An des Jahrhunderts Wende

Eine Rückschau von Max Haushofer. Ununterbrochen fließen die Geschicke der Menschheit. Sie kennen keinen Jahresabschnitt und keinen Jahrhundertschluß, sondern jedes Zeitraums Ereignisse sind verkettet und verwebt mit den Ereignissen verflossener und künftiger Zeiträume. Was in einem Jahrhundert geschieht, dessen Wurzeln sind in näherer oder fernerer Vergangenheit zu suchen; und seine Folgen werden in einer noch tief umschleierten Zukunft zu verspüren sein.

Aber der geschichtliche und ordnende Sinn des Menschen sucht nach Ruhepunkten im Wandel der Dinge, um diese überschauen und beurteilen zu können, Und bei Beginn eines Jahres, auf das bereits die Morgenröte eines neuen Jahrhunderts fällt und in welchem ein ganzes, großes Jahrhundert sein Ende findet, müssen wir wohl eine Rückschau halten über alles, was das letztere uns gegeben und genommen hat; über das, was in Staub und Vergessenheit versinkt; über das, was als dauernde Erinnerung uns bleibt; und über das, was als Keim für künftiges Geschehen uns erscheint.

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Ein blutroter Stern war den Völkern Europas am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufgegangen: der Stern des gewaltigen Napoleon. Damals schon erster Konsul Frankreichs und mit den Machtbefugnissen eines fast unumschränkten Herrschers ausgestattet, erwies der korsische Abenteurer auf dem Schlachtfelde von Marengo sein Feldherrntalent, das durch fünfzehn Jahre ganz Europa erschüttern sollte. Vier Jahre später schon konnte er sich das kaiserliche Diadem von Frankreich aufs Haupt setzen. Und dann begann er, die Heere niederzuwerfen, die ihm die Häupter der Staaten Europas entgegenstellten; er zerschmetterte die Bataillone der Russen und Oesterreicher bei Austerlitz, der Preußen bei Jena. Das tausendjährige Deutsche Reich löste sich in seine Bestandteile auf; die Königskronen Italiens, der Niederlande, Spaniens und Westfalens wurden von dem Sieger verschenkt; der Rhein ward ein französischer Strom; und acht Jahre nach dem Anfang des Jahrhunderts konnte der Imperator beim Fürstentage zu Erfurt mit befriedigtem Stolze sehen, wie fast alle Kronenträger Europas in seiner Huld sich sonnten.

Wohl erhob sich schon im nächsten Jahre Oesterreich noch einmal gegen ihn; aber umsonst floß das Blut der Helden von Aspern und Wagram und des treuen Bergvolks von Tirol; wieder mußte sich das Haus Habsburg beugen; und die Kaisertochter reichte dem Emporkömmling die Hand am Altare.

Nun galt es noch, Rußland in den Staub zu werfen; und eines der mächtigsten Heere der Weltgeschichte war’s, das im Jahre 1812 durch die große Tiefebene nach der Moskwa sich wälzte. Hier aber brach die Macht des Eroberers zusammen; nur jammervolle Trümmer seiner glänzenden Armee erreichten sieglos und frosterstarrt die Heimat wieder. Und im Rücken des flüchtigen Kaisers erhoben sich Preußen und Oesterreich; durch ganz Deutschland brauste der Befreiungsjubel, und Frankreichs noch einmal zusammengeraffte Kraft erlag in der Völkerschlacht bei Leipzig. Die Heere der Verbündeten drangen nach Frankreich, dessen besiegter Kaiser nach Elba in die Verbannung ging, um ein Jahr später den Versuch einer nochmaligen Erhebung in der blutigen Niederlage bei Waterloo und dann auf dem einsamen Felseneiland von St. Helena zu büßen – ein lebendig Toter.

