Hinter dem Vorhang der Grossen Oper zu Paris

Massenet (am Klavier) und Direktor Gailhard üben Mademoiselle Chavita in ihre Rolle ein

Der Akt ist zu Ende. Die letzten Takte im Orchester verhallen. Einige Applaussalven. Der Vorhang hebt sich noch einmal, die eben noch von Choristen, Statisten, Figuranten angefüllte Bühne ist leer, nur die Hauptdarsteller verneigen sich dankend. Die schwere große Gardine senkt sich wieder herab, und der Zwischenakt beginnt.

Der helle, dichtbesetzte Raum leert sich, die in Balltoiletten und Diamanten strahlenden Damen verlassen ihre Plätze an der roten Logenbrüstung und ziehen sich in die anstoßenden kleinen Salons zurück, um hier ihre im Haus anwesenden Bekannten zu empfangen. Die Herren unten im Parkett bedecken ihre Häupter mit den tadellosen Zylindern und eilen, die eleganten Stöckchen in der Hand, auf die Bühne. Wenigstens ein großer Teil von ihnen. Alle jene, die durch ein dreitägiges Wochenabonnement als „Habitués“ den Vorzug genießen, hinter den Vorhang der Großen Oper zu gehen; besonders in das berühmte Foyer de la danse.

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Hier herrscht nun ein lebhaftes, buntes Durcheinander. Da unterhält sich Herr Gailhard, der Direktor, mit einer hoben fürstlichen Persönlichkeit, die dem Völklchen hinter dem Vorhang „auf der Durchreise“ einen Besuch abstattet; denn das gehört mit zu den vornehmen und angenehmen Verpflichtungen der „eleganten“ Welt. Herr Gailhard stellt ihm seinen Codirektor und Freund, den früheren berühmten Sänger Capoul, vor. Dort plaudert der Minister der schönen Künste mit dem witzigen, stets wie Quecksilber beweglichen Sekretär Herrn Georges Boyer. Eine Abteilung Maschinisten ist damit beschäftigt, den Hintergrund (la toile du fond) in den oberen Schnürboden zu befördern oder in die 15 Meter tiefe Versenkung zu expedieren; dazwischen kommen und gehen Beamte und „Freunde des Hauses“, die einflußreichen Beschützer bekannter Künstlerinnen und sonstige Persönlichkeiten, deren Stellung ihnen die Gunst verschafft, in die Welt hinter dem Vorhang zu dringen, die allen übrigen Persönlichkeiten verschlossen ist.

In der Primadonnenloge
In der Primadonnenloge
Massenet (am Klavier) und Direktor Gailhard üben Mademoiselle Chavita in ihre Rolle ein
Massenet (am Klavier) und Direktor Gailhard üben Mademoiselle Chavita in ihre Rolle ein

Keine zweite Bühne des Kontinents verfügt wohl über so große Mittel, den Ansprüchen des verwöhnten Publikums gerecht zu werden, wie die Große Pariser Oper. Die 800 000 Franken, mit denen der Staat sie jährlich subventioniert, und die festen Einnahmen, die ihr durch die hohen Abonnements gesichert sind, bilden zusammen eine Summe, die der Académie Nationale de musique (so nennt man offiziell die Große Oper) manchen Luxus gestattet. Sie kann sich erlauben, alle durch Erfindungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Kunst und der Industrie geschaffenen Verbesserungen und Neuerungen zu verwerten.

Garnier, der Architekt der Pariser Großen Oper, hat außerdem in genialster Weise den Maschinisten ihr Werk durch großartige Raumverhältnisse und bequeme Einrichtungen erleichtert. Es würde mich hier zu weit führen, wollte ich Ihnen alle technischen Einzelheiten der mehrere Etagen in die Tiefe gehenden Versenkungen und die Geheimnisse der mehrere Etagen über der Bühne befindlichen Schnürböden verraten. Für jemand, der sich zum erstenmal hinter dem Vorhang befindet, hat das eigentümliche Gewebe von Stricken, Balken, Brettern, Stäben, haben die Blöcke, Bolzen, Rollen, Räder, Gewichte und Gegengewichte etwas Befremdliches, das mehr an einen Schiffsraum als an eine Kunststätte erinnert. Aber statt das großartige Räderwerk dieses Zusammenwirkens so vieler Elemente zu erklären, die sich hier vereinen, um ein Kunstwerk ins Leben zu rufen, scheint es mir amüsanter, die Leser einen Blick in das berühmte, sich hinter der Bühne befindliche Foyer de la danse werfen zu lassen.

