Die altchristliche Baukunst in der Auffassung des Architekten

Sa. Fosca auf der Insel Torcello bei Venedig

(Nach einem Vortrage des Hrn. Geh. Reg.-Rth. Prof. Chr. Hehl in der Vereinigung Berliner Architekten“.)
Das Gebiet der altchristlichen Baukunst ist wenig erforscht. Weder die Kunstgeschichte, noch auch die Baugeschichte, weder der nicht zugleich technisch gebildete Kunstgelehrte, noch der zugleich historisch gebildete Architekt haben diesem fernabliegenden, jedoch bei näherer Betrachtung ausserordentlich ergiebigen Gebiete die Aufmerksamkeit zugewendet, welche anderen Perioden der Baukunst zutheil geworden ist. Theilweise mit daher mag es kommen, dass vielleicht für keine Periode der Baukunst sich die Ansichten von Kunstgelehrten und praktischen Architekten so gegenüberstehen, wie hier. Dafür gab der Autor des unter dem vorstehenden Titel in der „Vereinigung Berliner Architekten“ abgehaltenen Vortrages überzeugende Beweise.

Redner war, wie eine Reihe anderer bedeutender deutscher Architekten der Gegenwart, ein Schüler des Gothikers Ungewitter in Kassel. Seine ersten Bauten trugen dementsprechend das gothische Gepräge, bis ihm im Jahre 1884 der Auftrag wurde, die am 21. Nov. 1883 durch Blitzschlag abgebrannte Kirche in Harsum im romanischen Stile auszuführen. Die Kirche wurde am 24. Okt. 1886 eingeweiht; sie war ihrem Urheber auf eine längere Reihe von Jahren aus den Augen gekommen und als er sie nach langer Zeit wiedersah, erlebte er eine schwere Enttäuschung. Eine Reise nach Oberitalien, nach Ravenna und Rom, hatte ihn die grossartigen Eindrücke der altchristlichen Bauwerke, ihre Einfachheit und Grossräumigkeit, ihre natürliche Entwicklung aus den konstruktiven Bedingungen kennen gelehrt und mit diesen Erfahrungen sah er sein altes Bauwerk wieder. Eine tiefgehende künstlerische Wandlung war die Folge, die zunächst in der Garnisonkirche zu Hannover, in einem Entwurf zur Garnisonkirche in Dresden, in der Herz Jesu-Kirche in Berlin und der Rosenkranzkirche in Steglitz bei Berlin zum Ausdruck kam.

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San Marco in Venedig übte auf den Besucher einen unvergleichlichen Reiz aus, besonders der reiche Innenraum mit seiner majestätischen Dämmerung und seiner Farbenpracht auf Goldgrund. San Marco ist stilistisch nicht aus einem Guss, es berühren sich spätrömischer, byzantinischer und morgenländischer Einfluss. 828 wurden die Gebeine des hl. Marcus aus Alexandrien nach Venedig gebracht und vermuthlich wurde zu ihrer Bergung San Marco im IX. Jahrh. als Backsteinkirche erbaut. Viele Kunsthistoriker meinen als Basilika, was aber doch immerhin zweifelhaft sein kann, denn die dicken Mauern der Apsiden lassen auf einen ausgebildeten Gewölbebau schliessen. Jedenfalls hat 976 ein Brand dieser Kirche stattgefunden, welcher die Folge hatte, dass sie zu der heutigen Grundrissform des griechischen Kreuzes erneuert wurde und zwar bis etwa 1043. In den Jahren 1071 bis 1084 wurde das Innere mit Marmor und Mosaiken verziert und erst im XII. und XIII. Jahrhundert ist das Aeussere mit Marmor und zumtheil antiken architektonischen Ueberresten verkleidet worden, Es ist also fast ununterbrochen von einem Dogen zum anderen an dem Werke gebaut worden und selbst im XV. Jahrhundert sind noch gothische Zuthaten hinzugekommen.

