Im Vogelhospital

Loro und die Pille

Die Tierliebe der Frauen im allgemeinen und ihre zärtliche Hinneigung zu dem kleinen, gefiederten Volk im besonderen sind hinlänglich bekannt. So darf es kaum wundernehmen, daß eine Frau zuerst auf den Gedanken kam, ein Sanatorium für kranke Vögel zu errichten, das ihnen Hilfe in allen körperlichen Nöten und sachgemäße Behandlung und Pflege gewähren sollte.

Das erste Vogelkrankenhaus dieser Art wurde kürzlich in Neuyork gegründet, und der Andrang dazu war ein so großer, der Beifall, den die Idee der opfermutigen Vogelfreundin fand, ein so lebhafter, daß unmittelbar darauf auch in Paris und London derartige Institute entstanden, die ebenfalls mit ausgezeichnetem Erfolg arbeiten. Das englische Hospital ist gleichzeitig mit einem Boardinghaus verbunden, in dem Vögel während der Reisezeit ihrer Besitzer in Pension genommen, widerspenstige Exemplare gezähmt, ungelehrige durch das Beispiel besonders begabter Gefährten in der höheren Bildung unterwiesen werden. Die Besuchsziffer der Sanatorien schwankt zwischen 500 und 700; in dem Boardinghaus logierten in diesen Sommer sogar ungefähr 4000 gefiederte Gäste, wohl der beste Beweis für die Nützlichkeit und Notwendigkeit dieser Anstalten.

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Die Leitung der Vogelkrankenhäuser liegt zumeist in der Hand wissenschaftlich ausgebildeter Vogelärztinnen, die sich mit unendlicher Geduld und Liebe ihren Patienten widmen und eine ausgesprochene Begabung im Umgang mit dem leicht erregbaren, kleinen Volk bekunden; denn auch hier gibt es, gerade wie bei den Menschen, nervöse und schwer zugängliche, gutartige und renitente Kranke, deren Natur sorgsam studiert sein will.

Das kranke Bein erhält eine Schiene
Das kranke Bein erhält eine Schiene
In der Schwebebandage
In der Schwebebandage

Interessant ist ein Gang durch solch ein Vogelkrankenhaus auch für den Laien, der kaum eine Ahnung davon hat, wieviel Fährlichkeiten das Leben der gefiederten Sänger bedrohen.

Die Käfige und Volieren, die in dem Vogelhospital die Stelle der Krankenzimmer einnehmen, sind aufs praktischste eingerichtet, passen sich in ihrer Ausstattung bis ins kleinste den Bedürfnissen des jeweiligen Inhabers an. Fast jeder Käfig ist mit einer automatischen Vorrichtung versehen, durch die, nach Vorschrift und Bedarf, warme oder kalte Luft eingeführt werden kann. Krankenzettel sind außen daran befestigt, die über Namen, Art und Krankheit des Vogels, über seinen Besitzer, die vorgeschriebene Kur und Pflege Auskunft geben und mit laufenden Nummern bedruckt sind. Es gibt für den Uneingeweihten kaum ein besseres Orientierungsmittel über die vielen Krankheiten, die sich in der Vogelwelt breit machen, als das Studium dieser Zettel. Da finden sich Asthma, Rheumatismus, Neuralgie und Dyspepsie verzeichnet, Lungenentzündung, Schwindsucht, Herzkrankheiten, gastrisches und typhöses Fieber, Bronchitis und Entzündungen aller Art, ja selbst epileptische Anfälle suchen das kleine, gefiederte Volk heim. Zu den Krankheiten, die operative Eingriffe erfordern, gehören vorzugsweise Bruchschäden, Dehnungen und Quetschungen, die meistens gut verheilen, so daß sie keine nachteiligen Folgen hinterlassen. Bein und Flügelbrüche werden mit Stützen und Unterlagen aus Holzstäbchen oder Federposen behandelt, in schwereren Fällen müssen auch wohl einige Stiche mit feinstem Silberdraht helfend eingreifen, oder die verletzten Glieder künstlichen Ersatz finden. Für Dehnungen und Zerrungen der Flügel gibt’s besondere Hänge- oder Schwebebandagen, auf denen der Körper des Patienten bequem und sicher ruht, während die Füße durch Schlitze geleitet werden und sich frei bewegen können; bei Quetschungen lautet die ärztliche Verordnung für die abschließende Behandlung auf kalte Kompressen und Einpackungen, denen sich die kleinen Kranken meist gutwillig und geduldig unterziehen.

