Schnellfahrversuche mit Dampflokomotiven

2/5gekuppelte Schnellzuglokomotive hannoverscher Bauart. Maximalgeschindigkeit 126,5 km

Von Regierungsbaumeister Dinglinger, Hilfsarbeiter an der Kgl. Eisenbahndirektion Berlin.

Weit über die technisch gebildeten Kreise hinaus ist das Interesse an den Versuchen gegangen, die die Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen auf der Militäreisenbahn angestellt hat. Mit Eifer wurden diesseit und jenseit des Ozeans die kurzen Berichte über die Ergebnisse verfolgt. Stolz können wir darauf sein, daß deutsche Ingenieure, unterstützt vom deutschen Kapital, den Erweis gebracht haben, daß Fahrgeschwindigkeiten von 200 Kilometer auf geeignetem Oberbau möglich sind und bei dessen ständiger Instandhaltung gefahrlos angewendet werden können.

Nun macht zurzeit die Eisenbahndirektion Berlin auf Anordnung des Ministers der öffentlichen Arbeiten Schnellfahrversuche mit mehreren verschiedenen Systemen von Dampflokomotiven auf der gleichen Strecke Marienfelde-Zossen, die zu diesem Zweck mit schweren Schienen und Bettung aus starkem Steinschlag ausgerüstet ist. Erweckt das nicht den Anschein, als ob die großartigen Erfolge der Elektrizität die Dampfkraft angestachelt haben, mittels Lokomotiven ebenfalls die erstaunliche Geschwindigkeit von 200 Kilometer in der Stunde zu erreichen?

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Keine „200“ schwebt als Leitstern über den jetzigen Versuchen. Nicht als ob es an sich unmöglich wäre, Dampflokomotiven für diese Geschwindigkeit zu bauen. Diese Frage hat gar keine Erörterung gefunden, weil sie weder im Interesse der Eisenbahnverwaltung, noch in dem des Publikums liegt.

Bei dem jetzigen Oberbau würde selbst auf der Strecke Berlin-Hamburg ein mit 200 Kilometer Geschwindigkeit fahrender Zug in fast allen Kurven infolge der Wirkung der Zentrifugalkraft aus dem Gleis herausspringen; um dies zu verhüten, müßten die äußeren Schienen höher als die inneren verlegt werden, weit höher, als dies jetzt bereits geschieht. Aber schon bei Kurven von 500 Meter Radius, in denen die Neigung des Bettes 30 Grad betragen müßte, würde der Wagen sich so schräg stellen, daß er ohne weiteres zum Umfallen käme, wenn er aus Betriebsrücksichten einmal zum Halten in der Kurve gezwungen würde. Ein Einbiegen nach der Mitte, wie dies bei den ebenso schräg angelegten Radfahrrennbahnen möglich ist, wäre ja durch den Schienenweg ausgeschlossen.

1200 Meter Halbmesser entsprechend einer Schräglage des Bettes von 15 Grad, würde für Fahrgeschwindigkeiten von 200 Kilometer in der Stunde als Mindesmaß anzusehen sein, und danach müßte jede Strecke umgebaut werden da Kurven auch unter 500 Meter Halbmesser auf allen Schnellzugstrecken vielfach vorkommen.

Aber nur einige Abschnitte unserer Bahnen ließen sich so umbauen; an den meisten Stellen, besonders in gebirgiger Gegend, werden die örtlichen Verhältnisse dies gar nicht zu lassen. Die dadurch entstehenden Kosten müßten aber in Verbindung mit den bedeutend gesteigerten Betriebskosten die Einführung von Fahrpreisen nach sich ziehen, die etwa das Dreifache der jetzigen betrügen.

Wie viele Fahrgäste würden sich wohl zu dieser Ausgabe verstehen, nur um eine oder zwei Stunden früher ans Ziel der Reise zu kommen? Die Wirtschaftlichkeit gebietet also, die jetzigen Bahnstrecken beizubehalten und nur den Oberbau, d. h. Schienen, Schwellen, Bettung und Brücken so zu verstärken, daß die für unsere Bahnverhältnisse höchsten Geschwindigkeiten mit Sicherheit eingehalten werden können. Selbst die amerikanischen Bahnen stellen die Betriebssicherheit jetzt in den Vordergrund und setzen für jede Strecke die höchste dort zulässige Geschwindigkeit fest, anstatt wie früher jene Lokomotivführer zu belohnen, die die Züge besonders schnell beförderten. Jetzt werden auch dort, wie schon längst bei unsern Bahnen, die Führer zur Verantwortung herangezogen, die die zugelassenen Fahrgeschwindigkeiten nur um etwa 5 Kilometer überschreiten.

Auf den meisten Strecken haben unsere Schnellzüge bereits die höchste Geschwindigkeit, die im Interesse der Betriebssicherheit zulässig ist.

Nun fragt es sich, ob wir nicht auf besonders günstigen Strecken in der Ebene, wo weder starkes Gefälle noch scharfe Kurven eine Entgleisungsgefahr mit sich bringen, die Geschwindigkeit noch über die bei uns zugelassenen 100 Kilometer in der Stunde steigern können.