Aus San Marco in Venedig, Presbyterium mit Kanzel
Aus San Marco in Venedig, Presbyterium mit Kanzel
Aus San Marco in Venedig, Baptisterium in der Vorhalle
Aus San Marco in Venedig, Baptisterium in der Vorhalle

Auf der einsamen Insel Torcello, früher ein Bischofssitz, heute still und menschenleer, waren es der Dom Sa. Maria und der Zentralbau Sa. Fosca, beide aus dem VII. Jahrhundert, welche den Redner besonders anzogen. Beide Kirchen haben vom IX. bis XII. Jahrhundert geschickte Wiederherstellungen erfahren. Nach der formalen Behandlung des Inneren von Sa. Maria, wo ältere antikrömische und mittelalterliche Formen zusammenwirken, ist anzunehmen, dass schon eine frühere Kirche bestanden haben muss, deren Nachbildung die jetzt noch erhaltene ist, denn diese Nachbildung entspricht dem Geiste der basilikalen Kirchenanlage des IV. Jahrhunderts: drei Schiffe mit drei Chören. Prachtvolle Mosaiken finden sich namentlich im Chor. Motive der hochinteressanten Zentralanlage von Sa. Fosca hat Redner zuerst bei der St. Elisabeth-Kirche in Hannover und später am Chore der Herz-Jesu-Kirche in Berlin benutzt. Die Wanderung berührte sodann Murano mit seinem herrlichen Backstein-Dom, dessen aus dem XII. Jahrhundert stammende Chorseite insbesondere von grosser Schönheit ist.

In Ravenna zog es den Redner zuerst nach Nazaro e Celso, nach dem Grabmal der Galla Placidia, mit seinen herrlichen Mosaiken, unter welchen besonders der gute Hirte über dem Eingang hervorragt. Die Anlage ist noch ein echter Kreuzbau, mit einer Kuppel über der Vierung, 450 noch ganz im römischen Geiste erbaut. Dann ging die Wanderung zum Grabmal des Theodorich, ernst und schwermüthig, ein Mausoleum für die Ewigkeit; weiterhin zu den beiden Apollinariskirchen, Nuovo und in Classe. Nuovo wurde 504, noch unter Theodorich († 526), als 3-schiffige Basilika mit korinthisirenden Säulen erbaut und von 553-560 im Mittelschiff mit herrlichen Mosaiken ausgestattet. S. Apollinaris in Classe ist die besterhaltene Kirche von Ravenna, liegt aber sehr vereinsamt. Sie wurde 534 begonnen und 549 als ein Prachtbau von feinen Verhältnissen vollendet. Prächtige Mosaiken schmücken wieder das Innere. Das Aeussere, vor einem Hintergrund dunkler Pinien, weit und breit kein Haus, bietet ein unvergessliches Bild von schauerlich-schönem Eindruck dar. Dieses Bild schwebte dem Redner vor, als er die St. Bernwardskirche in Döhren bei Hannover erbaute, die zurzeit ihrer Errichtung auf völlig freiem Felde stand.

San Vitale, die herrliche Schöpfung des VI. Jahrhunderts, wird gewöhnlich als eine Hauptschöpfung der byzantinischen Architektur in Anspruch genommen. Dehio z. B hält sie nach Anlage und Ausbildung für völlig byzantinisch. Nach Ansicht des Redners aber ist die Grundrissanlage auf ein römisches Motiv vom Tempel der Minerva Medica zurückzuführen; auch die Einzelheiten sind mehr römisch, als ausgesprochen byzantinisch. Die Kirche wurde noch unter Theodorich 524 begonnen und 534 vollendet, also in einer Zeit, in welcher Byzanz noch nicht Herr von Ravenna war, denn erst 539 wird dieses durch Belisar gewonnen. Eine Eigenheit der Ravennatischen Bauten ist der Kämpferblock; er ist aus einer konstruktiven Nothwendigkeit entstanden. Da durch den Gewölbebau dicke Mauern nöthig wurden, dieselben aber vielfach von zarten korinthischen Kapitellen, die römischen Bauten entnommen waren, getragen wurden, so ergab sich die Nothwendigkeit, einen Zwischentheil zur Aufnahme der Last zwischen Stütze und Bogen einzuschieben.

Kapitelle aus San Marco in Venedig
Kapitelle aus San Marco in Venedig
San Vitale in Ravenna
San Vitale in Ravenna

Der schräg gestellte Narthex, welcher nicht der Hauptaxe der Kirche entspricht, soll nach der geläufigen Ansicht der Kunsthistoriker der vorbeiziehenden Strasse seine Lage verdanken. Redner theilt diese Ansicht nicht, glaubt vielmehr, dass die schräge Lage vom Architekten absichtlich gewählt wurde, um eine grössere Vorhalle und mehr Zugänge zum Kirchenraum schaffen zu können (a). Die Orientirung der Kirche ist streng nach Osten erfolgt. Das Innere ist wiederum mit kostbaren Mosaiken geschmückt. In konstruktiver Beziehung ist zu erwähnen, dass bei dieser Kirche auch die Anfänge der Strebepfeiler zu suchen sind. – (Schluss folgt.)