Die Kaisertragödie war zu Ende. Auf Frankreichs Thron kehrten die Bourbonen zurück; in Deutschland erstand aus den Trümmern des Reiches der machtlose Bund; ganz Europa war schlachtenmüde; den Völkern war aus ihren ungeheuren Opfern nur wenig an Segen und Freiheit erwachsen. Ein langer, fauler Friede begann, bis fern auf der Balkanhalbinsel wieder neues Schlachten anhob, als das osmanische Reich von Rußlands Feldherren gedemütigt ward und das kleine Griechenvolk, unter dem jauchzenden Zuruf von ganz Europa, sich seine Freiheit aus dem Türkenjoch erkämpfte. Der polnische Aufstand aber ward erstickt unter der Uebermacht der Regimenter des Zaren. Und nachdem in Frankreich die Bourbonen wieder vertrieben und dem Hause Orleans gewichen waren, nachdem in Spanien die langwierigen Bürgerkriege ein Ende gefunden hatten, sank Europa abermals in träge Ruhe.

Erst im Jahre 1848 fegte wieder ein stürmischer Geist durch die europäischen Staaten hin. Die Völker waren gereift; sie forderten ein größeres Maß von Freiheit und Fortschritt, als ihnen bisher zu teil geworden. In blutigen Straßenkämpfen äußerte sich revolutionärer Drang zu Paris, Berlin und Wien; der Trieb nach nationaler Selbständigkeit und Kräftigung veranlaßte ein Jahr später den ungarischen Aufstand und die Kämpfe auf den italienischen Schlachtfeldern, wo Feldmarschall Radetzky seine Siege erfocht.

Mit dem Jahre 1852 begann das zweite französische Kaiserreich; wieder trat, für anderthalb Jahrzehnte, Frankreich an die Spitze der Weltpolitik. Im Krimkriege ward Rußland, auf den Kampfgefilden von Magenta und Solferino ward Oesterreich besiegt. Aber unterdes hatte Deutschland sein Schwert geschärft; der dänische Krieg von 1864 und der deutsche Krieg von 1866 verschafften Preußen seine Vormachtsstellung. An das Steuer der Geschichte war der eiserne Kanzler getreten, Otto v. Bismarck, um ein Vierteljahrhundert hindurch dieses Steuer zu leiten.

Eifersüchtig sah man zu Paris das Wachsen deutschen Einheitsgeistes und deutscher Waffenkraft. Aber der vom napoleonischen Hofe, von eitlen Heerführern und dem bethörten französischen Volke in frevelhafter Weise heraufbeschworene Krieg ward zu einer beispiellosen Kette von Siegen der deutschen Wehrkraft. Kaiser Wilhelms Paladine und ihre treuen todesmutigen Heere erstritten das neue Deutsche Reich, das, groß und wehrhaft, ein Hort des europäischen Friedens für den Rest des Jahrhunderts wurde.

Im gleichen Jahre ward, mit der Einverleibung Roms, die Einigung Italiens vollendet.

Noch ein paarmal sollte, an der Neige des Jahrhunderts, auf europaischem Boden Waffenlärm erklingen. Aber das Herz des Weltteils blieb von ihm verschont; sein Tosen vernahm nur mehr das Völkergewirr der Balkanhalbinsel, während für die großen Kulturstaaten der Dreibund den Frieden erhalten konnte.

Nur wenn auch der Friedenskongreß im Haag keine greifbaren Ergebnisse brachte, so wars doch ein menschlich schöner Klang, mit welchem er die Politik des Jahrhunderts beschloß

