„Durch der Surenen furchtbares Gebirg,
Auf weitverbreitet öden Eisesfeldern,
Wo nur der heis’re Lämmergeier krächzt,
Gelangt ich zu der Alpentrift, wo sich
Von Uri und von Engelberg die Hirten
Anrufend grüßen und gemeinsam weiden.“
Mit diesen Worten beginnt der junge Melchthal im „Wilhelm Tell“ die Beschreibung seiner gefahrvollen Wanderung in das Hochgebirge, die er unternommen, um die Sennen und Aelpler von Uri und Unterwalden zum Kampfe gegen die Unterdrücker aufzurufen. Wie dem wackeren Melchthal, so flößten auch seinen Nachkommen noch jahrhundertelang die „weitverbreitet öden Eisesfelder“ des Hochgebirges nur Schrecken ein, denn das Gefühl für die Erhabenheit und Schönheit des Hochgebirges war ihnen noch nicht aufgegangen. Dasselbe ist in der That erst eine Errungenschaft der neueren Zeit, eine Folge der Wandlungen, welche die ästhetischen Anschauungen besonders in Bezug auf das Naturschöne erfahren haben, und Melchthal würde gewiß verwundert den Kopf schütteln ob des ihm unverständlichen Gebahrens der heutigen Alpentouristen, die den Weg „durch der Surenen furchtbares Gebirg“ allsommerlich aus bloßem Vergnügen schaarenweise machen. Diesen Weg, der uns von Erstfeld im Kanton Uri über den Surenenpaß nach Engelberg im Kanton Unterwalden führt und eine Reihe der herrlichsten Gebirgsansichten bietet, wollen wir an der Hand unseres Bildes mit unseren Lesern machen. Es ist heutzutage bei gutem Wetter keine Gefahr mehr dabei, doch immerhin eine gewisse Kniefestigkeit und Ausdauer erforderlich.
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Von dem Dorfe Erstfeld am linken Ufer der Reuß aus treten wir unsere Wanderung an. Zuerst geht es längs der Reuß an der Gotthardbahn aufwärts, dann durch Wald und über prächtige Alpenweiden, endlich kühn eine steile Felswand hinan. Die Schönheit und Erhabenheit der Umgebung steigert sich, je höher wir kommen. Einen großartigen Anblick gewährt das schaurige Bockitobel oder der Bockischlund (Skizze 3), in den sich der Waldnachtbach hinunterstürzt. Bald darnach erreichen wir die schöne Waldnachtalp (Skizze 2) 1449 Meter über dem Meere, wo die erste Rast gemacht wird.
Links ragt der felsige Geisberg, rechts der Waldnachtkulm empor, im Ausblick hat man den Belmistock, den Hohen Faulen und das Sittliser Horn.
Nun geht es auf steilem Stapfenwege über nasses, brüchiges Gestein an der Eifruth steil hinauf und über den sogenannten „langen Schnee“, ein je nach der Natur des vorhergehenden Winters in 1 bis 1 ½ Stunden zu überwindendes Schneefeld, zur Paßhöhe der Sureneneck (Skizze 4, 2305 Meter über dem Meere. Dort ist es, wo sich anstatt der einstigen Hirten heutzutage die theils von Uri, theils von Engelberg kommenden Touristen „anrufend grüßen“ und gemeinsam Mittagsrast machen, im Angesicht der erhabenen, sich dort entfaltenden Rundsicht. Der Surenenpaß scheidet den Blackenstock und Uri-Rothstock von dem Schloßberge, und diese drei Gipfel sind in nächster Nähe sichtbar, während weiterhin der Grassen (2945 Meter), der Vitlis (3239 Meter), von dem eine lange Reihe von Gipfeln und Gletschern sich ununterbrochen bis zu den Surenen hinzieht, besonders gewaltig aufragt. Auf der anderen Seite öffnet sich die Aussicht auf die Gipfel der Bergreihen, welche das jenseits der Reuß mündende Schächenthal einschließen. Die Windgelle (3189 Meter) tritt besonders schön hervor, und in weiter Ferne begrenzt den Horizont der Schneegipfel des Glärnisch. Nun geht es wieder steil abwärts, hinab in’s Surenenthal. Die ersten Wohnstätten, die wir nach kurzer Wanderung erreichen, sind die malerisch gelegenen Hütten der Blackenalp (Skizze 7). Längs des brausenden, in der Tiefe über Felsgeröll stürzenden Stierenbaches gelangen wir zur Grenze zwischen Uri und Unterwalden und zur Alp (Skizze 5), von wo aus ein schöner Blick auf das Massiv des Titlis sich erschließt, während im Rücken mächtig die Felspyramide des Schloßberges (Skizze 6) und die Spannörter emporragen. Hoch oben unterhalb des großen Spannorts erblickt man die Hütte des schweizerischen Alpenklubs (Skizze 1). Das Thal beginnt nun wieder wirthlicher zu werden, die ersten Gebirgstannen erscheinen.
An Stelle des schauerlich-erhabenen Anblickes, den oben die Fels- und Eiswüste gewährt, tritt der romantische Charakter des Gebirges wieder mehr hervor. Schon erfreut sich das Auge wieder am freundlichen Grün der Matten, an der bunten Pracht der Alpenblumen, dem Düster des Tannenwaldes, während wir noch zwischen gewaltigen Gesteinstrümmern dahinschreiten und zu unserer Linken die furchtbare Absturzwand des Titlis emporragt.
Dann beginnt der Weg fast eben zu werden, wir passiren die der Abtei Engelberg gehörige Käserei Herrenrüti, den hübschen Wasserfall des Tätschbaches und gelangen endlich nach 9- bis 10stündiger scharfer Wanderung in Engelberg an, zwar recht müde, aber reichlich belohnt für die gehabten Anstrengungen durch den Anblick der herrlichen, erhaben schönen Gebirgsnatur, den wir unterwegs in reichem Maße genossen haben.
Dieser Artikel erschien zuerst in Heft 8/1890 des Das Buch für Alle.