Die altchristliche Baukunst in der Auffassung des Architekten.

(Auf Seite 188 ist im Feuilleton zu verbessern, dass auch Dehio die Anlage von San Vitale auf den Tempel der Minerva Medica zurückführt.) (Schluss.) Von Ravenna führte der Weg nach Rom, der lang ersehnten ewigen Stadt. Die Steigerung des Eindruckes ist gewaltig. Hier wird der Beschauer durch die an Raumwirkung grossartig angelegten Werke der antik römischen Baukunst fast erdrückt. Die ernste Monumentalität erzwingt sich unbedingte Bewunderung. Es liegt nahe, dass sich die altchristliche Kunst hier am längsten in den Fesseln der alten römischen bewegt hat.

Chor von S. Donato auf der Insel Murano bei Venedig
Chor von S. Donato auf der Insel Murano bei Venedig
Sa. Fosca auf der Insel Torcello bei Venedig
Sa. Fosca auf der Insel Torcello bei Venedig

Hier hat die altchristliche Kunst nichts Neues geschaffen, wenigstens nichts Neues in formaler Beziehung; hier hat Sie nur von den römischen Vorbildern des Alterthums gezehrt. In der Raumbildung hat die altchristliche Kunst wohl Grosses geleistet, aber auch in dieser Beziehung nichts Neues geschaffen. In Oberitalien, Spanien, im oströmischen Reiche, in Zentralsyrien, in Afrika, Sizilien und Gallien, kurz überall da, wo die grossen römischen Ueberlieferungen in ihrem Einfluss eine Abschwächung erfahren hatten, hier hat sich viel früher eine eigene Baukunst entwickelt, wie in Rom selbst. In Zentralsyrien z. B., welches im Jahre 105 n. Chr. römische Provinz geworden war, und wo sich eine thätige Bevölkerung mit einer reichen Bauthätigkeit entwickelte, fand das Christenthum mit seinen baulichen Bestrebungen eine frühe Aufnahme. Der französische Forscher Melchior de Vogué zeigt uns in seinem Werke, welche hervorragenden Bauten dort vom 1. bis 6. Jahrhundert entstanden sind. Es hatte sich eine Art mittelalterlichen Charakters herausgebildet, den wir erst im XII. Jahrhundert im Fränkischen wiederfinden. Die hohe Blüthe der Baukunst dauerte aber nur bis zum 7. Jahrh.; in dieser Zeit wurde das Land verödet. Es blieben die Werke einer neuen und hohen künstlerischen Entwicklung der Baukunst bestehen, wie sie keine andere Provinz aufzuweisen hat. Bei der Basilika von Schakka z. B. finden wir wohl die erste Anlage eines Kreuzganges.

Von alledem zeigen die römischen Werke wenig. Denn die Denkmäler der christlich-römischen Generation, die ja nach ihrem Siege nach der konstantinischen Zeit sich frei bewegen konnte, sind fast ausschliesslich die Gotteshäuser; der Palast- und der Tempelbau, in welchen die neuen Gedanken enthalten waren, hören von dieser Zeit an auf. Redner berührt nun eine Anzahl der altchristlichen Werke Roms: San Lorenzo fuori le mura, mit dem einsamen Thurm, zumtheil aus dem IV.-VI. Jahrhundert stammend; Sa. Maria Maggiore, aus dem IV. Jahrh, San Paolo, im V. Jahrh errichtet, 1823 abgebrannt. Wenn aber auch diese Werke keine oder nur wenig wirklich neue Gedanken zeigen, so besitzen sie dagegen eine unerreichte Grossräumigkeit, die zumtheil auf die leichte Bauweise, auf die Holzdecken, die offenen Dachstühle usw. zurückzuführen ist. Werke dieser Grösse konnten entstehen in einer Zeit der Freiheit, in welcher die religiöse Begeisterung und Hingabe ihre höchsten Triumphe feierten. Nur einmal noch ist eine derartige Begeisterung wieder aufgetreten, im XII. Jahrhundert auf dem Boden von Nordfrankreich, wo in der kurzen Zeit von 1150-1200 die meisten Kirchen entstanden.

