Ausflüge in Belgien

Belgien, das demokratische Königreich zwischen Rhein und Seine mit seinem reichen Bestand an Kunstdenkmälern aus einer glanzvolleren Vergangenheit leidet trotz dieses glücklichen Besitzes bisweilen an den Eigenschaften der Durchgangsländer in den Strecken der grossen Verkehrslinien.

Der Strom der Reisenden, der sich aus den östlichen Ländern Mitteleuropas nach den westlichen, aus den südlichen Gebieten nach England ergiesst und durch Belgien fluthet, das Heer der Badegäste, welche im Sommer die flachen Ufer des belgischen Nordseestrandes beleben, sondern einen verhältnissmässig nur kleinen Theil von Besuchern der Kunstschätze des reichen Landes ab.

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Das Streben nach weiteren Zielen verhindert vielfach einen Aufenthalt unterwegs, zu dem es in den meisten Fällen eines besonderen Anlasses bedarf. Für die deutschen Architekten war dieser Anlass der diesjährige internationale Architekten-Kongress in Brüssel. Für einen zahlreichen und geschlossenen Besuch desselben zu wirken, hatte der Architekten- u. Ingenieur Verein für Niederrhein und Westfalen in Köln in sehr dankenswerther Weise beschlossen. Er unternahm es gleichzeitig, das Programm für die mit dem Kongress verbundenen Ausflüge durch den Besuch der bedeutendsten belgischen Städte erheblich zu erweitern und so den Theilnehmern des Ausflugs nach Belgien einen mit lebhafter Anerkennung entgegen genommenen seltenen Genuss zu bereiten.

Die Vorarbeiten für den Ausflug waren einem Festausschuss übertragen, welcher aus den Hrn. Arch. C. Kaaf, Ing. A. Unna und Arch. H. Siegert bestand. In unermüdlicher, anstrengender und entbehrungsreicher Thätigkeit gelang es den Hrn. Kaaf und Unna, ein Reiseprogramm zusammenzustellen , welches sich auch in den kleinsten Einzelheiten als fürsorglich, zuverlässig und wohlüberlegt erwies und in seiner Ausschliessung aller verstimmenden Zwischenfälle die etwa 60 Personen betragende Gruppe von Ausflüglern, zugleich unterstützt durch ein prächtiges Wetter, in andauernd bester Stimmung erhielt. Hr. Arch. Siegert hatte es übernommen, dem Reiseprogramm ein schönes künstlerisches Gewand zu verleihen. So fuhr man denn am frühen Morgen des 27. August unter strömendem Regen, aber erfüllt von den besten Hofifnungen, dem Wälschland entgegen. Kaum war die Grenze überschritten, begrüsste glänzender Sonnenschein die lebhafte Schaar der Ausflügler.

Der erste Halt wurde in Löwen (Leuven, Louvain), der alten Hauptstadt der Herzöge von Brabant an der Dyle gemacht. In zuvorkommender Weise von den Hrn. Architekten Tony Eul, J. Joos, Langerock, durch den Bildhauer Hrn. F. Vermeylen und Hrn. Archivar van Even empfangen, führte der Besuch der heute stillen, kaum 41 000 Köpfe zählenden, ehemals lebhaften, von mehr als 100 000 Einwohnern belebten belgischen Tuchmacherstadt zunächst zu dem unvergleichlichen Rathhaus, gleich einer Reihe anderer belgischer Rathhäuser ein Juwel architektonischer Filigranarbeit in Stein. In den Jahren 1447-1463 von Matthäus de Layens, einem Künstler errichtet, welcher in den Urkunden als „Maurermeister“ der Stadt bezeichnet wird, ist es in verhältnissmässiger Vollständigkeit auf uns gelangt und wird in seinen zerfallenen Theilen in vortrefflicher Weise ergänzt. Auf kleinem Grundriss baut sich das architektonische Prunkstück über einem schlichten Sockel in drei Geschossen in verschwenderisch reicher Gliederung auf und erweckte in mir viel mehr den Eindruck eines in riesige Verhältnisse übersetzten mittelalterlichen Reliquienschreines aus Edelmetall, denn den Eindruck eines Verwaltungs-Gebäudes, wenn auch aus einer Periode der Nachblüthe der ehrwürdigen Universitätsstadt.

