201 Kilometer in einer Stunde

Ein Triumpf der deutschen Technik - Die Teilnehmer an den Versuchsfahrten der elektrischen Schnellbahn Marienfelde-Zossen

Wir leben tatsächlich in einer Zeit der technischen Ueberraschungen und Wunder. Wenn unsere Großväter, die ihre Reisen in der seligen Postkutsche zurücklegten, heute erwachen würden, und sie erblickten nur einen unserer gewöhnlichen Schnellzüge, so würden sie vielleicht glauben, daß eine höllische Macht das rasende Ungetüm triebe. Aber selbst wir Kinder einer skeptischen Zeit, deren Grundsatz das berühmte „nil admirari“ ist, fragen uns staunend angesichts der letzten Errungenschaften der Physik und Technik wie weit eigentlich der spürende und forschende Menschengeist noch gehen will, um die Begriffe der Zeit und der Entfernung überhaupt illusorisch zu machen.

Die elektrischen Schnellfahrten auf der Militärbahnstrecke Marienfelde-Zossen bei Berlin haben das für den Laien staunenswerte Resultat gezeitigt, daß man jetzt eine Höchstgeschwindigkeit von 201 Kilometern in der Stunde erzielt.

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Die siegesgewissen Ingeniereure, die dieses Wunder vollbrachten, waren sich schon lange nicht mehr darüber im Zweifel, daß eine solche Leistung möglich sei und vielleicht ist hiermit überhaupt noch nicht das Ziel ihrer Wunsche und Hoffnungen erreicht. Angesichts dieser Tatsache stehen wir gewiß an der Schwelle einer ganz neuen Aera unseres Verkehrwesens. Man muß bedenken: mit der erzielten Durchschnittsgeschwindigkeit von 175 Kilometern die Stunde kann man die Eisenbahn fahrt von Berlin nach Köln, 577 Kilometer, in etwa 5 ¼ Stunde zurücklegen, während die schnellsten Züge jetzt immer noch neun Stunden zur Bewältigung dieser Entfernung brauchen. Bei der denkwürdigen Fahrt hat sich, wie erwartet werden durfte, die gesamte elektrische Einrichtung des Siemenswagens trotz der enormen Belastungen, die das Anfahren auf der verhältnismäßig kurzen Strecke bedingte, durchaus gut bewährt; ebenso tadellos funktionierte die Fahrleitung. Die 25 Kilometer lange Strecke Marienfelde-Zossen wurde wiederholt in dem kurzen Zeitraum von 8 Minuten (einschließlich Anfahren und Bremsen) durchfahren und die höchste Geschwindigkeit auf der Strecke Mahlow-Dahlwitz-Rangsdorf, die in anderthalb Minuten durchfahren wurde, in einer Länge von etwa 5 Kilometern erreicht. Natürlich war bei den hochinteressanten Versuchsfahrten ein zahlreiches fachmännisches Publikum anwesend, das der Abfahrt des Siemenswagens beiwohnen wollte. Die Leiter der Militärbahn, Oberstleutnant von Böhn und Major Friedrich, trafen in Marienfelde mittels des sogenannten Revisionszugs ein, der nur aus Lokomotive und einem Personenwagen besteht.

Ferner waren erschienen der Präsident des Reichseisenbahnamts Wirkl. Geh. Rat Dr. Schulz, die Geheimräte von Misani, Lachner, Zimmermann und von Borries, Direktor Dr. Berliner, die Oberingenieure Dr. Ing. Reichel, Frischmuth, Ehnhardt und einige Ingenieure, die die Beobachtungen im Motorwagen anstellten. Dieser selbst wurde von Dr. Reichel geführt.

Bei einer Stromspannung von 14 000 Volt gelang es, eine Fahrgeschwindigkeit von 201 Kilometer in der Stunde zu erreichen!

Viele von den Anwesenden wären gewiß gern mitgefahren, indessen sind vorläufig dazu nur wenige berufen; Beamte der Staatsbahnen oder der Studiengesellschaft, deren Leben und Gesundheit hoch versichert ist, sind augenblicklich noch die einzigen, die zu der Fahrt zugelassen werden. Die Mitglieder der Studiengesellschaft, in deren Händen die Leitung der Versuche liegt, sowie die Vertreter der beteiligten Gesellschaften, die in gemeinsamer Arbeit die elektrischen Schnellfahrten vorbereiteten, durften mit Genugtuung die Glückwünsche der Fachmänner entgegennehmen zu der Leistung, auf die jeder der Beteiligten stolz sein darf.