Garnier hat diesen Raum, in dem die Tänzerinnen, bevor sie auftreten, einige Freiübungen, Beinbewegungen usw. machen können, so eingerichtet, daß er in gewissen Fällen zur Vertiefung der Bühne benutzt werden kann.

Auf der Probe - Direktor Gailhard zeigt einem Sänger, wie man stirbt
Auf der Probe – Direktor Gailhard zeigt einem Sänger, wie man stirbt
Tante Chlotilde - die Obergarderobiere
Tante Chlotilde – die Obergarderobiere

Die Ansichten der Fachleute, ob man durch eine tiefe oder durch eine flache Bühne bessere szenische Effekte erlangen kann, gehen auseinander. Der Erbauer der Oper war der Meinung, daß es hauptsächlich auf die Breite und Höhe ankommt, um günstige Resultate zu erzielen.

Die Bühne der Großen Oper in Paris hat von den Brettern bis zum ersten Schnürboden eine Höhe von 47 Metern und eine Breite von 82 Metern. Durch die Hinzunahme des Foyer de la danse kann man eine Vertiefung von etwa 50 Metern erhalten. Der Boden des Foyer de la danse hat eine ähnliche Senkung wie der der Bühne (4 cm auf den Meter). Das ist notwendig für die ihre „Pas“ übenden Balletteusen, die hier an mit rotem Plüsch überzogenen Stangen einige „Beinkoloraturen“ machen, bevor sie süß lächelnd vor die Rampe hüpfen.

Vor dem Auftreten zur Schlussszene
Vor dem Auftreten zur Schlussszene

Die Ausstattung des Foyer de la danse ist ganz außerordentlich prächtig. Der Hintergrund wird durch einen 7 Meter breiten und 10 Meter hohen Spiegel gebildet, der den Glanz der hundert Lichter eines vergoldeten Kronleuchters zurückstrahlt. Auf jeder Seite des Saals- sind sechs Säulen angebracht, die große Schmetterlinge mit ausgebreiteten Flügeln auf ihren Kapitälen tragen. Die Deckenmalerei von Boulanger, Porträts der berühmtesten Tänzerinnen, vier große Wandgemälde, symbolische Darstellungen der verschiedenen Tänze, des kriegerischen, des ländlichen, des zärtlichen und des bacchantischen, vollenden den Schmuck des Foyers.

In ihm geht es, sobald der Vorhang gefallen ist, lustig und animiert zu. Die Damen des Corps de ballet kommen aus ihren Garderoben, um hier mit den ihnen bekannten Klubherren und „Habitués“ zu schwatzen, die es für eine Lebensaufgabe halten, an jedem Opernabend den kleinen „Ratten“ vom Ballett oder den Koryphäen einen Besuch abzustatten. Trotzdem vernachlässigen sie nicht ihre Kunst. Die Koryphäen lassen sich häufig von ihren Kammermädchen begleiten, die in einem Körbchen verschiedene wichtige Dinge bergen: neue Tanzschuhe zum Wechseln, Gummi zum Ankleben der Schuhe an die Hacken, ein Fläschchen mit Wasser, um vorm Hinaushüpfen die Zunge zu befeuchten, und ein Stückchen Harz für die Sohlen. Bei den Uebungen im Zwischenakt tragen die Tänzerinnen leichte leinene Gamaschen über den seidenen Trikots, um durch die „Battierungen“ und Reibungen sich die „Fleischfarbenen“ nicht zu beschmutzen.

Ballettratten
Ballettratten
Mr. Bianchini, Chef der Kostümabteilung entwirft ein Bacchantinnenkostüm
Mr. Bianchini, Chef der Kostümabteilung entwirft ein Bacchantinnenkostüm

Für die Sänger existiert ebenfalls ein Foyer, aber diese ziehen es meist vor, den Temperaturwechsel zu vermeiden, sie bleiben in ihren Garderoben und gehen erst auf die Bühne, wenn der „avertiseur“ (Melderegisseur) sie ruft.

