Architekt: Professor Hubert Stier in Hannover. Wer von den Fachgenossen in diesem Jahre Bremen besucht, wird neben den bekannten älteren Monumental-Bauten der Stadt und den reizvollen baukünstlerischen Augenblicks-Schöpfungen, die Joh. G. Poppe für die Ausstellung erfunden hat, in erster Linie den jüngsten monumentalen Neubau des Orts, den seitens der preussischen Eisenbahn-Verwaltung nach dem Entwurfe H. Stier’s ausgeführten Haupt-Personen-Bahnhof seiner Aufmerksamkeit und seines Studiums für würdig erachten.
Da der Bau bereits seit vorigem Herbst seiner Bestimmung übergeben worden ist, ohne dass bisher eine amtliche (anscheinend in besonderer Ausführlichkeit geplante) Veröffentlichung stattgefunden hat, so glauben wir den Wünschen unserer Leser durch eine Mittheilung über denselben entgegen zukommen. In Ermangelung anderer Unterlagen müssen wir uns allerdings mit der Wiedergabe einiger photographischer Aufnahmen, einer den früheren Veröffentlichungen entnommenen Grundriss-Skizze und denjenigen erläuternden Angaben begnügen, die man bei einer Besichtigung des Bauwerks an Ort und Stelle sammeln kann.
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Die Ersetzung der beiden älteren, im Norden der Stadt gelegenen Bahnhöfe Bremens, des ersten Bahnhofes der Hannoverschen und desjenigen der Venlo-Hamburger Eisenbahn durch einen gemeinschaftlichen Bau war – wenn nicht noch früher – schon seit dem Zeitpunkt geplant, da mit den anderen Strecken der Köln – Mindener Eisenbahn-Gesellschaft auch diejenige von Venlo nach Hamburg in den Besitz des preussischen Staates übergegangen war. Beide Linien laufen dicht neben einander in die Stadt ein, gabeln sich aber am Uebergange über die Schwachhäuser Chaussée kurz vor dem grossen, von ihnen eingeschlossenen Friedhof. Anfänglich bestand die Absicht, den neuen Haupt-Personen-Bahnhof als Inselbahnhof an der Spitze jener Gabelung, östlich von der an der Ostseite des Bürgerparks hinlaufenden Verlängerung der Remberti-Str. zu errichten. Die Umwälzung, welche die Ausführung dieses Plans in den aus der Lage des alten Hannover’schen Bahnhofs erwachsenen Verhältnissen des Fremden-Verkehrs hervor gerufen haben würde – es sei nur angeführt, dass fast sämmtliche Bremer Hotels in der unmittelbaren Nähe jenes Bahnhofs liegen – erschien jedoch so gross, dass man sich für die Beibehaltung der von ihm eingenommenen Baustelle vor dem alten Heerden-Thor, in der Axe der Altstadt entschied. Während des Baues wurde der Verkehr beider Linien von dem Venlo-Hamburger Bahnhof aufgenommen.
Planung und Ausführung des im Oktober 1886 begonnenen Neubaues ist durch die Kgl. Eisenbahn-Direktion in Hannover unter wesentlicher Einwirkung des technischen Referenten für diesen Direktions-Bezirk im Ministerium der öffentlichen Arbeiten, des verstorbenen Geh. Ober- Bauraths Grüttefien bewirkt worden. Die obere Leitung an Ort und Stelle lag in den Händen des Hrn. Eisenbahn-Bau- u. Betr.-Insp. Wiesner. Für den architektonischen Theil des Entwurfs wurde ursprünglich die Heranziehung eines Bremer Baukünstlers beabsichtigt. Da jedoch die von demselben gelieferten Skizzen den Wünschen der Eisenbahn-Verwaltungen nicht entsprachen, so wurde statt seiner der schon bei mehrfachen Bahnhofs-Bauten der Direktion bewährte Prof. Hubert Stier in Hannover mit der Aufstellung eines bezgl. Entwurfs beauftragt. Er hat demnächst auch sämmtliche Einzelheiten des Baues für den Zweck der Ausführung künstlerisch ausgestaltet.
