet
Mme. Saharet
Mathilde Krzesinska
Mathilde Krzesinska

Rosita Mauri, die Tanzkönigin der Pariser Oper, deren virtuose Kunst jahrzehntelang die Gazewolken des Ballettkorps beherrschte und einen ihrer größten Triumphe in dem ersten japanischen Ballett „Nedda“ feierte, findet heute eine würdige Nachfolgerin in der schönen Mailänderin Carlotta Zambelli. Ihre Pirouetten, ihr Fußspitzentanz, der eine Stärke der Mauri gewesen, wie er auch eine Glanzleistung der dell’Era ist bedeutet eine vollendete Technik, wie sie das Ballett, das man ja keinen Persönlichkeitstanz nennen kann, erfordert. Nur die meisterhafte Beherrschung dieser Technik, mit Anmut und Grazie vereint, läßt uns vergessen, daß die „klassische“ Ballettkunst für nur noch ein Kuriositätsinteresse besitzt. Ein solches Kuriositätsinteresse dürfte es vielleicht auch sein, zu erfahren, daß in den fünfziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts selbst in Mozarts Oper „Don Juan“ das Ballett das Schlußwort zu sprechen hatte.

Doch nicht nur an Ballettenthusiasten, auch auf Männer der Wissenschaft scheint der Tanz neuerdings Anziehungskraft auszuüben, wenn auch weniger ihrer anmutigen Vertreterinnen, als ernster Studien wegen. So hat z. B. unlängst der Münchner Archäologe Professor Furtwängler die hellenischen Tanzweisen Isadora Duncans durch einen Vortrag eingeleitet und der Pariser Archäologe Professor Gayet ist noch einen Schritt weiter gegangen. Im Lauf einer Reihe fesselndster Vorträge über altägyptische Bräuche und Tänze demonstrierte er den Zuschauern seine Absichten in lebendigster Weise durch die Auferweckung einer altägyptischen Mumie aus ihrem Sarkophag. Man konnte sich diese Mumie gar wohl gefallen lassen, denn es war Theresa Cerutti, die graziöse junge Tänzerin der Pariser Oper, die er erweckte, um von ihr mit bewunderungswertem Kunstverständnis altägyptische Palmentänze und Begräbnisreigen interpretieren zu lassen.

Antonietta Dell'Era
Antonietta Dell’Era
Irene Sironi
Irene Sironi
Theresa Cerutti
Theresa Cerutti

Nicht dieser, sondern pariserischer Art sind die Tanzposen, die Cleo de Mérode, die schlanke Tänzerin mit dem Madonnenscheitel, seit einigen Jahren auf den Varietébühnen zweier Welten verkörpert. Es ist wohl eigentlich mehr ihre eigenartige Schönheit und die poetische Anmut ihrer Bewegungen, die an ihren Darbietungen Gefallen finden läßt. Dem Pariser Ballettkorps angehörend, in dem sie vorerst nur durch ihre Lieblichkeit auffiel, errang sie ihren ersten Erfolg in Dubois „Farandole“. Eine gewisse Popularität veranlaßte sie, nach dem Vorbild anderer Stars diese Popularität auf Gastreisen in Gold umzumünzen. In welchem Maß ihr das gelang, bekunden diese Gastspielverträge, die ihr eine durchschnittliche Monatsgage von 25 000 Franken sichern. Und da gibt es noch Menschen, die behaupten, die Kunst ginge nach Brot. Nun – die Kunst vielleicht!