Auf dem alten Boden Asiens erwuchs neues Leben während dieses Jahrhunderts nur dort, wo es von der überlegenen Intelligenz und Energie der Europäer hingetragen ward. Britische Staatskunst und Waffengewalt machten, nachdem der blutige indische Aufstand des Jahres 1857 erdrückt war, ganz Vorderindien und wertvolle Teile Hinterindiens zu britischem Kolonialbesitz und zwangen das chinesische Reich, nach und nach seine Häfen zu erschließen; Frankreich faßte festen Fuß in Ostasien. Und mit eiserner Zähigkeit bemächtigte Rußland sich, von einem Jahrzehnt zum andern weitergreifend, der ganzen nördlichen Hälfte des Weltteils, bis die Macht des Zaren zum Stillen Ocean ausgedehnt, die kriegerischen Bergvölker des Kaukasus unterworfen, die Steppenlandschaften am Syr-Darja und Amu-Darja unter russische Botmäßigkeit gebracht und die Eisgipfel des Thian-Schan und des Hindukuh zu Grenzpfeilern des russischen Reiches gemacht waren. Von allen asiatischen Völkern zeigten nur die Japaner, deren Inselreich seit 1845 erschlossen ward, eine, aber auch glänzende Begabung für den Fortschritt auf allen Gebieten des Volks- und Staatslebens.

Der „schwarze Weltteil“ ward im Laufe des Jahrhunderts von den europäischen Kulturmächten fast völlig aufgeteilt. Schon 1806 bemächtigte sich England der niederländischen Ansiedlungen am Kap und drängte Teile der angesiedelten Bevölkerung nordwärts ins Innere. Frankreich eroberte 1830 Algerien und strebt heute nach einem zusammenhängenden Kolonialbesitz vom Mittelmeer bis zur Senegalmündung und dem innersten Sudan. Glänzender noch war die politische Machtentfaltung Englands in Aegypten, während im Inneren Afrikas der ungeheure Kongostaat entstand und deutsche Unternehmung in Südostafrika und Westafrika kolonisierend auftrat. Der Vormachtstellung Englands in Südafrika aber widerstanden noch, tapfer die mühsam errungene Freiheit behauptend, in den letzten Kämpfen des Jahrhunderts die beiden Freistaaten der Buren.

Dem Beispiel der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die am Schlusse des 18. Jahrhunderts durch ihren Freiheitskampf aus einer britischen Kolonie ein selbständiges Staatswesen geworden waren, folgten am Anfange des 19. Jahrhunderts die mittel- und südamerikanischen Kolonien Spaniens, indem sie seit 1810 die verrottete und unfähige Herrschaft des Mutterlandes nach und nach abzuschütteln vermochten. Während aber die nordamerikanische Union mit unvergleichlicher Energie ihr Landgebiet erweiterte, riesige wirtschaftliche Kräfte zu entfalten verstand und selbst aus dem Bürgerkriege von 1861 bis 64 nur gestärkt und verjüngt hervorging, verzettelten, mit wenig Ausnahmen, die jungen süd- und mittelamerikanischen Staatswesen ihre allerdings größtenteils aus Mischlingen bestehende Volkskraft in unfruchtbaren Parteikämpfen und Revolutionen. Die Krone Spaniens aber mußte schließlich ihre letzten Kolonien, das reiche Cuba und die Inselgruppe der Philippinen, nach kurzem Seekrieg an die Vereinigten Staaten verlieren.

Den clivilisierten wie den meisten halbcivilisierten Staaten der Welt brachte das Jahrhundert einen großen, nicht mehr rückgängig zu machenden Fortschritt: ein entwicklungsfähiges Verfassungsleben, das auch dem Volkswillen die Gelegenheit giebt, sich zu äußern, Religions- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Presse und der Vereine, Beseitigung alter Klassenprivilegien, Gleichheit vor dem Gesetze, verbesserte und beschleunigte Rechtspflege. Höchst ungleich allerdings erwiesen sich die verschiedenen Völkerschaften, Dynastien und Staatseinrichtungen in ihrer Zugänglichkeit für den Kulturfortschritt. Während demselben einzelne Länder in leidenschaftlicher Hartnäckigkeit sich verschlossen, erwiesen sich anderwärts bald die alten seßhaften, bald die neu zugewanderten Bevölkerungsteile als eigentliche Träger und Stützen der Staatswesen und als kulturfähiges Volkstum. Und von allem, was die europäische Civilisation während des Jahrhunderts schuf, wurden in den anderen Weltteilen und Ländern bald die Einrichtungen des parlamentarischen Lebens und des Regierungsapparates, bald die militärischen Neuerungen, bald technische und wirtschaftliche Verbesserungen, bald Fortschritte hinsichtlich des Verkehrswesens oder hinsichtlich andrer Gegenstände der Gesamtkultur mit größerer Begeisterung und Befähigung aufgenommen.