Die Grundriss-Anordnung des neuen Bahnhofs, dessen Höhenlage selbstverständlich so gewählt worden ist, dass die früher mit der Eisenbahn in der Gleiche sich kreuzenden Strassen unter derselben durchgeführt werden konnten, entspricht im Hauptgedanken derjenigen, die zuerst beim Bahnhof Hannover angewendet und erprobt worden ist. An den Bahnkörper schliefst sich stadtseitig in der Mitte der ganzen Anlage eine mächtige Vorhalle von 32,0 m Breite, 86,5 m Tiefe und 23,76 m Scheitelhöhe, von aussen zugänglich durch 4 Doppelthore an den Enden der Front bezw. den vorspringenden Seiten. Aus dieser Halle entspringen an der Rückseite 4 Tunnels, von denen die beiden seitlichen den Aufgang der Reisenden zu den Perrons vermitteln, während die beiden mittleren zur Beförderung des Gepäcks nach bezw. von den Zügen dienen. Unmittelbar vor ihnen liegt die Gepäck-Aufgabe bezw. Abgabe, in der Mitte der Halle als ein kleiner Freibau die Fahrkarten-Ausgabe. In der Queraxe der Halle entspringen aus dieser die, je durch 2 Thüren zugänglichen beiden Wartesäle für die Reisenden der III. und IV. bezw. I. und II. Wagenklasse.
Die im Grundriss dargestellte Trennung des linksseitigen Wartesaals in Räume für die Fahrgäste III u. IV, Kl. sowie die Abscheidung eines besonderen Speisesaals auf der rechten Seite ist vorläufig noch nicht zur Ausführung gelangt.
Den Schluss machen auf jeder Seite des Baues 2 dreigeschossige Flügelbauten, von denen der linke (westliche) im Erdgeschoss einen besonderen, durch einen eigenen Treppen-Aufgang mit dem bezgl. Perron verbundenen Wartesaal für Auswanderer, in den beiden Obergeschossen Diensträume und Dienstwohnungen enthält, während der rechte (östliche) im Erdgeschoss die Wirthschaftsräume des Wirths, im I. Obergeschoss (auf Perronhöhe) die durch einen besonderen Eingang in der Front zugänglichen Empfangsräume für fürstliche Herrschaften, im II. Obergeschosse Dienstwohnungen enthält. Die Höfe, welche sich in dem Zwischenraum zwischen den Wartesälen und dem Bahnkörper ergeben, sind zum Theil noch mit niedrigeren Bauten (Aborte, Damenzimmer, Buffet für III. u. IV. Klasse) besetzt. Das Ganze stellt sich als ein ungemein klarer und übersichtlicher Organismus dar. – An den Rücken dieses Vorgebäudes schliefst sich als Hauptkörper der Gesammt-Anlage die grosse, 59 m i. L. Weite, 30 m im Scheitel hohe Bahnhofs-Halle, welche den Bahnkörper auf eine Länge von 197 m überdacht. Die Anordnung der zu 3 Gruppen zusammen gefassten Gleise innerhalb derselben bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bemerkt sei nur noch, dass für den Bahnpost- und Eilgut-Verkehr ein besonderes, westlich vom Personen-Bahnhof gelegenes Dienstgebäude errichtet worden ist.
Die erläuternden Bemerkungen, welche wir über den Aufbau des Bahnhofs beizubringen imstande sind, können sich unter den obwaltenden Verhältnissen im wesentlichen nur auf die künstlerische Seite der Anlage beziehen. Bezüglich der konstruktiven Anordnung der Halle, die nach Angaben von Hrn. Geh. Ober-Baurath J. W. Schwedler ausgeführt ist, sei nur bemerkt, dass das System der gewählten Eisen-Konstruktion fast ganz dem für den neuen Haupt-Personen-Bahnhof in Frankfurt a. M. angewendeten entspricht, dessen 3 Hallen jedoch nur je 55 m breit sind. Als Widerlager gegen den in der Längsrichtung wirkenden Winddruck sind an den Ecken der Hallenwand 2 bis zum Kern aus vollem Mauerwerk bestehende Thürme angeordnet worden – ein konstruktives Motiv, welches natürlich zugleich die künstlerische Erscheinung der ganzen Anlage vortheilhaft beeinflusst hat; an der aus Eisenfachwerk hergestellten Hinterwand erfüllen 2 riesige Eisenstreben den gleichen Zweck. Die Beleuchtung des auf beiden Kopfseiten durch eine tief herab reichende Glaswand (Schürze) geschlossenen Raumes erfolgt im übrigen durch hoch liegende Fenster in den Seitenwänden und ein mittleres Oberlicht.