Jedenfalls versteht man in unsern Tagen, die Künstlerinnen zu ehren, nicht nur in Amerika, sondern auch in der Alten Welt. Ganz besonders, wenn sich um sie ein Sagenkreis gewoben, wie jener es ist, der die Petersburger Prima Ballerina Mathilde Krzesinska umgibt, die mit einem Gefolge von 22 Personen zu reisen gewohnt ist, und deren Diamantdiademe, Rivieren, Halsketten, Boutons, kurz der ganze Schatz eines wahrhaft – kaiserlichen Schmucks ihrem auf 17-20 Millionen Rubel bewerteten Vermögen entsprechen. Dieser russische Ballettstern, der nebenbei tatsächlich auch eine große Künstlerin ist, errang anläßlich eines vor ungefähr Jahresfrist absolvierten Ehrengastspiels an der Wiener Hofoper einen sensationellen Erfolg. In „Excelsior“, dem Ballett der Lichtwirkungen, in dem die Krzesinska die „Zivilisation“ tanzte – gibt es jemand, der geschaffener wäre, diesen Begriff zu verkörpern, als ein Wesen russischer Abkunft? – zeigte sie sich als eine Fußspitzenkünstlerin von verblüffendster Virtuosität. Unter einem nicht endenwollenden Beifallssturm, zu dem Kaiser Franz Josef, der der Vorstellung beiwohnte, selbst das Zeichen gab, schlug sie den Rekord aller Pirouetten, indem sie sich an vierzigmal auf den Fußspitzen um ihre eigene Achse drehte. Daß man einer Dame, die über Millionen verfügt, keine gewöhnlichen Pflanzen dedizieren darf, ist eigentlich selbstverständlich. Und so „flogen“ denn goldene und silberne Lorbeerkränze zu den Füßen der Gefeierten nieder, während ein eigens von der Newa herbeigeeilter Spezialberichterstatter im beschleunigten Sechsschritt nach dem Telegraphenamt eilte, um mittels elektrischen Funkens nach der Heimat zu berichten, daß Rußland Oesterreich mit den Fußspitzen erobert habe. An jenem Abend gab es in den wunderbaren Räumen des Wiener Opernhauses noch jemand, der die Zahl der geschlagenen Pirouetten voll Interesse verfolgte. Es war die heimische Prima Ballerina Irene Sironi, die nicht nur zu den vielbewundertsten Tanzkünstlerinnen, sondern seit einiger Zeit auch zu den meistaufgeführten Ballettdichtern zählt. Ihr Tanzpoém „Die Perle von Illyrien“ hat zahllose Aufführungen erlebt, und ein neues, soeben vollendetes Ballett dürfte im Lauf der nächsten Theatersaison das Licht der Rampen erblicken. In diesem Ballett werden blendende, zauberhafte Lichtwirkungen, die Täuschungen und Illusionen originellster Art erwecken, eine dominierende Rolle spielen.

Rosita Mauri
Rosita Mauri
Loie Fuller
Loie Fuller
Cleo de Mérode
Cleo de Mérode

Aus Paris, der Stadt, der die Erfinderin magischer Tänze, Loie Fuller, das Rüstzeug für ihre künstlerischen Märchentanze verdankte, wird sich auch Irene Sironi ihre „Illusionen“ holen. Was Loie Fuller auf diesem Gebiet geleistet, kann als bahnbrechend im Bereich der choreographischen Kunst bezeichnet werden. In ihre langen Gewänder gehüllt, scheint sie mit dem Feuer, das sie umschlängelt, zu spielen. Sie schmückt sich mit Flammen, sie erscheint in Licht getaucht, von Licht umflossen, die langen Schleier strahlen in zauberischen Tönen, die immer wechselnd, immer neue, ungeahnte Farben entwickeln. Sie tauchen auf, schwinden, vereinigen sich zu einer berückend schönen Symphonie des Lichts; es sind alle Farben der Edelsteine, vom matten Opal bis zum feurigsten Rubin; es ist die Bläue des Himmels und das zuckende Feuer der Blitze, das man zu sehen vermeint; ein phantastischer, unbeschreiblich schöner Märchentraum, den erweckt zu haben Loie Fullers Verdienst bleiben wird. Ist der dabei entwickelte Tanz eine Reihe sehr sorgfältig durchdachter, sinnvoller Bewegungen, die sich den Lichteffekten anschließen, so ist das, was die australische Tänzerin Saharet bietet, im eigentlichen Sinn kaum mehr Tanz zu nennen. Es ist ein Hexentanz von elektrisierender Wirkung, eine Vereinigung von Tarantella, Cancan und Chahut, die Kunst, mit dem rechten Bein allerlei Unfug zu treiben, während man mit dem linken dem staunenden Publikum einen Abschiedsgruß zuwinkt. Ein Tanz, der die Freundin Gleims, die Prinzessin Pauline von Anhalt Bernburg, gar sehr in Verwunderung gesetzt haben würde. Denn sie war der Ansicht: „Das wilde Tanzen, wenn die Haare aufgehn, mag ich nicht leiden. Das Frauenzimmer soll bis in die Leidenschaft graziös bleiben, dann wird es von den Kavalieren immer hochgeschätzet werden.“

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 15/1904.