Während die deutsche Architektenschaft theilnehmend mit dem Schicksale der Bremer Rathhaushalle sich beschäftigt und dafür eintritt, dass die derselben zugedachte „Verschönerung“ nicht etwa auf eine Beeinträchtigung des so reizvollen und eigenartigen geschichtlichen Gepräges hinauslaufe, das dieser Raum trotz aller ihm angethanen Unbilden bis heute sich bewahrt hat, sinnt man in Leipzig auf Schlimmeres.
Aufs neue machen die Bestrebungen sich breit, welche im Interesse der modernen grosstädtischen Entwicklung des Ortes leichten Herzens die Beseitigung seines ehrwürdigen Rathhauses fordern – also die völlige Vernichtung desjenigen Baudenkmals, dem es in erster Linie zu danken ist, wenn der Erscheinung der ganzen Stadt wenigstens ein Hauch ihres alten geschichtlichen Gepräges erhalten worden ist. Wir sind diesen Bestrebungen seit Jahren aus vollster Ueberzeugung entgegen getreten und wir würden uns einer groben Pflicht-Vernachlässigung für schuldig halten, wenn wir dies nicht auch bei dem neuesten, augenblicklich vorliegenden Anlass thäten.
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Ueber die Vorgeschichte der Frage können wir mit Rücksicht auf unsere früheren Ausführungen (Jhrg. 83 No. 28 und Jhrg. 90 No. 13, 28 und 49), die der Mehrzahl der Leser noch im Gedächtniss sein dürften, wohl in Kürze hinweggehen. Wir erinnern lediglich daran, dass die Leipziger Stadtverordneten-Versammlung sowohl dem i. J. 1883 vorgelegten Plane des Rathes, wonach – unter Niederlegung des alten Rathhauses – auf dem zwischen Markt und Reichsstr. einerseits, Grimmaischer Str. und Salzgässchen andererseits gelegenen Gelände ein völlig neues Rathhaus errichtet werden sollte, ihre Zustimmung versagt hat, wie auch einer zweiten i. J. 1890 gemachten Rathsvorlage, nach welcher der Neubau auf den Baublock zwischen Naschmarkt und Reichsstr. beschränkt und mit den entsprechend auszubauenden, im Aeusseren angemessen herzustellenden Gebäuden der alten Börse und des alten Rathhauses in unmittelbare Verbindung gebracht werden sollte.
Bei dieser Sachlage erschien es als das Nächstliegende, die Errichtung eines Neubaues an anderer Stelle ins Auge zu fassen – ein Plan, für den auch schon die Erwägung sprechen musste, dass es für den Handelsverkehr Leipzigs nicht wünschenwerth sei, ein so grosses und günstig gelegenes Gelände, wie jenes bisher für den Bau in Aussicht genommene, seinen Zwecken zu entziehen. Als daher vor einigen Jahren der Stadt die Möglichkeit geboten wurde, das Gelände der alten Pleissenburg zu erwerben, wurde dieser Kauf nicht allein vollzogen, um demnächst einige wichtige neue Strassen-Verbindungen durchführen zu können, sondern auch mit der ausgesprochenen Absicht, hier möglicherweise eine geeignete Baustelle für den Rathhaus-Neubau zu gewinnen. Die Beschaffung einer solchen Stelle bildete den wichtigsten Punkt in dem Programm des Wettbewerbes um den Plan einer Auftheilung des Pleissenburg-Geändes, der im vorigen Jahre unter den Architekten Leipzigs ausgeschrieben wurde und aus welchem der in No. 100 Jahrg. 95 u. Bl. mitgetheilte Ehmig’sche Entwurf siegreich hervorging.
In einer am 21. Mai d. J. bei der Stadtverordneten-Versammlung eingegangenen Vorlage ist der Rath nunmehr mit bestimmten Vorschlägen zur Verwerthung jenes am 1. April 1897 der Stadt zu übergebenden Geländes hervorgetreten, die zugleich solche für die Lösung der Rathhaus-Baufrage einschliessen.