Wir werden in unserer nächsten Nummer in einem Artikel eines berufenen Fachkenners, der an den Versuchen teilgenommen und die Fahrten selbst geleitet hat. unsern Lesern vom fachmännischen Standpunkt aus einen Einblick in dieses neue, überraschende Getriebe der Technik verschaffen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 41/1903.

Unsere elektrische Schnellbahn.

Von Dr. Ing. Walter Reichel.

(Obige Darstellung aus der Feder des kompetentesten Beurteilers, der Frage der elektrischen Schnellbahnen wird gewiß unsern Lesern willkommen sein, Hr. Dr. Ing. Reichel hat an dem denkwürdigen Tag, an dem die Versuche auf der Bahnstrecke Marienfelde-Zossen eine Geschwindigkeit von 201 Kilometern in der Stunde ergaben, den Motorwagen geführt.)

Von Dr. Ing. Walter Reichel.

Das Wort „Zeit ist Geld“ hat in dem Leben der Jetztzeit eine große Bedeutung erlangt. Mit der fortschreitenden Kultur und Schulung haben die Menschen sich allmählich daran gewöhnt, die Zeit aufs äußerste auszunutzen und mit Hilfe geeigneter Einrichtungen und Organisationen in wenigen Stunden Arbeiten zu bewältigen, zu denen früher vielleicht Tage nötig waren. Man überlege nur einmal, bis zu welcher Vervollkommnung heute schon die modernen Arbeitsmittel Telegraph, Telephon, Stenographie und Schreibmaschine, Photographie und Druckerei gelangt sind, und man wird übersehen, um wieviel rascher man heute arbeiten kann als vor hundert Jahren.

Es ist daher die Zeit viel kostbarer geworden, und überall ist das Bestreben darauf gerichtet, an der Zeit so viel als möglich zu sparen und die Mittel zu ihrer Ausnutzung zu verbessern.

Der Führerstand
Der Führerstand

Das gilt nun in erster Linie für die Schnelligkeit der Fortbewegung mit jeder Art von Verkehrsmitteln, sei es zum Ort der alltäglichen Tätigkeit, sei es zu einem entfernter gelegenen Reiseziel, wo eine vorübergehende Anwesenheit nötig ist. Wer jemals wiederholt größere geschäftliche Reisen gemacht hat, wird das Bedürfnis, schneller seinen Bestimmungsort zu erreichen, lebhaft empfunden und den Wunsch gehabt haben, mit größerer Geschwindigkeit zu fahren. Allerdings gibt es auch Leute, die behaupten, daß die jetzigen Geschwindigkeiten bis 100 Kilometer in der Stunde groß genug sind, da sie die Möglichkeit geben, von Berlin aus in einer Nacht im Schlafwagen nach allen Teilen Deutschlands, z. B. nach Köln, und in der nächsten Nacht zurückzugelangen, also gewissermaßen ohne Verlust an nutzbarer Zeit. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß auf die Dauer solche Nachtreisen die Gesundheit mehr angreifen, als eine wesentlich kürzere und bequemere Reise am Tage, z. B. eine etwa vierstündige Fahrt Berlin-Köln mit 160-170 Kilometer Fahrgeschwindigkeit.

Von solchen Gedanken waren einst (vor nunmehr vier Jahren) zwei unserer bedeutendsten Fachgenossen, die Herren Rathenau und Schwieger, bewegt, die sich zufällig auf der Reise von Berlin nach Mailand im Schlafwagen getroffen hatten und gegenseitig ihre Gedanken austauschten. Ein Wort gab das andere, und die zunächst harmlose Plauderei zeitigte in immer höherem Gedankenflug schließlich doch eine Vereinbarung von weittragender Bedeutung, nämlich die, in gemeinsamer Arbeit der beiden Firmen; Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft und Siemens & Halske A. G. eine elektrische Versuchsbahn zu bauen, die nicht weniger als 200 Kilometer in der Stunde fahren sollte, fürwahr ein herrliches Ziel für die deutsche Eisenbahntechnik.