Eigentliche Versuche sind in Hinsicht der Fahrgeschwindigkeiten nicht gemacht worden, in andern Ländern fuhr man so schnell, als die Lokomotive laufen konnte, bis einmal ein Unglück passierte. Dann kam eine offizielle Mahnung für die Führer heraus, an gefährlichen Stellen den Zug nicht in zu große Geschwindigkeit kommen zu lassen.

England ging allen andern Ländern voran. Schon im Jahr 1855 hat eine Lokomotive die sogenannte „Wellington Bank“ hinunter die Geschwindigkeit von 131 Kilometer in der Stunde erreicht; die Lokomotive, die für besonders hohe Geschwindigkeit gebaut war, hatte zwei riesige Treibräder von 2,74 Meter Durchmesser. Die gleiche Geschwindigkeit ist an jener Stelle im Jahr 1885 mit einer ähnlichen fünfachsigen Lokomotive von 2,44 Meter Treibraddurchmesser erreicht worden. Bei der Wiederholung dieser Sportfahrt entgleiste aber die Lokomotive. Mit 130 Kilometer Geschwindigkeit fährt an einer Stelle der Luxuszug der Philadelphia & Reading Railroad zwischen Neuyork und Chicago, allerdings auch in leichtem Gefälle.

Das sind die höchsten, offiziell festgestellten Geschwindigkeiten. 120 Kilometer stündliche Geschwindigkeit sind dagegen auf französischen, englischen und amerikanischen Bahnen nichts Seltenes, da die Bahnen sich in Verkürzung der Fahrzeit einzelner Züge gegenseitig ständig zu überbieten suchen.

Wir könnten ja nun 120 Kilometer als Höchstgeschwindigkeit einführen, wenn andere Länder dies mit Erfolg getan. Aber wird dabei auch die Sicherheit des Publikums nicht gefährdet? Dies festzustellen, muß die vornehmste Pflicht der Eisenbahnverwaltung sein.

Neben einem vorzüglich unterhaltenen Gleis spielt die Bauart der Lokomotiven die erste Rolle, da irgendwelche Unregelmäßigkeiten in ihrem Gang bei Erhöhung der Geschwindigkeit die Gefahr der Entgleisung hervorrufen können.

Die geprüften Lokomotiven.

Wie schon erwähnt, wurden zu den Schnellfahrversuchen unsere im Dienst befindlichen Schnellzuglokomotiven herangezogen. Die leichteren Schnellzuglokomotiven haben vier Achsen, der offizielle Name ist 2/4gekuppelte Schnellzuglokomotive, d. h. zwei von vier Räderpaaren sind durch Kuppelstangen miteinander verbunden und von der Maschine aus angetrieben, die beiden andern kleinen Räderpaare dienen lediglich zum Tragen.

2/4gekuppelte Heißdampflokomotive. Maximalgeschindigkeit 136 km
2/4gekuppelte Heißdampflokomotive. Maximalgeschindigkeit 136 km
2/5gekuppelte Schnellzuglokomotive Grafenstadener Bauart. Maximalgeschindigkeit 123 km
2/5gekuppelte Schnellzuglokomotive Grafenstadener Bauart. Maximalgeschindigkeit 123 km

Diese Gattung von Lokomotiven, die lediglich zu Vergleichszwecken herangezogen wurde, kam für die eigentlichen Versuche nicht in Frage, weil der Kessel für die großen Geschwindigkeiten nicht genügend Dampf hergeben kann.

In den Wettkampf traten nur die leistungsfähigeren Lokomotiven ein, die größere Kessel besitzen, und die, um das da durch bedingte größere Gewicht zu tragen, hinter den beiden Treibachsen noch eine Laufachse führen. Dies sind die 2/5gekuppelten vierzylindrigen Schnellzuglokomotiven Grafenstadener und Hannoverscher Bauart, die sich im wesentlichen nur durch die Lage der Dampfzylinder unterscheiden.

2/5gekuppelte Schnellzuglokomotive hannoverscher Bauart. Maximalgeschindigkeit 126,5 km
2/5gekuppelte Schnellzuglokomotive hannoverscher Bauart. Maximalgeschindigkeit 126,5 km
2/6gekuppelte Schnellzuglokomotive mit Versuchszug. Maximalgeschindigkeit 137 km
2/6gekuppelte Schnellzuglokomotive mit Versuchszug. Maximalgeschindigkeit 137 km

Als dritte Mitkämpferin trat eine von dem Geheimen Baurat Garbe entworfene 2/4gekuppelte Heißdampflokomotive hinzu, bei der die Leistungsfähigkeit durch den Einbau eines Schmidtschen Ueberhitzers gesteigert wird.

