Sarah Bernhardt in Berlin

Rein künstlerisch gesehn, ist niemand mehr an die Heimat gebunden, als der Schauspieler. Mienenspiel, Klangfarbe und Ausdruck der Sprache, heimische Ueberlieferung im komischen und tragischen Stil, sie alle sind so viel Hemmnisse für den Schauspieler, der mit dem Einsatz seiner Person nur wirken kann und vor einem fremden Publikum auftreten will. Kein Fremdgastspiel also wird ohne Rest befriedigen.

Man muß dessen eingedenk bleiben, wenn man der Bühnenkünstlerin Sarah Bernhardt – und nur um die handelt es sich – gerecht werden will. Was sie an Deutschenhaß bis in die jüngste Zeit vorgebracht haben mag, gewiß vielfach nur im Haschen nach Volkstümlich’keit, das mögen wir jetzt, da sie als Gast zu uns kommt, im Gefühl der Eigenkraft gern überhört haben. Was exzentrisch in ihrem Privatleben war, das ist ihre Sache. Was sie in Frankreich Jahrzehnte hindurch galt und noch gilt, das nur kann uns bekümmern.

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Sarah Bernardt als Theodora
Sarah Bernardt als Phädra

Sie kommt zu uns als tragische Meisterin, wie Herr Coquelin als Meister der Comedie im französischen Wortsinn kam. Der franzsöische Begriff Comedie reicht weiter, als unser Lustspielbegriff. Die französische Schauspielkunst – das darf man nicht vergessen – hat eine lange, in Paris zentralisierte und wesentlich kaum unterbrochene Ueberlieferung. Das ist eine ganz andere Entwicklung, wie bei uns, wie in Italien, das noch kein „ständiges Theater“ kennt, und wie in England. Die Ueberlieferung ist eine sichere Stütze, aber in gewissem Sinn auch ein starres Gebot selbst für den stärksten Könner, für die originellste Persönlichkeit. Wie weit innerhalb der überkommenen Gesetze sich das Persönliche bei Sarah Bernhardt Geltung verschafft und hinreißen kann, das sollen wir erfahren. Die Pariser werden von der persönlichen Kraft der Sarah Bernhardt trotz aller überreifen Virtuosität noch jetzt getroffen. Sie ist Meisterin des theatralischen „Elans“, durch ihn bezwang sie noch vor zwei Jahren in der Rolle des jungen zweiten Napoleon (L’Aiglon). Durch ihn siegt sie noch in einem Rollengebiet, das allerdings der Comedie nähersteht, im Drama Sardous. Da ist auch dem schauspielerischen Raffinement der weiteste Raum geboten. Daß der Schauspieler, namentlich der fahrende Gast sich selbst gern über die Dichtung stellt, ist oft beklagt worden. Aber der Schauspieler zeigt sich eben nur um seinetwillen, nur das Aeußerste seines eigenen Könnens will er geben; und so bleiben alle Klagen ohne Ergebnis. Die Duse hat Shakespeares Antonius und Kleopatra zu Glanzscenen zerstückelt, die Sarah Bernhardt führt ihren Hamlet mit. Mit ihrem rein französischen Kunstvortrag will sie einer schwergermanischen Gestalt beikommen.

In Rostands Aiglon
Als Kameliendame

Sarah Bernhardt rühmt sich übrigens selbst, gerade mit der unkünstlerischen Wunderlichkeit, den Hamlet darzustellen, bei dem englischen Publikum tiefen Eindruck gemacht zu haben. Vielleicht ist das eine Selbsttäuschung. Für uns wird es jedenfalls wertvoller sein, darauf zu achten, was sie ihrem nationalen Geist gemäß aus einer Tragödie von Racine (Phädra) zu schöpfen vermag.

Dieser Artikel erschien zuerst am 18.10.1902 in Die Woche.

Sarah Bernhardt

Sarah Bernhardt hat ihren ersten Erfolg in Berlin nicht auf der Bühne errungen, sondern auf dem Parkett des Salons. Der Berliner Presseklub, der zu seinen Mitgliedern nicht nur Leute der Feder, sondern auch sehr viele Angehörige anderer Berufsstände zählt, veranstaltete zu Ehren der gefeierten Künstlerin am Abend ihrer Ankunft ein Festmahl. Der Andrang dazu war so groß, daß kaum der dritte Teil derer, die dabei sein wollten, Zutritt erhalten konnte. Hier und dort wunderte man sich wohl, warum die französische Tragödin, bevor sie noch Proben ihrer Kunst geliefert, in der deutschen Reichshauptstadt so geehrt würde.

Die Antwort gab bei jenem Festmahl Ludwig Fulda, indem er daran erinnerte, daß Sarah Bernhardt zuerst den Bühnenwerken Hermann Sudermanns die Pforten des französischen Theaters geöffnet habe.

Sarah Bernardt in Berlin – Der Festabend des Presseclubs am 26. Oktober

Dieser Artikel erschien zuerst am 01.11.1902 in Die Woche.

Gastspiel der Sarah Bernhardt

Das Gastspiel der Sarah Bernhardt hat in Berlin wie in Hamburg fast das gesamte Cheaterinteresse der jüngsten Zeit beherrscht. In Berlin schwankte das Urteil über die Pariser Künstlerin, den einen Fehlschlag, die Darstellung Hamlets, ausgenommen. Hier hat sich die Schauspielerin auf ein Gebiet verirrt, das ihrem künstlerischen Geist fremd ist und fremd bleiben wird. Das Reinste, was sie zu geben hatte, gab sie wohl als Phädra in Racines Trauerspiel und als Kameliendame aus. Man verspürte hier die Macht einer gefestigten Tradition, und doch auch mancherlei von ganz persönlichem Zauber, einen ganz feinen Sinn für die Schönheit der Form und die lyrische Beredtsamkeit der Sprache. Freilich ist von dem persönlichen Zauber der Schimmer der Jugendlichkeit weggewischt, und auch die reife Vollkraft scheint im Welken, und so bleibt als Gesamteindruck doch das Bedauern zurück, daß Sarah Bernhardt als Hauptvertreterin französischer Bühnenauffassung so spät erst auf dem deutschen Theater auftrat.

Dieser Artikel erschien zuerst am 08.11.1902 in Die Woche.