Da hierzu die Unterstützung verschiedener Banken sowie anderer großer Industriefirmen und vor allem auch die Hilfe der hohen Behörden und der bedeutendsten Fachmänner notwendig schien, so wurde mit Hilfe der Deutschen Bank im Jahr 1899 eine „Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen“ gebildet. Gründer dieser Gesellschaft, deren Organisation von einem Dreimännerkomitee (Gwinner, Schwieger, Rathenau) ausgearbeitet wurde, sind außer den schon genannten Ausführungsfirmen A. E. G. und S. & H. folgende Banken und Industriefirmen; Deutsche Bank, Delbrück Leo & Co., Nationalbank, Jakob S. H. Stern, A. Borsig, Phil. Holzmann, Friedr. Krupp, v. d. Zypen und Charlier. Zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats dieser Gesellschaft wurde einstimmig Se. Exzellenz Herr Dr. Schulz, Präsident des Reichseisenbahnamts, gewählt, der das Amt im Interesse der Sache bereitwilligst übernahm. Zum Geschäftsführer wurde Herr Regierungsbaumeister Denninghoff ernannt. Ein technischer Ausschuß, in dem sich eine beträchtliche Summe hoher Intelligenz und wissenschaftlicher Erfahrung vereinigte, schuf sodann die technischen Grundlagen der Versuchsbahn, für die der Herr Kriegsminister in entgegenkommendster Weise die Strecke der Königlichen Militärbahn zur Verfügung stellte. Insbesondere fand ein Vorschlag des Herrn Wilhelm von Siemens, die Bahn mit Drehstrom von mindestens 10 000 Volt Spannung zu betreiben, wie es, entsprechend seiner Idee, bereits in Lichterfelde versucht war, die Zustimmung des technischen Ausschusses. Sodann wurde der A. E. G. und S. & H. die elektrische Ausrüstung je eines Wagens in Auftrag gegeben und der Wagenfabrik van der Zypen & Charlier Bau und Lieferung der Wagenkasten und Drehgestelle übertragen; die A. E. G. stellte unbedenklich das Elektrizitätswerk an der Oberspree zur Stromlieferung zur Verfügung, und S. & H. übernahm die Herstellung der Fahrleitungsanlage.

So war ein Plan geschaffen, der nach menschlicher Berechnung zum endlichen Erfolg führen mußte, wenn es auch noch nicht bei den ersten Versuchsfahrten im Herbst des Jahrs 1901 gelang, das Ziel zu erreichen. Denn bei diesen stellte sich heraus, daß zwar die elektrischen Einrichtungen einwandfrei arbeiteten, daß aber Geschwindigkeiten von über 150 Kilometer, wie vorauszusehen war, auf den etwas schwachen Oberbau der Militärbahn von 52 Kilogramm pro Meter schädlich einwirkten. Wenn der Siemenswagen trotzdem im ersten Versuchsjahr eine Geschwindigkeit von 160 Kilometern erreichte, so war das eine glückliche Ausnahme, die auf dem alten Oberbau zu wiederholen nicht verlockend war.

Motorwagen mit vierachsigem Drehgestell
Motorwagen mit vierachsigem Drehgestell

Erst die tatkräftige Unterstützung, die nunmehr im Laufe des Jahrs 1902 der Herr Eisenbahnminister Budde dem Unternehmen dadurch zuteil werden ließ, daß er einen vollständig neuen Oberbau leihweise zur Verfügung stellte, machte es möglich, an eine weitere Steigerung der Geschwindigkeiten zu denken. Nach dem Vorschlag des Herrn Geheimen Oberbaurat Zimmermann wurde ein Oberbau in folgender Weise geschaffen:

Auf einem starken Bett von gutem Basaltschotter wurden für jede 12 Meter lange Schiene je 18 kräftige hölzern Querschwellen gelegt, an denen die Fahrschienen von 42 Kilogramm Gewicht mittels Hartholzdübeln und Holzschrauben gut und unverrückbar befestigt wurden. Neben jeder eigentlicher Fahrschiene liegt auf Gußeisenböcken eine mit ihrem Fuß der Fahrschiene zugekehrte Führungsschiene, deren Vorhandensein etwaige Schlingerbewegungen der Drehgestelle im Entsteher verhindert und zur Versteifung des ganzen Oberbaus wesentlich beiträgt. Die Räder sind somit zwangsläufig geführt und können nur ganz geringe seitliche Bewegungen um wenige Millimeter machen. Der gesamte Oberbau einschließlich Kleineisenzeug und Schwellen wiegt nunmehr 500 Kilogramm für den laufenden Meter. War nun einerseits durch Schaffung eines widerstandsfähigen Oberbaus für einen gesicherten Gang des Fahrzeugs gesorgt worden, so stand man auch auf der andern Seite nicht still, sondern suchte die Wagen in bezug auf ruhigen Lauf zu verbessern. Dazu bedurfte es einer Aenderung der Drehgestelle der Wagen. Es wurde von der Studiengesellschaft und Siemens & Halske eine größere Anzahl Entwürfe von Drehgestellen dem technischen Ausschuß unterbreitet und darunter einer ausgewählt, der von den Herren Geh. Räten Lochner und von Borries ausgearbeitet war. Bei diesem sind besonders die bisherigen Erfahrungen an Lokomotiven verwertet, und vor allem ist der Radstand, der zuerst 3,8 Meter betrug, auf 5 Meter erhöht.