So merkwürdig auch die politische Umgestaltung während des Jahrhunderts war; nicht weniger erstaunlich erscheinen die volkswirtschaftlichen Umwälzungen.

Eine starke Zunahme der Bevölkerung Millionen neuer Arbeitskräfte, aber auch die Notwendigkeit die Ernährung dieser Millionen Sorge zu tragen. Und da der nutzbare Boden Europas und seine Ergiebigkeit nicht nach Belieben vergrößert werden konnte, sahen sich die europäischen Völker mehr und mehr veranlaßt, aus Äckerbauvölkern Industrie und Handelsvölker zu werden, die ihre Rohstoffe und Nahrungsmittel aus solchen Ländern beziehen, wo eine geringere Bevölkerung und eine freigebigere Natur noch eine starke Ausfuhr solcher Güter gestatten. Diese Umgestaltung, an welcher das englische Volk schon seit Jahrhunderten gearbeitet hatte, vollzog sich auf dem europäischen Kontinent in der Hauptsache während des neunzehnten Jahrhunderts, und zwar rascher in Belgien, Frankreich, der Schweiz, dem westlichen Deutschland und in Oberitalien, langsamer im östlichen Deutschland, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern, in Oesterreich-Ungarn und Spanien, während im östlichen und südöstlichen Europa heute noch in der Rohproduktion das Schwergewicht der wirtschaftlichen Thätigkeit liegt.

Durch diese Umgestaltung ward Europa stets mehr auf die Zufuhren aus andren Weltteilen angewiesen; aber es verstand diese Abhängigkeit wettzumachen durch einen immer steigenden Einfluß, den es auf die wirtschaftlichen Zustände und Leistungen der Welt nahm, durch eine mit mächtiger Energie betriebene Ausdehnung feiner Handelsbeziehungen, durch eine imponierende Entfaltung seiner Verkehrsmittel.

Die Landwirtschaft, welche in Frankreich schon durch die Revolution von mittelalterlichen Lasten und Beschränkungen befreit war, erlebte diese Befreiung in Deutschland und Oesterreich um die Mitte des Jahrhunderts In den Gewerben trat an die Stelle der mittelalterlichen Zunfteinrichtungen der Grundsatz der Gewerbefreiheit. Und der große technische Fortschritt, der durch die Einführung der Dampfmaschine in die Industrie, durch die riesig gesteigerte Steinkohlen- und Eisenproduktion, durch zahllose Erfindungen auf dem Gebiete der Chemie, Physik und Mechanik ermöglicht war, ließ die Arbeitsthätigkeit der Kulturvölker in jene donnernde, brausende und klirrende Hast geraten, die heute manchmal bis zum Furchtbaren sich steigert. Der ins Großartige gestiegenen Güterproduktion entsprach eine gleich mächtige Entfaltung des Verkehrs. Im Jahre 1807 hatte Rob.

Fulton das erste Dampfboot auf den Hudsonfluß geleitet; 1819 fuhr der Dampfer „Savannah“ als erster über den Atlantischen Ocean, und heute werfen zahllose Riesenschiffe von unerhörter Größe ihre stählernen Leiber den Wogen des Weltmeers entgegen. Die Räder wurden durch die Schraube, der Holzbau durch den Eisenbau verdrängt, alle Meere belebt, alle Ufer durch Hafenbauten und Leuchtfeuer gesichert.