Denn bemerkenswerth ist, dass dieses bezaubernde Architekturbild bereits in einer Periode erkennbaren Niederganges der Stadt errichtet wurde, dem zu steuern Herzog Johann IV. von Brabant im Jahre 1426 die Universität gründete, die im XVI. Jahrhundert die erste Europas mit 6000 Hörern war, aber heute auf 1900 Besucher herabgesunken ist.

Gegenüber dem Rathhause liegt die in den Jahren 1425-97 errichtete Peterskirche, eine reichgegliederte, leider sehr verfallene kreuzförmige Basilika mit Kapellen und Chorumgang. Die im Gange befindliche vortreffliche Wiederherstellung hat als Leiter für den architektonischen Theil den Architekten J. Joos, für den bildnerischen und ornamentalen Theil den Bildhauer J. Vermeylen. Auf die Kunstschätze des sehr edel gegliederten Innern einzugehen, gestattet der Raum nicht. Auf der Seite gegen das Rathhaus ist an die Kirche eine Reihe schmaler, zweigeschossiger Giebelhäuschen bescheidenen Maasstabes angeklebt. Wie man hört, sollen dieselben zur Freilegung der Kirche abgetragen werden, ein Unternehmen, das, falls es sich bewahrheitete, lebhaft bedauert werden müsste; denn die schmucken Häuschen mit ihren wenn auch gleichförmigen aber zierlichen Giebeln bilden mit den hochragenden Theilen der Kirche zusammen ein reizvolles Architekturbild, welches seine Wirkung hauptsächlich in dem Gegensatz der lebendigen gothischen Gliederung zu den Flächen der Renaissancehäuschen hat.

Nach der Besichtigung der Peterskirche und ihrer Umgebung ging die Wanderung durch einige Strassen ohne charakteristisches architektonisches Gepräge, aber mit um so charakteristischerem Leben und Treiben der zu Märkte gehenden Louvanisten zur Universität, heute nur noch ein Abglanz der einstigen Herrlichkeit, aber immer noch bedeutend genug, um im wissenschaftlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle zu spielen. Die Universität ist nicht in eigens für sie hergestellten Räumen eingerichtet, ihr wurden vielmehr im Jahre 1679 die für die Tuchmachergilde errichteten Hallen, in welchen die Tuchmacher ihre Erzeugnisse aufstapelten, überwiesen. Es sind deshalb nicht so sehr die Räume der Universität, als die in ihnen nach vielfachen Um- und Zubauten übrig gebliebenen Reste der Hallen, die unser vornehmstes Interesse erregen. Von den letzteren ist es insbesondere die Wandelhalle (Salle des Pas- Perdus), welche ein Bild der einstigen Schönheit der Bauanlage giebt. Sie ist eine stattliche, balkengedeckte Halle, welche durch ein System von ausserordentlich schön profilirten und gegliederten gothisirenden Backstein-Rundbögen auf runden Backsteinpfeilern mit achteckigem Fuss in zwei Schiffe getheilt ist. Im Grunde führen rechts und links breite Podesttreppen, im rechten Winkel gewendet, zu der berühmten Bibliothek empor, welche neben ihren 90 000 Binden 400 Handschriften, darunter zahlreiche kostbare Unica besitzt.

Das Büchermagazin ist ein grossartiger Raum, der durch seine schönen Holzarbeiten hervorragt. In seiner Gliederung, die den Stil der niederländischen Hochrenaissance trägt, findet sich jene Grösse, die wir bei den geistlichen und feudalen Bibliotheken der Barockzeit zu sehen gewohnt sind.