Das hiernach konstruierte Drehgestell besteht aus einem sehr kräftigen und doch verhältnismäßig leichten Blechrahmen, der auf lange elastische Blattfedern gesetzt ist. Sogenannte Ausgleichhebel verbinden diese untereinander und haben den Zweck, die beim Fahren entstehenden verschiedenen Federspannungen so auszugleichen, daß alle Achsen gleichmäßig arbeiten. Im übrigen sollte an den Wagen alles wie früher bleiben. Der Herbst des Jahres 1902 wurde dann zu den Konstruktionsarbeiten für vorstehende Verbesserungen am Wagen und Oberbau und ferner dazu benutzt, die genauen Ermittlungen des Kraftbedarfs usw. für die kleineren Geschwindigkeiten bis 130 Kilometer vorzunehnmen.

Das Ergebnis der vorgenommenen Verbesserungen zeigte sich nun in diesem Jahr bei den kürzlich vorgenommenen Fahrversuchen als ein überraschendes und sehr befriedigendes. Wie nach jeder Fahrt mit höherer Geschwindigkeit festgestellt wurde, leistet jetzt nicht nur das Gleis vollkommen den Beanspruchungen Widerstand, sondern es ist auch der Unterschied im Wauf des Wagens gegen früher ein sehr bedeutender. Während bei den Fahrten im Jahr 1901 von etwa 150 Kilometern ab unruhige, störende Bewegungen begannen und bei 160 Kilometern ein heftiges Schlingern eintrat, so daß allgemein behauptet wurde, der ganze Wagen schwinge hin und her, läuft nach Einbau der längeren Drehgestelle der Wagen jetzt mit einer geradezu erstaunlichen Ruhe und Sicherheit über das Gleis, wobei die Schienenstöße fast unfühlbar sind. Man ist beispielweise ganz gut imstande, im Mittelraum die Ziffern der Ablesungen an den Meßinstrumenten richtig zu schreiben. Die Ruhe der Fahrt ist namentlich für den Führenden von großer Annehmlichleit, da sie ihn von den Beobachtingen über den Lauf des Wagens entbindet, so daß er seine volle Aufmerksamkeit den zur Uebersicht der Fahrt erforderlichen Instrumenten zuwenden und die Strecke und die Signale sicher beobachten und erkennen kann. Das Gefühl, auf dem Fußboden sicher zu stehen – man sagt bekanntlich, der Lokomotivführer hat die Geschwindigkeit in den Beinen – und das Hören der normalen Geräusche können ihm vollständig genügen, um dauernd die Lauffähigkeit des Wagens zu beurteilen.

Um dem freundlichen Leser einen besseren Eindruck von einer solchen Fahrt zu geben, will ich im folgenden versuchen, meine Beobachtungen während der ersten im Siemenswagen mit der vollen Geschwindigkeit zurückgelegten Fahrt zu schildern.