Chloroform wird im Vogelhospital so selten als möglich angewendet; nur wenn schwere Operationen bevorstehen, oder der Patient besonders unruhig ist, schreitet man zur Narkose. Im übrigen spielen sich diese Operationen in herkömmlicher Weise und mit der gebotenen Vorsicht ab; der Patient wird mit irgendeiner desinfizierenden Flüssigkeit gewaschen, Instrumente, Nadeln usw. sind sorgfältig sterilisiert. Während der Operation muß der Vogel von einer zweiten Person gehalten werden; größere oder außergewöhnlich aufgeregte Tiere bindet man und schnallt sie am Operationstisch fest. Der Raum selbst ist aufs freundlichste ausgestattet; man vermeidet nach Möglichkeit alles, was die Tiere ängstigen könnte. Ausgestopfte Vögel aller Art stehen an den Wänden herum, und zwar meistens solche mit lebhaft gezeichnetem Gefieder; Scheren, Pinzetten und die sonstigen Instrumente sind fein und zierlich – kurz, alles ist darauf berechnet, einen anheimelnden, freundlichen Eindruck zu machen.

Die Heilmittel, mit denen die Vogelärztin arbeitet, unterscheiden sich wenig von denen des Menschenarztes, nur sind die Dosen natürlich entsprechend geringer. Pulver und Pillen, Tropfen und Einreibungen stehen dabei obenan, auch Dampfbäder und Massage sind beliebte und erfolgreiche Kurmittel. Das Einflößen der Medikamente geht allerdings nicht immer glatt vonstatten und ist oft nur mit allerlei Listen zu erreichen; so werden Pillen und Pulver mit Vorliebe in Rosinen oder Weinbeeren eingehüllt und Tropfen auf Zucker geträufelt oder mit dem Tropfenzähler in den Schlund des Vogels praktiziert. Doch gibt es auch unter dem gefiederten Volk renitente Gesellen, die sich nur der „rohen Gewalt“ beugen und ihren Helfern manche schwere Stunde bereiten. Das Vogelhospital beherbergt Patienten ganz verschiedener Art und Größe, vom einfachen Wald- und Wiesensänger bis zum kostbarsten „Ausländer“, der im vergoldeten Käfig seinen Einzug hält. Am meisten vertreten sind Kanarienvögel und Papageien, diese beiden beliebten Zimmergenossen des modernen Menschen; aber auch unser Hausgeflügel stellt eine stattliche Anzahl von Kranken, die namentlich dann, wenn es sich um seltene Rassen handelt, eine ganz besonders aufmerksame Ueberwachung verlangen.

Loro und die Pille
Loro und die Pille
Fertig zur Narkose
Fertig zur Narkose

Dementsprechend sind die ärztlichen Rechnungen mitunter von ganz respektabler Höhe, aber sie werden gern bezahlt, wenn der glückliche Besitzer sein Kleinod gesund und in alter Frische aus dem Sanatorium abholen kann.

Für unbemittelte Vogelbesitzer gibt es eine Anzahl Freistellen, so daß auch sie den Segen des Vogelhospitals erfahren dürfen.

Mit der Errichtung von Vogelbaracken und Pflegehäusern ist unbedingt einem dringenden Bedürfnis abgeholfen worden; es bietet sich dadurch den Frauen ein neues, dankbares Feld der Tätigkeit, und so ist zu wünschen, daß die ebenso praktische als zeitgemäße Idee auch bei uns Anklang und tatkräftige Anhängerinnen fände.

Dieser Artikel von A. Rutger erschien zuerst in Die Woche 43/1903.