Welchen Nutzen der Redner aus dem Studium der altchristlichen Baukunst für seine praktischen Bauausführungen in künstlerischer und wirthschaftlicher Beziehung gewonnen hat, zeigt eine Gegenüberstellung seines letzten mit einem seiner frühen Werke. In wirthschaftlicher Beziehung tritt das Ergebniss mit überraschender Wirkung zutage beim Vergleich der Querschnitte der Dreifaltigkeits-Kirche in Hannover und der Rosenkranz-Kirche in Steglitz, dem letzten Werke des Künstlers. In der umstehenden Abbildung sind beide Querschnitte nach dem gleichen Maassstabe in einander gezeichnet. Beide Kirchen haben die gleichen Baukosten verursacht und dabei die weitaus bedeutendere Raumwirkung der im frühen märkischen Backsteinstil gehaltenen, im Inneren byzantinischen Vorbildern nachgebildeten Steglitzer Kirche gegenüber der mit kleineren Kunstmitteln geschaffenen Dreifaltigkeits-Kirche in Hannover! Und doch gilt die letztere auch heute noch als ein hervorragendes Werk der neueren Kirchenbaukunst gothischen Stiles.

Querschnitte der Dreifaltigkeits-Kirche in Hannover und der Rosenkranz-Kirche in Stegliz. (Architekt Chr. Hehl in Charlottenburg.)
Querschnitte der Dreifaltigkeits-Kirche in Hannover und der Rosenkranz-Kirche in Stegliz. (Architekt Chr. Hehl in Charlottenburg.)

Ein Wort noch der Orientirung der Gotteshäuser.
Schon die Naturvölker haben sich beim Gebet nach Osten, nach der aufgehenden Sonne, gewendet. Uralte, auf dem Sonnenkultus beruhende Vorstellungen mögen hier eingewirkt haben. Das Christenthum entlehnte mit anderem dem heidnischen Kultus auch die Orientirung, die Frage ist aber mehr eine lithurgische, als eine architektonische. – Bis zum Bekanntwerden des Kompasses am Ende des XI. Jahrhunderts richtete man sich nach dem Sonnenaufgange, oder, wenn die Kirche einem Märtyrer geweiht war, nach dem Stande der Sonne an seinem Todestage. Daher sind auch in Rom, wo im übrigen die ersten Kirchen, wenn sie frei lagen, nach Westen gerichtet wurden, die verschiedenartigsten Richtungen nachzuweisen. Nach dem XI. Jahrhundert, als schon die Magnetnadel benutzt wurde, sind trotzdem noch die verschiedenartigsten Richtungen entstanden; man glaubte, in den meisten Fällen seien Strassenzüge maassgebend gewesen. Es giebt aber eine glaubliche wissenschaftliche Erklärung des Ingenieurs Wehner in Frankfurt a. M. dafür (Denkmalpflege 1899). Er wies darauf hin, dass der Erdmagnetismus Schwankungen im Gang der Magnetnadel erzeugt habe. 1580 stand sie 11° 30’ östlich, 1618 nur noch 8° östlich vom astronomischen Meridian. 1663 fiel letzterer mit dem magnetischen Meridian zusammen. 1763 fand eine Ablenkung von 8° 10‘, 1814 eine solche von 22° 34‘ nach Westen statt; jetzt geht die Nadel wieder zurück. Lässt sich also schon hieraus die Verschiedenartigkeit der Lage für die Kirchen erklären, die man mit dem Kompass in der That nach Osten einzustellen suchte, so ist, wie schon angedeutet, keineswegs gesagt, dass alle Kirchen nach Osten gerichtet wurden, schon deshalb nicht, weil dazu ein Gebot nicht vorhanden war, denn der Bischof Gregor von Nyssa (331-394) sagte, wenn man sich nach Osten wende, so geschehe es nicht, um dort Gott zu suchen, denn dieser sei überall, sondern weil der Orient unser erstes Vaterland ist. Man wird also in der Orientirung der Kirche mehr eine beibehaltene Tradition, als ein Gebot der christlichen Kirche zu erblicken haben. –

Dieser Artikel erschien zuerst in der Deutsche Bauzeitung vom 13. & 17.04.1901.