Nachdem vor Antritt der Fahrt alle entsprechenden Vorkehrungen am Wagen getroffen sind, eine Bremsprobe gemacht ist und alle Teilnehmer den Wagen bestiegen haben, nachdem ferner der Wagen den einzelnen Militärposten, die auf der Strecke verteilt sind, vorgemeldet ist, wie es in der Signalsprache heißt, schalten wir die Spannung von 14 000 Volt ein, und der Wagen setzt sich brummend langsam in Bewegung. Wir verlassen die Ausgangsstation Marienfelde 9 Uhr 25 Min., noch einmal mit prüfendem Blick nach den Fahrleitungen ausschauend, die von dem ziemlich starken Gegenwind stark hin- und herbewegt werden. Während des Anfahrens wird die Stärke des elektrischen Stromes jedes der Motoren allmählich auf 350 Ampere gesteigert, d. i. die Leistung des ganzen Wagens auf etwa 2500 Kilowatt, entsprechend 2600 mechanischen Pferdestärken. Der Speisepunkt wird mit etwa 80 Kilometer Geschwindigkeit passiert. Nach etwa 2 Kilometer Fahrt zeigt der Geschwindigkeitsmesser eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern, einen Kilometer weiter, bei Lichtenrade, eine solche von 150 Kilometern, und wir nähern uns bereits mit der erheblichen Geschwindigkeit von etwa 170 bis 175 Kilometern der ersten Gleiskrümmung von 2000 Meter Radius vor der Station Mahlow. Bei der raschen Annäherung an die Krümmung scheint es, als ob an dieser Stelle die Gleise plötzlich einen scharfen Knick hätten, und dieser Anblick ist insofern etwas beunruhigend, als man glaubt, sich auf einen heftigen Stoß gefaßt machen zu müssen. Erst im letzten Augenblick, in unmittelbarster Nähe der Krümmung, bemerken wir zu unserer Beruhigung, daß der Knick nicht vorhanden ist, sondern daß an seiner Stelle eine sanfte Krümmung sich zeigt, in die der Wagen mit leichtem Schwung einläuft. Nach Verlassen der Krümmung erkennen wir, daß das etwa 1 ¼ Kilometer entfernte Signal auf freie Fahrt gestellt ist, und wir sausen die Steigung von 1 : 200, die im Vollbetrieb allein einen Mehraufwand von 300 Pferdestärken notwendig macht, mit unverminderter Geschwindigkeit hinauf. Die Fahrgeschwindigkeit nimmt weiter zu, und wir durchfahren die Haltestelle Mahlow der Militärbahn (7 Kilometer von Marienfelde) bereits mit einer Geschwindigkeit von 180 bis 185 Kilometern, über die mit besonderen Sicherungseinrichtungen versehenen Weichen ohne Stoß und mit voller Sicherheit dahingleitend. Es würde fast scheinen, als ob Gebäude, Leitungsmaste, Bäume vorbeifliegen und der Wagen stillsteht, wenn diese Vorstellung nicht durch das Geräusch des Räderrollens benommen würde. An dem Spannungszeiger ist zu sehen, daß die Stromabnehmer noch immer ruhig laufen, und es liegt deshalb kein Bedenken vor, die Geschwindigkeit weiter zu erhöhen. Die letzten Widerstandsstufen des Anlassers werden allmählich immer unter der gleichen Belastung von 2500 Kilowatt ausgeschaltet, und die Geschwindigkeit an dem Zeiger steigt über die bisher unerreichten Ziffern 190 und 195. An jedem Wegübergang hört man im Augenblick der Vorüberfahrt einen hellen, laut klingenden Ton, herrührend von den Bandagen, und sieht die etwa nußgroßen Steine hinterherwirbeln. Fürs erste ist die ungewöhnliche Geschwindigkeit verblüffend, denn man steht dem Gleis, auf welchem man dahineilt, in der Fahrrichtung sehr viel näher als auf einer Lokomotive. Infolgedessen scheint es zuerst, als verschlänge der Wagen buchstäblich die Strecke kilometerweise – den Kilometer in 18 Sekunden – aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und so dauert es nicht lange, bis neben dem Gefühl der Sicherheit und des Behagens, sich so rasch fortbewegt zu wissen, der Gedanke auftaucht, daß, ganz abgesehen von der Zweckmäßigkeit, es vielleicht möglich sein könnte, noch schneller zu fahren. Nachdem die Zahl 195 am Geschwindigkeitsmesser mit der vollen Schaltung des Wagens überschritten ist, steigert sich die Spannung der Gemüter, und es wird im Wagen stiller und stiller, man hört kaum noch ein Wort sprechen, und alles verfolgt aufgeregt den Zeiger des Geschwindigleitsmessers und die Strecke. Plötzlich sehen wir mitten auf dem Gleis in einer Entfernung von etwa achthundert Metern zwei Menschen stehn, die sich in aller Gemütsruhe über den zu erwartenden Schnellbahnwagen zu unterhalten scheinen.