Damit schlossen die Besichtigungen in Löwen. Für die kurze Zeit, die noch bis zur Abfahrt nach Ostende verblieb, vereinigten sich die Ausflügler mit ihren liebenswürdigen Führern zu einem Mahle in dem schön geschmückten, grossräumigen Saale der „Table-Ronde“, wo Hr. Stübben den „artistes louvanistes“ in lebhaften Worten den Dank für die kundige Führung aussprach.

Bald mahnte das strenge Reiseprogramm zum unaufschieblichen Aufbruch nach Ostende. Die Reise dorthin durchquert das schöne Land in seiner vollen Ausdehnung und giebt einen Begriff von der ungemeinen Dichtigkeit der Besiedelung. Rechts und links abwechselnd stattliche Schlösser, Parks und Gärten, grüne Weiden und verhältnissmässig wenig Wald. Alles Land ist der Bodenkultur dienstbar gemacht, insbesondere die Blumenkultur bedeckt weite Flächen in der Nachbarschaft der Städte. Die Bedeutung der Blume im Haushalt des Niederländers wird klar, wenn man beim Durchfahren der Städte mit der Eisenbahn Gelegenheit hat, zu beobachten, wie auch das kleinste Häuschen von knapp 4-5 m Strassenfront und bescheidener Hofentwicklung an die Rückfassade angebaut ein verhältnissmässig stattliches Pflanzenhaus zeigt. Allenthalben wird das heute noch reiche Land von Kanälen durchzogen, die mit Frachtschiffen belebt sind. Unter dem schnellen Wechsel so reicher Landschaftsbilder; welche eine glänzende Sonne mit glühenden Farben übergoss, fand die Fahrt nach Ostende statt. Hier wurden die Ausflügler von den Hrn. Archit. Dujardin und dem Stadtbaumeister von Ostende empfangen. Die Stadt hatte in entgegenkommender Weise freien Zutritt zu den städtischen Gebäuden und insbesondere zum Kursaal gewährt. Nachdem dank der ins Einzelne gehenden Fürsorge des Ausflugskomitees bald die Stätte gefunden war, da man für die Nacht sein müdes Haupt niederzulegen gedachte, konnte man sich ohne Zögern der Besichtigung der Stadt und des Strandes mit dem Kursaal hingeben.

Der erste Eindruck der Stadt ist nach meiner Empfindung ein getheilter, unharmonischer. Das mag wohl in ihrer Entwicklung liegen. Erst seit dem Jahre 1865 ist das Welt-Seebad der Festungswerke entkleidet, welche es so stark einschlossen, dass es in den Jahren 1601-1604 eine Belagerung aushielt, die nur durch den Befehl der Generalstaaten an die Stadt, diese dem spanischen General Spinola zu übergeben, erfolgreich wurde. In der Mitte und am Ende des XVIII. Jahrhunderts war die Stadt im Besitze der Franzosen und so kommt es, dass sie starke Reste Louis seize und Empire zeigt. Die Niederlegung der Festungswerke war für das Seebad von der grössten Bedeutung. Seit 1865 wuchs es beständig und in demselben Maasse, wie das Erholungsbedürfniss in immer weitere Kreise drang, sodass heute z. B. die ganze belgische Küste in einem Stadium intensivster Entwicklung sich befindet. Mir ist eine belgische Veröffentlichung zu Gesicht gekommen, darin es heisst: „Unsere 12 Meilen Küste werden in 50 Jahren, wenn die Entwicklung der belgischen Badeorte so anhält, nur eine grosse Uferstrasse sein, die, mit Hotels und Villen, mit Kursälen und Restaurants besetzt, Holland mit Frankreich verbindet. In den Nächten der Saison wird eine ununterbrochene Reihe von elektrischen Lampen und von Gaslichtern den erstaunten Schiffer das ungeheure Kai, die belgische Küste anzeigen“,