An dem Ehmig’schen Plane, der in künstlerischen Kreisen so grossen Beifall gefunden hatte, ist allerdings nicht festgehalten worden; das städtische Bauamt hat vielmehr einen neuen, umstehend mitgetheilten Entwurf aufgestellt, nach welchem glattere Verkehrs-Verbindungen und eine vortheilhaftere Verwerthung der zum Verkaufe zu stellenden Bauplätze erzielt werden. Der Verkaufswerth der letzteren wird nach mässigen Sätzen zu 5 777 760 M. berechnet, was nach Abzug des an den Staatsfiskus zu zahlenden Preises, der Kosten für Strassenanlagen und der Zwischenzinsen der Stadt einen Ueberschuss von 885 000 M. einbringen würde. Der Werth des in Aussicht genommenen Rathhaus-Bauplatzes, dessen Form bei Aufstellung des Bauentwurfs natürlich noch kleine Aenderungen erfahren dürfte und in welchem der alte Thurm der Pleissenburg nunmehr eine zentrale Stellung einnimmt, ist dabei auf 2 020 725 M. (8981 qm zu 250 M.) angenommen worden.
Dem Gedanken an sich, das neue Rathhaus auf dem Grunde der Pleissenburg aufzuführen, redet der Rath warm das Wort – nicht nur, weil die Stelle zu den übrigen Verwaltungsgebäuden der Stadt erheblich günstiger liegt, als das alte Rathhaus, sondern auch weil der hinter diesem liegende Baublock nach Durchführung der für erforderlich erachteten Strassenverbreiterungen zu klein wäre, selbst wenn zu demselben der Naschmarkt, die alte Börse und das alte Rathhaus gezogen würden. Er bemerkt inbezug auf letzteres jedoch: „Die Erhaltung des alten, ehrwürdigen Rathhauses, für welches eine Verwerthung zu Verwaltungszwecken oder städtischen Sammlungen sich leicht ergeben würde, erscheint uns zudem als eine Verpflichtung unserer Generation nicht nur unserer Stadt, sondern ganz Deutschland gegenüber, sobald die Möglichkeit geboten ist, den Bedürfnissen unserer herangewachsenen Stadt in anderer, zweckmässiger Weise Genüge zu thun“. – Die Kosten eines Rathhausbaues einschl. des Grundwerthes und aller Nebenausgaben werden auf insgesammt 7 285 000 M. geschätzt, wobei auf den zu 157 170 cbm Rauminhalt berechneten Bau selbst (bei einem Einheitspreise von 25 M. für 1 cbm) 3 329 250 M. für die Tiefergründung und Wiederherstellung des Thurms 350 000 M. angenommen sind.
Inbezug auf die Frage einer Verwerthung des bisher für Zwecke des Rathhaus-Baues bestimmten Baublocks zwischen Naschmarkt und Reichstrasse, Grimmaische Strasse und Salzgässchen, der bei einer Verbreiterung der Reichsstrasse auf 21 m, der Grimmaischen Strasse auf 20 m und des Salzgässchens auf 15 m von 5210 qm auf 3586 qm Grundfläche eingeschränkt werden würde, hat ein angesehener Bürger Leipzigs, Hr. Justizrath Dr. Colditz, in einer vor kurzem erschienenen, die ganze Sachlage klar und trefflich beleuchtenden Schrift Vorschläge gemacht, denen der Rath sich einfach angeschlossen hat. Dieselben befürworten in erster Linie, dass eine Gesellschaft von Privatleuten sich bilden möge, die der Stadt jenes Gelände und das der alten Börse für den Preis, in welchem es in der städtischen Besitznachweisung zu Buche steht – d. i. für eine Summe von 3 404 900 M. – abkaufe und es mit Geschäftshäusern bebaue; als eine Möglichkeit wird jedoch noch hingestellt, das Gelände nicht endgiltig zu verkaufen, sondern es einer Gesellschaft auf 50 Jahren gegen eine feste Jahresrente mit der Bedingung zu verpachten, dass es nach Ablauf dieser Frist mit allen darauf errichteten Gebäuden wiederum der Stadt heimfalle. –
So die Vorlage des Raths, über welche zunächst die Ausschüsse der Stadtverordneten in Vorberathung getreten sind. Gleichzeitig hat sich natürlich auch die durch die Leipziger Presse vertretene öffentliche Meinung der Bürgerschaft mit der für die Zukunft der Stadt so wichtigen Angelegenheit beschäftigt und wieder wogt – wie schon 1883 und 1890 – der Streit der Ansichten lebhaft hin und her.