Die Erscheinung der Halle steht, abgesehen natürlich von den Breiten-Verhältnissen derjenigen des Frankfurter Baues in nichts nach. Vielleicht bildet es bei letzter einen Vorzug, dass die Eisenkonstruktion und die im Werksteinbau hergestellten Hallenwände den gleichen Farbenton zeigen, während in Bremen das leichte Eisenwerk der Träger hell von dem dunkelfarbigen Backsteinton der Wände sich abhebt und dadurch an Körper noch mehr verliert. Dagegen dünkt uns die Gestaltung der Glaswände an den beiden Kopfseiten in Bremen nicht nur um vieles glücklicher als dort, sondern überhaupt als die beste, bisher zur Ausführung gekommene Lösung dieser künstlerisch nicht leichten Aufgabe. Eine Beschreibung in Worten kann den Eindruck nicht wiedergeben; es sei daher nur kurz bemerkt, dass die betreffenden, unten wagerecht abschliessenden „Schürzen“ in schön abgestimmter Theilung in eine Reihe dekorativ verglaster Felder aufgelöst sind, die nach oben wie nach unten in Rundbögen endigen. Das Motiv wirkt so mächtig, dass die im wagerechten Sinne durchlaufenden Konstruktionstheile, Laufbrücken, Träger bezw. Verankerungen in keiner Weise zu stören vermögen. Auch für die äussere Erscheinung der Kopfseiten gilt ein Gleiches; hier ist es zudem von sehr günstigem Einfluss, dass die starre geometrische Linie des oberen Flachbogen-Abschlusses durch die der Dachlinie entsprechenden seitlichen Aufschieblinge gemildert wird.
Von der Gesammt-Erscheinung des Aussenbaues giebt unsere, nach einer Photographie gezeichnete Skizze, die wir später vielleieht noch durch eine grössere Ansicht des Mittelbaues ergänzen, ein zwar kleines, aber für den vorliegenden Zweck ausreichendes Bild, das uns einer eingehenderen Beschreibung entsteht. Klar und einfach wie der Organismus der Anlage tritt auch der Aufbau uns entgegen, in welchem sich nicht nur jener Organismus, sondern auch die Bestimmung des Bauwerks deutlich ausspricht; ein echt modernes aber im besten Sinne monumentales Werk. Auf durchaus gleicher Höhe steht die Durchbildung der Einzelheiten in den edlen Formen einer vom Rundbogen ausgehenden, frei behandelten Renaissance. Den Schwierigkeiten, welche die im Vergleich zu den Flügelbauten übergewaltigen Maassstabs-Verhältnisse des mittleren Vorhallenbaues darboten, hat der Künstler durch die Auflösung der Vorderseite in 4 Felder, von denen die beiden inneren wiederum durch einen grösseren, den Uebergang zu dem oberen Abschlussbogen vermittelnden Rundbogen zusammengefasst sind, trefflich zu begegnen gewusst. Sehr schön abgestimmt ist auch die Farbenwirkung der Fassade, deren Gesims-Gliederungen und Skulpturen aus hellgrauem Kyliburger Eifelsandstein bezw. Obernkirchener Sandstein hergestellt sind, während der Sockel mit Niedermendiger Basaltlava und die Mauerflächen mit gelblichrothen durch dunklere Streifen belebten Verblendziegeln von Bienwald & Rother in Liegnitz bezw. Rasch in Oeynhausen bekleidet sind; aus gleichfarbiger dunkler Terrakotta bestehen die mit Ornament versehenen Brüstungen und Friese, die Konsolträger der Gesimse und die Bekrönungen der letzteren. Auf den Pfeiler-Vorlegern des Mittelbaues sind in der Axe das preussische Wappen, seitlich das geflügelte Rad, an den Vorderseiten der grossen Eckpfeiler links das Bremer, rechts das Oldenburger Wappen angebracht. Als Bekrönung der Eckpfeiler dienen 2 von Hrn. Bildhauer Dopmeier in Hannover gearbeitete, Handel und Industrie verkörpernde Figuren-Gruppen, während die Zwickel des Bogenfeldes mit 2 Flachbild-Figuren von Hrn. Bildhauer Knorr in Bremen (Schifffahrt und Eisenbahn-Verkehr) geschmückt sind.