Endlich wurde noch die neue, von Henschel & Sohn in Kassel für die Ausstellung in St. Louis gebaute 2/6gekuppelte Schnellbahnlokomotive herangezogen, die wegen ihres eigenartigen, vorn zugeschärften Umbaus das Interesse der weitesten Kreise erweckt hat. Bei dieser Lokomotive steht der Führer, wie auf einem elektrischen Zug, vorn und verständigt sich mit dem hinten stehenden Heizpersonal durch ein Sprachrohr. An beiden Seiten der Lokomotive und des Tenders sind Gänge angeordnet, die eine unmittelbare Verbindung mit dem Zug herstellen.

Die drei ersten Lokomotivtypen sind für 100 Kilometer, die letzte für 130 Kilometer stündliche Geschwindigkeit gebaut.

Die Versuche.

Diese Lokomotiven wurden in der Hauptwerkstatt Tempelhof mit den für die Messungen erforderlichen Apparaten ausgerüstet und dann mit dem Versuchszug, in dem ein Wagen als Apparatewagen diente, auf die Versuchsstrecke nach Marienfelde übergeführt.

Der Versuchszug bestand aus sechs unserer neuen D.-Wagen, darunter ein Wagen III. Klasse, die bis zu den höchsten Geschwindigkeiten vollständig ruhig liefen.

Mit 60 Kilometer wurden die Fahrten begonnen, dann bei jeder folgenden Fahrt die Geschwindigkeit gesteigert, wenn die bei den Messungen gewonnenen Ergebnisse dies zuließen.

War mit dem Sechswagenzug die Höchstgeschwindigkeit erreicht, so wurden drei Wagen abgehängt und die Versuche mit einem Dreiwagenzug fortgesetzt.

Versuchsresultate.

Dauerleistungen konnten selbstverständlich auf der 25 Kilometer langen Strecke von Marienfelde nach Zossen nicht erreicht werden; jedoch ließ sich wohl die in der Ebene erreichbare Höchstgeschwindigkeit erkennen. Diese sind für die einzelnen Lokomotiven in folgender Tabelle zusammengestellt:

Art der Lokomotivemit 6 Wagenmit 3 Wagen
2/5 S. L. Grafenstadener Bauart111123


km
2/5 S. L. Hannoverscher Bauart118126,5
2/4 Heißdampflokomotive128136
2/6 Schnellbahnlokomotive128137

Bei diesen Höchstgeschwindigkeiten entwickeln die Lokomotiven die enorme Leistung von über 2000 indizierten Pferdestärken.

Wenn auch erst nach vollständiger Durcharbeitung der Versuchsresultate das endgültige Urteil gefällt werden kann, so gestatten die Resultate immerhin den Schluß, daß unsere Lokomotiven eine Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit unbedenklich zulassen. Vorher sind jedoch noch zwei Forderungen zu erfüllen. Zunächst wird es sich darum handeln, unsern Oberbau in so guten Zustand zu setzen, daß nicht etwa durch dessen Unregelmäßigkeiten Gefahren entstehen können. Die Verstärkung des Oberbaus, die bereits auf vielen Strecken durchgeführt ist, wird ja auch mit allen Kräften gefördert.

Wie wichtig die Frage des Oberbaus ist, mag daraus gesehen werden, daß bei, einer Probefahrt auf der neben der Militärbahn liegenden, mit leichtem Oberbau ausgerüsteten Strecke der Staatsbahn eine Steigerung über 90 Kilometer in der Stunde nicht mehr angängig war.

Eine weitere Schwierigkeit bietet das Halten der Züge bei den großen Geschwindigkeiten. Mit unsern jetzigen Bremsvorrichtungen konnte der mit 137 Kilometer in der Stunde fahrende Zug erst nach einer Minute zum Halten gebracht werden, trotzdem Notbremsung angewandt war, und dabei war der Zug vom Augenblick des Bremsens bis zum Halten noch über einen Kilometer weit gelaufen. Wenn man bedenkt, daß unsere Schnellzüge bei 90 Kilometer Fahrgeschwindigkeit in 30 Sekunden auf eine Strecke von 400 Meter zum Halten gebracht werden können, daß hiernach unsere sämtlichen Signale angelegt sind, so kommt man zu dem Schluß, daß auch andere schneller wirkende Bremseinrichtungen bei Erhöhung unserer Fahrgeschwindigkeiten eingeführt werden müssen.

Bei der Fahrt auf offener Strecke ist auf gutem Oberbau immerhin eine Steigerung der Fahrgeschwindigkeit auch mit unsern jetzigen Betriebsmitteln möglich: das haben die Versuche auf der Militärbahn bewiesen.

Die jetzigen Versuche auf der Militäreisenbahn sollen nur zeigen, wie hoch die Fahrgeschwindigkeit auf günstiger Strecke bei Verwendung unserer im Betrieb befindlichen Schnellzuglokomotiven mit Sicherheit gesteigert werden kann. Erst in zweiter Linie muß geprüft werden, ob diese Geschwindigkeiten wirtschaftlich vorteilhaft sind, und ob sich nicht durch konstruktive Aenderungen Verbesserungen in dieser Beziehung erzielen lassen; diese Fragen lassen sich erst nach späteren Dauerversuchen beantworten.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 15/1904.