Um wenigstens einen oberflächlichen Begriff von der Größe und der Organisation dieser wunderbaren, für den „Schein“ arbeitenden Welt in der Pariser Oper zu geben, mögen einige aus den offiziellen administrativen Registern entnommene, in aller Kürze zusammengestellte Chiffern genügen.

Die Administration hat einen Direktor, einen Generalsekretär, einen Chef der Komptabilität, einen Hauptkassierer, fünf oder sechs Unterkassierer, einen Inspektor, einige Unterinspektoren, mehrere Kopisten usw.

Die Bühne: einen Direktor, einen Generalregisseur, einen zweiten Regisseur, zwei Repetitoren, fünf Choranführer, einen Souffleur, vier Unterregisseure, drei Wächter, zwei Friseure mit verschiedenen Gehilfen, einen Requisitenchef, dreiundzwanzig Beamte für die Requisiten, einen Bühnenkapellmeister, sechzig Musiker, zehn Heizer.

Das Orchester: drei Kapellmeister, hundert Kammermusiker, einen Orchesterdiener.

Maschinisten:; einen Chef, einen Unterchef, vier Brigadiers, achtzig Maschinisten, darunter alle Handwerker, besonders viel Tischler, über hundert Hilfsarbeiter.

Kostüme: einen Zeichner mit Hilfsarbeiter, einen Garderobenchef, Gehilfen, einen Inspektor, einen Kostümchef, zwei Schuster, einen Hauptschneider, mehrere Zuschneider, dreißig Arbeiter.

Für die Damen:; eine Obergarderobiere, zwei Untergarderobieren, zweiundvierzig Arbeiterinnen, sechsundsiebenzig Ankleiderinnen und fünfzig Aushilfen.

Ich verschone Sie mit der Aufzählung der Beleuchtungsbeamten, Hausbeamten, Kontrolleure usw. Und das alles sind nur die Beamten; ich erlasse es Ihnen und mir, Ihnen noch die Mitglieder, Sänger und Tänzer aufzuzählen, die männlichen und weiblichen Chöre, die Figuranten und Statisten.

Außer den Bureaus, den Ateliers, den Musiksalons, der Bibliothek, dem Museum, den Administrativ- und Empfangsräumen, den Magazinen usw. befinden sich oberhalb zu beiden Seiten der Bühne zwei Etagen mit achtzig Garderoben zu je sechzig Toiletten für den Männerchor, fünfzig für den Frauenchor, zu je zwölf Toiletten für die Gesangseleven und Kinderchöre, zu vierunddreißig Toiletten für die Koryphäen, zu je zwanzig für die verschiedenen Quadrillen, zu hundertneunzig für die Statisten.

Die Orchestermitglieder haben ein eigenes Foyer mit hundert Schränken für ihre kostbaren Instrumente.

Für den, dessen Fuß dieses Reich noch nie betrat, mag es schwer sein, sich einen Begriff davon zu machen, wieviel Arbeit dazu gehört, um ein Kunstwerk für das Publikum vorzubereiten, welche Schätze in der Requisitenkammer bereit liegen müssen, welche Unzahl von Schneiderateliers im Haus selbst unausgesetzt tätig sind, und wie die Künstler selbst – durch Gesang und Spielproben – in Anspruch genommen werden, bis der große Abend der Premiere naht. Von den Geldopfern gar nicht zu sprechen. Ein kleines Detail genüge hierfür, aus dem man auf alles übrige schließen kann. Das Schwarzfärben der Negerchöre in der Afrikanerin kostet die Oper bei jeder Aufführung 130 Franken, bei hundert Aufführungen 13 000 Franken allein für schwarze Schminke!!

In der Rüstkammer
In der Rüstkammer
Zur ersten Quadrille avanciert
Zur ersten Quadrille avanciert

Viel Geld, viel Menschen, viel Mühe und Arbeit, viel Nachdenken, viel Aerger und Sorge, viel Herzklopfen und Hoffen, viele Enttäuschungen bedeutet das Leben da hinter dem Vorhang, bevor er sich über ein neues Werk hebt. Ein Werk, das vielleicht von dem „vielköpfigen Ungeheuer“, dem Publikum, erbarmungslos abgelehnt wird. Ein Blick hinter den Vorhang würde vielleicht die Richter milder stimmen. – Hier wie auch anderswo im Leben. –

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 43/1903, er war gekennzeichnet mit „Anne Jule Cafe (Paris)“.