Und ebenso großartig waren die Fortschritte des Landverkehrs. Seit im Jahre 1825 zum erstenmal eine Lokomotive über ein Schienengeleise zwischen den englischen Städten Stockton und Darlington hinrollte – welche Umgestaltung! Die Welt ward mit einem Netze von Eisenschienen überzogen, Bauten von fabelhafter Kühnheit wurden emporgetürmt, meilendicke Bergkämme durchbohrt, Eisenbrücken gespannt, unter deren schwindelnd hohen Bogen die Spitzen der höchsten Schiffsmasten versanken; über die eisigen Pässe der Alpen und der Kordilleren wurden die Eisenpfade geschlungen. Und als im Jahre 1836 der elektrische Telegraph erfunden war und wenige Jahrzehnte später schon nicht bloß durch alle Kulturgebiete hin, sondern auch auf dem Boden des Weltmeers entlang die Telegraphendrähte sich spannten, als endlich im letzten Fünftel des Jahrhunderts der geniale Amerikaner Edison sein Erfindertalent spielen ließ, und als das Telephon die Entfernung zwischen sprechenden Menschen verschwinden ließ; da war’s entschieden, daß es der technische Fortschritt sein sollte, unter dessen Zeichen das Jahrhundert stand!

Aber die wirtschaftlichen und socialen Zustände der Völker sollten noch nach anderer Richtung hin eine merkwürdige und folgenreiche Umgestaltung erleben. Zu den Erwerbständen der ländlichen Grundbesitzer und der Städtebürger trat ein neuer Erwerbstand hinzu: das arbeitende Proletariat. Großgewachsen in Städten Fabrikbezirken, besitzlos und nur auf den Lohn seiner Tagesarbeit angewiesen, geschult durch Not und Entbehrung, gewann es rasch an Klassenbewußtsein, an wirtschaftlicher und politischer Einsicht und an Diciplin. Und so trat es auf dem europäischem Kontinent seit der Mitte des Jahrhunderts, in England schon früher, mit Ansprüchen auf ein menschenwürdiges Dasein vor die älteren Stände und die Staatsgewalt. Die Arbeiterfrage ward zu einem der großen Probleme des Jahrhunderts und kam zu den wichtigsten Fragen hinzu, die auf dem Gebiet der hohen Politik erwachsen waren: zu den Fragen des Konstitutionalismus, des europäischen Gleichgewichts und der Nationalitätenrechte. Schwere und verantwortungsvolle Aufgaben wurden damit der inneren Politik und der Gesetzgebung gestellt: die Fürsorge für die Notleidenden und Enterbten, die Ausgleichung socialer Gegensätze.

Und die infolge der langjährigen Kriege erwachsenen Staatsschulden, die wegen des wechselseitigen Mißtrauens der Staatsregierungen stets gesteigerten Ansprüche an die eigene Wehrfähigkeit, sowie die stetige Erweiterung der staatlichen Thätigkeiten nach allen Richtungen hin, stellten auch an die Führung der Staatshaushalte immer größere Ansprüche. Zu riesenhaften Summen wuchsen die Einnahmen und Ausgaben der Staaten, unglaubliche Höhen erreichten die Staatsschulden, und dennoch sah man am Ende des Jahrhunderts die riesigen Haushalte der großen Kulturvölker mit vollendeter Sicherheit geführt und getragen vom Vertrauen der Nation.