Inbetracht kommt namentlich ein in 3 Nummern des Leipziger „General-Anzeigers“ veröffentlichter Artikel eines ungenannten Verfassers, der an der Rathsvorlage eine ziemlich abfällige Kritik übt. Derselbe bemängelt nicht allein die Schätzung der für den Bau eines neuen Rathhauses auf Pleissenburg-Gelände aufzuwendenden Kosten, die er für viel zu niedrig erklärt, sondern tritt ebenso den Colditz’schen Vorschlägen, welche für die Stadt durchaus unvortheilhaft seien, mit grosser Schärfe entgegen. Beiläufig wendet er sich auch gegen die in denselben enthaltenen (mit früheren Annahmen des Vereins Leipziger Architekten übereinstimmenden) Strassenverbreiterungen, welche über das Bedürfniss weit hinausgingen; eine Verbreiterung der Reichs- und Grimmaischen Strasse auf je 17 m, des Salzgässchens auf 12 m sei als völlig genügend anzusehen. Für den Gedanken, das alte Rathhaus zu erhalten – das eine auf 1 Million Mark sich stellende Instandsetzung dieselben bedingen würde – kann er sich nicht erwärmen, da ihm der Kunstwerth des Gebäudes zu unbedeutend erscheint; er meint, dass man nur nöthig habe, sich zunächst vor die durch Baurath Rossbach geschaffene neue Fassade des Augusteums und dann vor das alte Rathhaus zu stellen, um – den Abstand zu bewundern, er hält überdies die vorgeschlagene Anordnung von Laubengängen an den in die verbreiterten Strassen vorspringenden Giebeln des Hauses für eine Verunstaltung desselben und stellt in Aussicht, dass es mit seiner geringen Fronthöhe und seinem hohen Dache gegenüber den neuen hohen Geschäftshäusern eine wenig glückliche Rolle spielen werde. Seine eigne Ansicht über den in der Rathhaus-Frage einzuschlagenden Weg der Lösung scheint dahin zu gehen, dass man das gesammte Gelände der Pleissenburg veräussern, dagegen an dem 1883 in Vorschlag gebrachten Gedanken der Erbauung eines einheitlichen grossen Rathhauses zwischen Markt und Reichsstrasse, mit Kaufläden im Erdgeschoss festhalten solle. Er erörtert jedoch schliesslich nicht ohne Wohlwollen auch einen von anderer (wohl kaufmännischer) Seite angeregten Plan, der Erbauung eines neuen Rathhauses anstelle der Pleissenburg zuzustimmen, dagegen jenes andere Gelände im Herzen der Stadt, nach Niederlegung des alten Rathhauses und der alten Börse in ganzer Ausdehnung zum Bau von Geschäftshäusern zu veräussern.
Ein im Leipziger Tageblatt vom 21. Juni erschienener Artikel hat die meisten dieser Ausführungen widerlegt. Es würde jedoch zu weit führen, wenn wir an dieser Stelle zu eingehend mit Fragen uns beschäftigten, welche – trotz der bei ihnen mitspielenden künstlerischen und technischen Gesichtspunkte – in erster Linie doch nur als Finanzfragen der Stadt Leipzig zu betrachten sind.