Im Innern des Gebäudes fesselt vor allem die in der Beilage durch eine photogr. Aufnahme dargestellte grosse Vorhalle, Ihre Wand-Architektur ist aus derjenigen der Fassade abgeleitet, aber nur im Putzbau ausgeführt; sie zeigt als Grundton eine hellgelbliche Steinfarbe, belebt durch sparsame Vergoldung sowie farbige Gründe und Linien, vor allem aber durch die farbige Musterung der Fenster. Die Decke ist aus einem System grosser, in ihrer unteren Gurtung mit Zink verkleideter Flachbogenträger mit geraden Pfetten und zwischen letztere gespannten Wellblech-Kappen gebildet. Die Fahrkarten-Ausgabe in der Mitte des Raums ist ein in den Einzelheiten sehr ansprechend und zierlich gestalteter Holzbau, dessen durch unser heutiges Tarif-System bedingter Umfang jedoch leider etwas grösser ausgefallen ist, als im Interesse der Gesammt-Erscheinung der Halle erwünscht wäre. Die Merkur-Figur an der Hinterwand der letzteren ist wiederum ein Werk von Dopmeier in Hannover.
In ähnlicher Weise, jedoch entsprechend farbiger, sind die beiden grossen Wartesäle gehalten. Das Deckensystem besteht auch hier aus eisernen, mit Zink verkleideten Flachbogen-Trägern mit eisernen Pfetten; jedoch sind zwischen letztere hier Flachbogen – Gewölbe aus Töpfen gespannt, deren kachelartige Unterflächen ein Muster bilden. Im Wartesaale I. und II. Kl., für welches die Töpfe von den Merziger Werken geliefert sind, erscheint das aus dunkelblauen und rothen Tönen auf gelblich weissem Grunde gebildete Muster etwas hart. Um vieles glücklicher ist die Wirkung im Wartesaal III. u. IV. Klasse, wo das Muster nur aus Gelb auf gelbweisslichem Grunde sich zusammen setzt. Die Töpfe sind hier aus den Siegersdorfer Werken geliefert; auch die Wand- Architektur dieses zweiten Saales, deren den Bindern entsprechende Vorlagen Pfeiler sind, muthet uns mehr an, als die aufwändigere Architektur des anderen, der anstelle dieser Pfeiler Vollsäulen aus rothem Stuckmarmor mit bronzirten Kapitellen und Basen zeigt. – Der Wartesaal für Auswanderer, in dem zeitweise ein aus den sarmatischen Hinterländern stammendes Publikum von zweifelhafter Reinlichkeit zusammen strömt, ist an Decke und Wänden mit glasirten Kacheln bekleidet; die Träger der Decke sind Eisensäulen.
Mit besonderer Liebe hat der Künstler die fürstlichen Empfangszimmer sowie den zu ihnen gehörigen Treppenraum ausgestattet. Von der stilistischen Haltung derselben sowie von dem Grade des Reichthums, der hierbei für angemessen erachtet wurde, möge die beigefügte Ansicht des Hauptzimmers eine Vorstellung geben. Alles in allem steht der neue Haupt-Personen-Bahnhof Bremens, den wir für das glücklichste Werk halten, welches seinem baukünstlerischen Urheber bis jetzt gelungen ist, nach seinem Range unter den gleichartigen Schöpfungen unseres Vaterlandes mit an erster Stelle. Ein ehrenvolles Zeugniss für die Werthschätzung, welche die preussische Staats-Eisenbahn-Verwaltung neuerdings derartigen Aufgaben zugewendet hat, ist er zugleich ein sprechender Beweis für die Richtigkeit des Weges, auf welchem hier wie in anderen Fällen die künstlerische Lösung gesucht worden ist. Dass er – obgleich nicht das Werk eines „Bremer Mannes“ – auch in Bremen allseitiger Anerkennung sich erfreut, scheint die Thatsache zu erweisen, dass s. Z. in der Bürgerschaft der Antrag gestellt worden ist, das Kaiser Wilhelm-Denkmal nicht vor dem Rathhause, sondern vor dem Bahnhofe (!) aufzustellen und dass man sich nur mit der Mehrheit von einer Stimme für den jetzt gewählten Platz entschieden hat.
Dieser Artikel erschien zuerst 1890 in der Deutschen Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-F.-„.