Glanzvoll entfalteten sich alle Gebiete geistiger Kultur im Schutze der hoffentlich für alle Zeiten errungenen Gedankenfreiheit. Vor allem die Naturwissenschaften! Wenn auch auf dem Gebiete der Mathematik und Astronomie die geistigen Großthaten eines Kopernikus und Galilei, eines Newton und Herschel nicht übertroffen werden konnten, so gehört doch der Name Laplace nicht bloß dem 18., sondern auch dem 19. Jahrhundert an. Chemie und Physik dagegen, sowie Mineralogie und Geologie, und die Physiologie der Pflanzen, der Tiere und Menschen haben Fortschritte gemacht, welche weit hinter sich lassen, was früheren Jahrhunderten auf diesen Gebieten zu schaffen vergönnt war. Wie bedeutungsvoll sind nicht die Forschungen auf dem Gebiete der Elektricität und des Magnetismus geworden, die Entdeckung der Spektralanalyse, des mechanischen Aequivalents der Wärme und jener neuen Lichtquellen, die am Schlusse des Jahrhunderts nie geahnte Wege und Ziele der Forschung aufglänzen ließen!

Die großartigen Leistungen der Naturwissenschaft sind in erster Linie der ärztlichen Kunst zu gute gekommen und haben eine Fülle von Segen über die Menschheit ergossen. In vorbeugenden Maßregeln gegen Krankheitserzeuger und Krankheitszustände, in der Erkennung der unsichtbaren winzigsten Feinde des menschlichen Körpers, in der Untersuchung der Ernährung und des Blutumlaufes, in der Entdeckung und Anwendung von schmerzstillenden Mitteln, in kühnen operativen Eingriffen erhoben sich die Hygieine und die Heilkunde weit über alles, was vergangene Jahrhunderte geleistet hatten. Und mit ihnen Hand in Hand gingen staatliche und gemeindliche Fürsorge. Ja, diese Fürsorge erstreckte sich sogar bis in die Schrecken des Krieges hinein, in welche die Genfer Konvention das Mitleid, die Sorge und Pflege edelster Menschlichkeit zu tragen verstand.

So ruhmreichen Erfolgen konnten die Geisteswissens die Phlosophie und Philologie, die Geschichte, die Jurisprudenz und die politische Ockonomie freilich Gleiches nicht zur Seite stellen; aber auch sie waren imstande, große und weittragende Fortschritte zu machen, neue Quellen in Fülle zu erschließen, festgewurzelte Irrtümer zu beseitigen, ihre Methoden stets zu läutern.

Und was die Wissenschaft in ihren Laboratorien und Bibliotheken an neuer Erfahrung aufschloß, ward von einer riesenhaft sich ausdehnenden Presse, von einem stets reicher sich entfaltenden Schulwesen unermüdlich und pflichtgetreu in die breitesten Schichten der Bevölkerung getragen, dem höchsten und dem schlichtesten Verständnis zugänglich gemacht!

Wenn die Kulturvölker am Jahrhundertschlusse ihre großen Dichter nennen, wird wohl das deutsche Volk berechtigt sein zu fragen: wo ist das Volk und wo das Jahrhundert, das einen Größeren zu stellen vermöchte als meinen Johann Wolfgang von Goethe? Aber abgesehen von ihm haben alle Nationen ihre Litteratur während der letzten hundert Jahre mit unvergänglichen Schätzen bereichert. Und immer erfolgreichen ward insbesondere der internationale Austausch litterarischer Leistungen; die Kenntnis der Weltlitteratur erwuchs zum gemeinsamen Bildungsmittel der Kulturvölker.

Und wie auf dem Gebiete der Dichtung, so hat auch auf dem der Musik das deutsche Volk ein Recht, die erste Stelle für das Jahrhundert zu beanspruchen. Denn Beethoven und Richard Wagner sind unübertroffen, ja unerreicht geblieben. Und die bildenden Künste gingen würdig in den Fußspuren großer Vorfahren weiter. Die Malerei fand durch die großen Ausstellungen internationale Fühlung und schuf sich durch das Ausstellungswesen wie durch die riesige Entwicklung der Vervielfältigungstechnik Boden in immer breiteren Schichten des Volks. Die Baukunst, wenngleich es ihr nicht gelang, einen neuen Stil zu finden, verstand es doch, das architektonische Empfinden aller Jahrhunderte mit gesteigertem Verständnis den immer mannigfaltiger werdenden Aufgaben der Gegenwart anzupassen. Und alles, wodurch die Künste das Dasein veredeln, hörte mehr und mehr auf, bloß den besitzenden Klassen zugänglich zu sein Die Verfeinerung des Lebens durch die Künste ist zu einer Aufgabe geworden, der sich jedes Volk, jedes städtische Gemeinwesen mit gesteigertem Interesse bewußt wird.