Die Dinge sind im besten Werden. Dampfbahnen verbinden bereits nach Westen das 30 km entfernt gelegene Furnes mit den Unterwegsstationen Mariakerke und Middelkerke, nach Osten Blankenberghe. In Mariakerke soll sich eine Aktiengesellschaft zur Errichtung eines neuen Villenviertels und eines neuen Kursaales gebildet haben; zur Verbindung des kaum 5 km von Ostende entfernten Ortes ist die Anlage einer elektrischen Bahn beabsichtigt. Jenseits der Hafeneinfahrt von Ostende sollen auf Antrieb des Königs neue Bau-Unternehmungen entstehen. So ist noch alles im Bilden und Werden begriffen und dieser Status nascendi überträgt sich auch auf die älteren Theile der Stadt und setzt hier das elegante Neue gegen das oft verfallene und verwahrloste, selten interessante Alte. Daher kommt ein gewisser Charakter der Disharmonie. Hat man sich aber darüber mit Empfindung verständigt, so bietet Ostende sehr viel Anregendes.

Ueber die Anlage der Stadt an sich, eine Stadt mit etwa 31 000 Köpfen normaler Bevölkerung und 50 000 Kurgästen, ist wenig zu bemerken. Sie bildet ein mehr oder weniger regelmässiges Liniensystem von Strassen, die sich westlich an die Hafenanlagen anschliessen. Unterbrochen ist das Liniensystem durch einige alte Plätze, namentlich aber durch den Parc Leopold mit der Avenue Leopold, die in nördlicher Richtung unmittelbar auf den Kursaal führt. Der letztere wurde in den Jahren 1876 bis 1878 nach den Entwürfen der Architekten Lauwereins und Naert errichtet und darf in seiner eigenartigen, auf das Oval komponirten Gestalt als eine freilich heute etwas fremd gewordene, aber trotzdem beachtenswerthe Leistung ihrer Zeit betrachtet werden. Von stattlicher Raumwirkung ist der weiss gehaltene oder vielleicht mit Absicht weiss gelassene grosse Konzertsaal; denn gefüllt mit einem Parterre von duftigen, farbigen Damentoiletten lässt er, ohne eigene Farbe, diese zu weitaus wirksamerer Geltung kommen. Vielleicht also ist hier der eleganten Haute-Mondaine eine liebenswürdige Konzession gemacht.

Der Kursaal liegt an der mächtigen „Digue“, die sich in einer Breite von 18 m und in einer Länge von 1,5 km am Strande entlang zieht und mit eleganten Hotels und Restaurants besetzt ist; über letztere ist Besonderes nicht zu berichten, da sie wenig von den entsprechenden Grosstadteinrichtungen abweichende Eigenthümlichkeiten zeigen. Am Strande und an den zu ihm führenden Seitenstrassen liegen aber auch die eleganten Miethhäuser für je eine Familie. Es sind in der Regel 5-8 m breite Reihenhäuser, die sich in Erdgeschoss, zwei weiteren Geschossen und Giebelgeschoss erheben und auf das eleganteste ausgestattet sind. Die französischen Bestrebungen der art nouveau sieht man vielfach auf diese Häuser übertragen, die mit durchweg echtem Sandstein- oder Ziegelmaterial, oder aus einer Vermischung beider errichtet, nicht selten einen reizvollen Schmuck glasirter und gemalter Thonfliesen tragen. Das Erdgeschoss, über einen etwa 1,50-1,80 m hohen Sockel erhoben, ist mit der ganzen Fassadenfläche, welche der Eingang frei lässt, meist ohne Scheibe gegen die Strasse bezw. gegen das Meer geöffnet und der dem Vorübergehenden so gestattete Einblick in die der Geselligkeit dienenden Erdgeschossräume, die meistens nur aus einem Vorder- und einem Hinterraum bestehen, ist von grosser Anziehungskraft. Im Untergeschoss sind die Wirthschaftsräume, in den Obergeschossen die Schlafräume. Das Treppenhaus ist auf den kleinsten Raum beschränkt. Aehnliche Häuser finden sich auch in den übrigen Strassen der Stadt zerstreut, doch kommt hier, namentlich in freien Lagen, auch die eigentliche Villa zu ihrem Rechte. Der Stil der Häuser ist der französirende der Brüsseler Schule. Der französische Einfluss überhaupt verleiht der Stadt der Saison wie auch dem Badeleben seine Lokalfarbe. Ohne ihn aber wäre Ostende auch nicht die Königin der Nordseebäder.