Was uns vor allem am Herzen liegt, ist das Schicksal des alten Rathhauses und der alten Börse, für welche letztere übrigens auch der Verfasser des oben erwähnten Artikels im General-Anzeiger sich zu interessiren scheint, da er der Uebertragung der Decke des Börsensaals in ein anderes städtisches Gebäude das Wort redet. Unstreitig bildet die Frage der Erhaltung jener beiden Gebäude auch den Kernpunkt der ganzen Angelegenheit und es hängt von ihrer Beantwortung ab, wie man zu dieser sich stellt.
Sollen wir noch einmal über die Rolle, welche die Erscheinung alter Baudenkmäler in einer modernen Grosstadt spielt und über den künstlerischen und kunstgeschichtlichen Werth des alten Leipziger Rathhauses uns verbreiten? Wir würden nur wiederholen können, was wir schon früher insbesondere i. J. 1890 – ausgeführt haben, aber wir befürchten, dass wir damit auf diejenigen, an welche unsere Worte zunächst sich richten müssten, nicht mehr Eindruck machen würden, als früher. Die Würdigung geschichtlicher Baudenkmäler ist, wie wir wiederholt betonen müssen, Sache der Empfindung. Derjenige, dem diese Empfindung fehlt, wird sich von einem anders Fühlenden schwerlich bekehren lassen; wer sie besitzt, braucht nicht erst überzeugt zu werden.
So wollen wir diesmal nicht an diejenigen uns wenden, welche die Schöpfung Lotters ohne Gewissensbisse der Vernichtung Preis geben wollen, sondern an diejenigen, die mit uns in einem solchen Vorgehen eine Pietätlosigkeit erblicken, die mit uns auf das schmerzhafteste den Verlust eines Baudenkmals beklagen würden, das für eine bestimmte Art der im 16. Jahrhundert geübten deutschen Kunstweise, für den Bau mit leicht überputzten Backsteinen, zu den hervorragendsten Beispielen zählt und bei aller durch jene Bauweise bedingten Schlichtheit malerischen Reizes gewiss nicht entbehrt. Der Schritt, welchen die Unterzeichner der Eingabe an den Bremer Senat inbetreff der unverfälschten Erhaltung der dortigen Rathhaushalle gethan haben, hat seinen Eindruck nicht verfehlt und würde wahrscheinlich sofort Erfolg gehabt haben, wenn er früher geschehen wäre. Wir geben den durch Ruhm und Einfluss hervorragenden deutschen Fachgenossen anheim, ob es nicht angezeigt wäre, einen ähnlichen Schritt auch für die Rettung des Leipziger Rathhauses zu unternehmen und damit die Stellung des dortigen Rathes zu stärken, der bereits erklärt hat, dass Leipzig in derartigen Frage Verpflichtungen vor ganz Deutschland habe. –
Wir wenden uns aber auch an den der Zahl nach vermuthlich nicht geringen Theil der Bürgerschaft Leipzigs, dem die geschichtliche Vergangenheit seiner Vaterstadt und die sichtbaren Zeichen des Zusammenhangs mit derselben nicht so gleichgiltig sind, wie dem Urheber des eben erwähnten einleuchtenden Finanzplans, nach welchem anstelle des Rathhauses künftig Geschäftshäuser sich erheben sollen. Die grossartige Opferwilligkeit Leipzigs für vaterstädtische Zwecke steht in Deutschland ohne gleichen da. Wie wäre es, wenn auch dem alten Rathhause Gönner entstünden, die sich bereit erklärten, die Mittel zu einer würdigen Wiederherstellung desselben aus eigenem Vermögen zu tragen? Wir sind überzeugt, dass damit den zerstörungssüchtigen Eiferern gegen das Rathhaus ihre wirksamste Waffe aus den Händen gewunden und seine Erhaltung für immer gesichert wäre!
Dieser Artikel erschien zuerst am 04.07.1896 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-F.-“.