Wohl vermögen wir nicht zu verkennen, daß tiefe Schatten in das Bild des Jahrhunderts sich zeichnen. Dumpf und schwül lagert sich immer wieder ein Gefühl eifersüchtiger Spannung über den Frieden der großen Kulturvölker, die in furchtbarer Waffenrüstung stehen müssen, um, jedes für sich, eines etwa ausbrechenden Weltbrands gewärtig zu sein. Innerhalb der wachsenden Bevölkerungsmassen unserer Riesenstädte haben Ehrgeiz und Genußsucht das Leben zu einer nervösen Hetzjagd gemacht, bei der in den wohlhabenden Klassen Eitelkeit und raffinierter Luxus, in den ärmeren Kreisen Trunksucht und Roheit die Segnungen der Gesittung wirkungslos machen wollen. Steigende Unnatur im Arbeiten und im Genießen schädigt die Volksgesundheit, Klassenhaß und Parteifanatismus beeinträchtigen die innere Entwicklung des Staatslebens, und trotz aller ruhmvollen Fortschritte der Technik dringt alljährlich durch die Kulturwelt die Kunde von erschütternden Unfällen, denen Hunderte und aber Hunderte auf einmal zum Opfer fallen, verkohlt in den Flammen brennender Theater und Vergnügungssäle, zermalmt unter stürzenden Brücken, Bahnzügen und Gerüsten, ertränkt mit versinkenden Riesendampfern, erstickt im feurigen Schwaden, der durch die Steinkohlengruben saust.

Aber diese unheimlichen und grauenhaften Erscheinungen vermögen doch nicht, das Jahrhundert so zu verdunkeln, daß es uns nicht heller, freier und großartiger erschiene als alle seine Vorgänger. Von Anfang bis zu Ende zeigt es uns vielmehr, wenigstens in den Kulturstaaten, eine Läuterung der die Menschheit beherrschenden Ideen, ein Zurückdrängen des brutalen Eigennutzes, ein siegreiches Ueberwältigen menschenfeindlicher Naturzustände, ein rastloses Streben nach Erkenntnis und Verallgemeinerung derselben, einen Befreiungskampf gegenüber dem Wuste geschichtlich hergebrachter Hemmnisse des Fortschrittes. Und so mögen wir, wenn wir das neunzehnte Jahrhundert überleben, in das neue eintreten nicht wie in ein erschreckendes unheimliches Dunkel, sondern wie in ein großes freies Arbeitsfeld, in das wir selber den Lichtstrom unserer bisher errungenen Gesittung hineintragen. Und unsere Losung soll sein: nichts preiszugeben von dieser Gesittung, sondern ununterbrochen auf ihrer Grundlage nach noch Besserem und Höherem zu ringen! An dieser Aufgabe ist jeder beteiligt, im engsten wie im weitesten Wirkungskreise. Und wenn die Gesamtheit sich von ihr beseelen läßt, wird das kommende Jahrhundert noch größere und leuchtendere Errungenschaften aufzuweisen haben als das unsere unsere und das Ende des dritten Jahrtausends wird der Menschheit eine Macht bereiten, die bis zu den Gestirnen reicht, eine Erkenntnis über die Schalten des Todes hinaus, und eine Güte, die jedes Leid verschönt!

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in der “Illustrierte Chronik der Zeit vereinigt mit Gartenlaube”.