Brügge (Bruges), die Hauptstadt von Westflandern und die Perle der niederländischen Städte, die Stadt der wunderbaren Madonna Michel-Angelo’s, lässt schon beim Einfahren in ihren schönen Bahnhof erkennen, dass man ein harmonisches Städtebild von hoher künstlerischer Bedeutung erwarten darf. Kaum 13 km von der Seeküste entfernt, ist sie, wenngleich mit dem Meere durch kleine Seekanäle verbunden, heute doch nicht mehr Seestadt wie ehemals, als sie mit der Hafenstadt Damme durch den Meeresarm Zwyn verbunden war und in ihrer Eigenschaft als Seestadt bis zum XV. Jahrhundert eine Periode mittelalterlicher Blüthe durchmachte, während welcher die heute kaum 53 000 Einwohner zählende Stadt mit ihren 11 000 Armen eine Bevölkerung von etwa 200 000 Köpfen zählte. Der schönen Stadt wieder ihren früheren Charakter zu verleihen und damit vielleicht auch den alten Glanz wiederzuerwecken, trägt man sich mit dem Gedanken der Anlage eines für die grössten Seeschiffe benutzbaren Seekanales von Brügge nach Heyst.

Das Gewerkschafthaus in Brügge

Der Bahnhof, in den Jahren 1879-1886 nach dem Entwurfe des Architekten J. Schadde von Antwerpen im gothischen Stile errichtet, ist eine würdige Vorhalle für die alten und neuen Bauten der Stadt. In wenigen Städten Belgiens wird die mittelalterliche Architektur mit einer solchen Frische und Treue der Empfindung erhalten oder neu geschaffen, wie in Brügge. In wenigen belgischen und nicht belgischen Städten wird mit solchem Eifer danach getrachtet, das alte Stadtbild zu erhalten und zu ergänzen, wie hier. Die „Societe nationale pour la protection des sites et des monuments de Belgique“, die „Nationalgesellschaft für den Schutz der Landschaften und der Denkmäler Belgiens“ mit dem Sitze in Brüssel und Namur erstreckt ihre Thätigkeit in reichem Maasse auf Brügge. Die Stadt selbst ist sich, beeinflusst durch künstlerische Kräfte ersten Ranges, ihrer historischen Pflichten bewusst. Ueberall da, wo die Verhältnisse dazu zwingen, ein historisches Bauwerk von künstlerischem Werthe zu ersetzen, ist die Stadt bereit, ein Drittel der Kosten zu tragen, wenn das Gebäude im alten Stile wieder errichtet wird. Das durch den Kostenbeitrag erworbene Recht der künstlerischen Berathung wird von dem Stadtbaumeister, Hrn. Arch. Oh. Dewult mit grosser künstlerischer Gewissenhaftigkeit geübt.

Das neue Postgebäude und das Palais des Gouverneurs in Brügge

Die Gothik herrscht weitaus in den Strassen der Stadt vor und zwar in alten Bauwerken, wie auch in neuen. Unsere Abbildungen geben ein anschauliches Bild davon. Ein hervorragend feinsinniger Vertreter dieses Stiles ist der Architekt de la Censerie. Von ihm wird augenblicklich das Gruuthuus, ein Bauwerk, dessen Errichtung in die Jahre 1465-1470 zurückreicht, in meisterhafter Weise wieder hergestellt. Das Gebäude ist im Jahre 1873 in das Eigenthum der Stadt übergegangen und wird nun von ihr zur Aufnahme der städtischen Alterthümer und kunstgewerblichen Sammlungen hergerichtet.