Der nächste Griff ist nach der weithin hörbaren Signalpfeife, und man sieht die beiden, nachdem der Wagen bereits in größere Nähe gekommen ist, in hellem Schrecken auseinanderstieben. Ein wahres Glück, denn es wäre nicht mehr möglich gewesen, den 93 Tonnen schweren Wagen zum Stehen zu bringen, hierzu wäre ja ein Bremsweg von 1 ½ Kilometern notwendig gewesen, wobei auf die Laufflächen der Räder ein Bremsklotzdruck von im ganzen 200 000 Kilogramm auszuüben gewesen wäre. Wir sausen an der Haltestelle Dahlwitz mit voller Fahrgeschwindigkeit vorbei, Staub, Sand und groben Kies aufwirbelnd, und haben gerade noch Zeit, zu sehen, wie die dort aufgestellten Zuschauer in der Freude über den imposanten Anblick ihre Hüte schwenken, als plötzlich gegen die Glasscheiben des Führerstandes ein dröhnender Schlag erfolgt, etwa so wie ein starker Faustschlag auf eine Tischplatte. Doch das hat für uns nichts Bedenkliches, da wir wissen, daß dieser Schlag einem von uns überholten Vogel leider das Leben gekostet hat, für uns jedoch keine Gefahr mit sich bringt. Deshalb setzen wir unsern Weg unbekümmert fort, immer die Augen auf den Geschwindigkeitsmesser, der sich der Zahl 200 in höchst befriedigender Weise immer mehr und mehr nähert. Wir sind allerdings nur noch zwei Kilometer von Rangsdorf (14 Kilometer von Marienfelde) entfernt, und es ist bald Zeit, den Strom wieder abzuschalten. Wenn in diesem Augenblick die 4000-pferdige Maschine des Kraftwerks der Oberspree uns nicht auf die Beine hilft, können wir das heißersehnte Ziel nicht erreichen; aber die braven Ingenieure und Betriebsleiter dieses Kraftwerks lassen uns nicht im Stich und der Zeiger unseres Geschwindigkeitsmessers erreicht in der Nähe von Rangsdorf die Zahl 200, sie um ein weniges noch überschreitend. So legen wir den letzten Kilometer, der uns für die Fahrt zur Verfügung steht, mit der vollen Geschwindigkeit und der Kraft von 1400 Kilowatt bezw. 1600 Pferdekräften zurück, schalten etwa 500 Meter vor der Krümmung bei Rangsdorf den Strom aus und lassen die Bremse mit voller Gewalt arbeiten. Der Wagen vermindert seine Geschwindigkeit auf 165 Kilometer und nimmt die Kurve mit elegantem Schwung, wonach die Bremse wieder abgestellt wird und der Wagen stromlos, nur getrieben durch sein Beharrungsvermögen, den Weg bis Zossen fortsetzt. Wäre er nach dem Abschalten des Stroms nur durch das Beharrungsvermögen weiter getrieben worden, so würde er noch etwa weitere 50 Kilometer, natürlich mit immer mehr und mehr sich vermindernder Geschwindigkeit, zurückgelegt haben. Acht Minuten, nachdem wir unsere Ausgangsstation Marienfelde verlassen, haben wir die Haltestelle Zossen erreicht. Nunmehr drängt sich alles um den Morseapparat, der uns die schriftlichen Beweise für die Höhe der erreichten Geschwindigkeit noch zu geben hat. Der beobachtende Beamte kann sich kaum der ihn umdrängenden Köpfe erwehren, es gelingt ihm aber schließlich doch, die aufgezeichnete Geschwindigkeit mit Sicherheit festzustellen, die für den durchfahrenen Weg 200,8 Kilometer beträgt. Ueberall freudestrahlende Gesichter und ein allgemeines Händeschütteln. Selbst der greise Leiter der Versuche, Herr Geheimrat Lochner, kann sich der freudigsten Bewegung über das erreichte Ziel nicht enthalten, und Exzellenz Dr. Schulz begibt sich mit Herrn Oberstleutnant von Boehn und Herrn Major Friedrich beschleunigten Schrittes zum Telegraphenbureau, um Sr. Majestät dem Kaiser von dem glücklichen Erfolg sofort zuerst Kenntnis zu geben.

Es bleibt für uns nur noch festzustellen, ob der Wagen in allen Teilen vollständig in Ordnung ist. Die Untersuchung bringt das höchst befriedigende Ergebnis, daß das schmucke Fahrzeug seinen Dienst verrichtet und den enormen Beanspruchungen sich durchaus gewachsen gezeigt hat. Seine Stirn ist besät mit Mücken und Bienen und dergleichen fliegenden Tierchen, von denen es scheint, als ob sie mit dem Daumen auf den Scheiben oder dem Eisen festgedrückt wären, was ja bei dem beobachteten Luftdruck von 210 Kilogramm auf den Quadratmeter kein Wunder ist. Etwa 20 Minuten später tritt der Wagen seine Rückfahrt wieder an, nachdem die Teilnehmer der denkwürdigen Fahrt sich ihm von neuem anvertraut haben. Wenige Minuten später passieren wir die Station Dahlwitz, wo wir mit lautem Hurra und Hüteschwenken empfangen werden, nach dem inzwischen die Nachricht der Erreichung von 201 Kilometern auf telegraphischem Weg dahin gelangt war.

Ist nun zunächst die gestellte Aufgabe als gelöst zu betrachten, so drängt sich sofort die Frage auf, welche Aussichten damit für die Zukunft eröffnet werden. Eine zutreffende Antwort hierauf zu geben, dürfte schwierig sein. Weder ist es richtig, aus den Ergebnissen eine gänzliche Umwälzung des gesamten Eisenbahnwesens zu erwarten, noch auch den Versuchen nur eine wissenschaftliche Berechtigung zuzuerkennen. Beides ist Uebertreibung, und das Richtige liegt wie gewöhnlich in der Mitte. Der Beweis, daß Fahrgeschwindigkeiten bis 200 Kilometer in der Stunde erreichbar sind, wird zweifellos nicht ohne Einfluß auf die weitere Gestaltung des Eisenbahnbetriebes der ganzen Welt bleiben. Ob man aber bald Betriebe mit dieser Geschwindigkeit einrichten wird, ist deshalb noch fraglich, weil zunächst die Grenzen der überhaupt erreichbaren Geschwindigkeit unbekannt sind und man doch erst eine obere Grenze haben müßte, um Bahnen mit 200 Kilometergeschwindigkeit sicher zu betreiben. Freilich können die Grenzen der jetzt überhaupt erreichbaren Geschwindigkeit nicht mehr weit liegen. Denn trotz der außerordentlich sorgfältigen Ausbildung der Stromabnehmer beginnt bei 200 Kilometern der Kontakt an der oberirdischen Leitung bereits an Sicherheit etwas zu verlieren, namentlich in den Gleiskrümmungen, wo die Fahrleitungen polygonartig gezogen sind. Ferner ist der Kraftverbrauch von 1600 Pferdestärken für das Fahrzeug auf der Wagerechten ein so hoher, daß es mit Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit vielleicht nicht ratsam erscheint, Bahnen mit 200 Kilometergeschwindigkeit zu betreiben.

Aus diesen Gründen wird man sich fürs erste damit zufrieden geben, als höchste Geschwindigkeit 160-170 Kilometer, die mit voller Betriebssicherheit eingehalten werden können, zu wählen. Diese Geschwindigkeit würde beispielsweise genügen, um von Berlin nach Dresden, Halle oder Leipzig in einer Stunde, nach Hannover oder Hamburg in eineinhalb Stunden zu gelangen.

Natürlich würden nicht mehr wie bei den Versuchen Motorwagen allein verkehren, sondern es würden ganze Züge abgelassen werden, bestehend aus einem Motorwagen mit bis 4 Beiwagen, wie dies unsere Abbildung zeigt.

Zusammensetzung eines Schnellbahnzuges, bestehend aus einem Motor- und vier Beiwagen
Zusammensetzung eines Schnellbahnzuges, bestehend aus einem Motor- und vier Beiwagen

Ein überschläglicher Vergleich möge darlegen, wie sich in solchem Fall der Unterschied in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen dem elektrischen Betrieb und dem Dampfbetrieb stellen würde.

Ein Dampfzug, bestehend aus Dampflokomotive und 5 Beiwagen, wiegt 550 000 Kilogramm, enthält 168 Plätze und verbraucht 1400 Pferdekräfte bei voller Fahrt; der elektrische Zug, bestehend aus Motorwagen und 4 Beiwagen (vgl. Abbildung), wiegt 260 000 Kilogramm, enthält 180 Plätze und verbraucht 1000 Pferdekräfte. Die Anschaffungskosten beider Züge sind fast gleich und betragen rund 400 000 Mark. Die Betriebskosten für die reine Zugförderung belaufen sich für 100 Platzkilometer auf 51 Pfennig bei Dampfbetrieb und auf 49,5 Pfennig bei elektrischem Betrieb.

Was die Frage der Wirtschaftlichkeit angeht, so ist es mit dieser gar nicht so unsicher bestellt, wie viele von vornherein anzunehmen geneigt sind. Ein Beispiel gibt uns hierüber Aufschluß.

Auf einer Bahn von 150 Kilometer Länge, zum Beispiel Berlin-Leipzig, würden bei 18stündigem Betrieb und stündlicher Zugfolge in beiden Richtungen täglich 56 Züge verkehren und bei einer Besetzung von etwa 40 Prozent der Plätze (die Beiwagen werden je nach Bedarf angehängt) etwa 2500 Personen befördert werden. Rechnet man als Beförderungspreis für den Kilometer 6 Pfennig, das ist der jetzige Fahrpreis für die zweite Klasse, so ergibt sich eine Tageseinnahme von 22 500 Mark. Die Betriebskosten der reinen Zugförderung belaufen sich auf etwa 5000 Mark täglich; nimmt man die übrigen Betriebskosten, besonders jene für Bahnpersonal, Unterhaltung der Gleise, Haltestellen, Verwaltungskosten usw. zu täglich etwa 7600 Mark an, so betragen die gesamten Betriebskosten zusammen 12 600 Mark. Mithin bleiben noch 9900 Mark für eine Verzinsung des Anlagekapitals, das sind im Jahr rund 3 600 000 Mark, wovon ein Kapital von 90 Millionen mit 4 Prozent verzinst werden kann. Der Kilometer Bahnstrecke könnte also in diesem Fall einschließlich aller Einrichtungen 600 000 Mark kosten, womit sicherlich trotz der höheren Aufwendungen ein Auskommen zu finden ist.

Der zwar nur überschläglich aufgestellte Vergleich läßt dennoch erkennen, daß die Anlegung von Kapitalien für elektrische Schnellbahnen gerechtfertigt ist, sobald das zur Erzielung einer Wirtschaftlichkeit erforderliche Verkehrsbedürfnis vorhanden ist. Diese wiederum wird aber unter Umständen auch durch die Verkehrsgelegenheit erst geschaffen und wesentlich gesteigert, wie nicht zum wenigsten die Berliner Hoch- und Untergrundbahn beweist. Es werden daher Pläne und Unternehmungen, die dahin zielen, Schnellbahnen zu bauen, durchaus nicht von der Hand zu weisen, sondern recht wohl zu beachten sein, wenn es gelingt, für solche Schnellbahnen von den zuständigen Behörden längere Genehmigungsdauer zu erhalten.

Jedenfalls hat die deutsche Eisenbahntechnik und Elektrotechnik den ihnen gestellten Grundaufgaben sich gewachsen gezeigt und diese so gelöst, daß ihnen beruhigt die weitere Verwertung der gewonnenen Ergebnisse und der Bau einer größeren Schnellbahn anvertraut werden könnte. An unsern bedeutenderen Finanzfirmen ist es nun, die hierzu erforderlichen Kapitalien aufzubringen und sich die Errungenschaften der deutschen Industrie für Deutschland zu sichern. Hoffen wir, daß wir nicht bloß die Ehre gehabt haben, zu zeigen, daß „deutsche Tatkraft und Beharrlichkeit“ außergewöhnliche Aufgaben zu bewältigen vermögen, sondern daß es uns beschieden sein wird, nunmehr in der neuen Verkehrsentwickelung der ganzen Welt bahnbrechend voranzugehen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 42/1903 (am 17.10.1903).

Die Teilnehmer an den Versuchsfahrten Marienfelde-Zossen.

Ein Triumpf der deutschen Technik - Die Teilnehmer an den Versuchsfahrten der elektrischen Schnellbahn Marienfelde-Zossen
Ein Triumpf der deutschen Technik – Die Teilnehmer an den Versuchsfahrten der elektrischen Schnellbahn Marienfelde-Zossen

Nachdem im vorigen Heft eine berufene Feder unsere Leser in die technischen Geheimnisse der elektrischen Schnellbahn eingeweiht hat, veröffentlichen wir heute ein Bild, das die Teilnehmer der berühmten 201 Kilometerfahrt zeigt.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 43/1903.

Die elektrischen Schnellfahrten

Die elektrischen Schnellfahrten, die auf der Militärbahnlinie Marienfelde-Zossen seit längerer Zeit ausgeführt werden, haben die internationale Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und stellen eine großen Triumph der deutschen Industrie, Technik und Ingenieurkunst dar. Man hat bei den Versuchsfahrten bisher eine Schnelligkeit von 207 Kilometern in der Stunde erreicht, eine Leistung, die fast ans Wunderbare grenzt unsere Ingenieure aber zu immer größeren Anstrengungen anttreibt. Es ist einer der eigenartigsten Anblicke, die man überhaupt genießen kann, wenn man die elektrischen Wagen der Studiengesellschaft heranbrausen und an sich vorüberrasen lässt. Den hochsten Genuß jedoch gewährt die Teilnahme an einer solchen Fahrt: man glaubt tatsächlich über die Begriffe von Zeit und Entfernung erhaben zu sein. Daß von seiten der Behörden diesen Fahrten die größte Aufmerksamkeit gewidmet wird, liegt in der Natur der Sache. So nahmen vor wenigen Tagen die preußischen Minister des Krieges von Einem, der Minister der öffentlichen Arbeiten Exzellenz Budde und der Staatssekretär des Reichspostamts Exzellenz Kraetke an den Versuchsfahrten teil. Alle drei Herren ließen sich auf das Genaueste die Konstruktion der Schnellwagen selbst sowie den Bau des Gleises erklären.

Vom Besuch der Schnellbahn Marienfelde-Zossen durch die Minister und höheren Offiziere - Besichtigung des Unterbaus
Vom Besuch der Schnellbahn Marienfelde-Zossen durch die Minister und höheren Offiziere – Besichtigung des Unterbaus

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 48/1903.