Am Gruuthuus, sowie an der grössten Mehrzahl der anderen gothischen und späteren Bauten Brügges, sowie überhaupt an Bauten des Mittelalters und der Renaissance kann man in den Niederlanden die Wahrnehmung machen, dass dort, wo Sandsteingliederungen mit Backstein zusammen verwendet sind, die ersteren eine verhältnissmässig kleine und zierliche Einzelbildung erhalten. Versuche, diese zierliche Gliederung, die auch Einfluss nimmt auf die Hauptabmessungen ganzer Architekturtheile, auf z. B. deutsche Verhältnisse zu übertragen, sind, so weit sie mir bekannt geworden sind, nach meinem Empfinden noch immer gescheitert und müssen so lange scheitern, als man sich nicht entschliesst, mit einer Einzelbildung im Sinne der niederländischen Gothik oder Renaissance auch das hier übliche kleinere Backsteinformat zu verwenden. Man kann keinen charakteristischen Bau in märkischer Gothik erstellen, ohne das im Vergleich zum Reichsmaass erheblich grössere altmärkische Backsteinmaass zu wählen und man kann keinen Bau in niederländischer Gothik oder Renaissance charakteristisch gestalten, ohne den zierlichen niederländischen Backstein zu verwenden. Die Maasse des letzteren werden bisweilen, namentlich in der Dicke, so weit herabgemindert, dass sie die Dicke eines Dachziegels nicht wesentlich überschreiten und dass bei breiter Fugenmauerung ähnlich wie das entsprechende römische Mauerwerk die Fuge breiter ist, als der Ziegel. Auf die Schönheit des Backsteinmateriales an sich, bezw. auf scharfe Kanten und eine glatte Oberfläche desselben wird, wie bei den alten märkischen Bauten, verhältnissmässig wenig Werth gelegt. Auch hier werden die Zufälligkeiten der Handbereitung der Gleichmässigkeit der Maschinenherstellung vorgezogen. Desto mehr Werth aber legt der Niederländer auf die vollendete Bearbeitung des Sandsteines, die denn auch allenthalben sehr hoch steht.

Es sind das einige allgemeine Bemerkungen aus einer Stadt, deren Schätze so reich sind, dass es unmöglich ist, aus einem kaum 2stündigen Aufenthalt, und werde derselbe auch in dem schnell rollenden und kundig geführten Wagen verbracht, mehr als eine nur flüchtige orientirende Uebersicht zu gewinnen. Ich darf denn auch von der Erwähnung von Einzelheiten absehen und bemerken, dass die Rundfahrt der Ausflügler sehr geschickt geleitet war, so dass sie trotz der Kürze der Zeit ein übersichtliches Bild über die heute etwas stille alte Seestadt darbot. Ihr Besuch sei jedem, der sie noch nicht kennt und der ein Gefühl für echte alte Kunst besitzt, warn ans Herz gelegt.

Um 9 25 Vormittags kamen die Ausflügler in Brügge an, um 11 21 ging es schon wieder nach Gent weiter. Hier wurden sie von den Hrn. Prof. de Waele von der Akademie in Gent, Timmermann, de Noyette und van Rysselbergh empfangen und zu Wagen durch die Stadt geleitet. Gent (Gand) ist eine dreimal soviel Einwohner zählende Stadt wie Brügge; ihre 158 000 Seelen rufen schon einen grosstädtischen Verkehr hervor, der sich im Strassenbilde und in den Strassenwänden wiederspiegelt. Es ist die Hauptstadt von Ostflandern und liegt an vier Flüssen: Schelde, Lei, Lieve und Moere um- und durchfliessen die Stadt mit zahlreichen Armen bezw. Kanälen. Die Hauptpunkte der Wagenfahrt waren das Stadthaus (s. Abbildg.), die Kathedrale von Saint-Bavon, die Kirche zum heil. Nikolas, das Schifferhaus (Maison des Bateliers), das Schloss der Herzöge von Brabant, das archäologische Museum, die Ruinen der Abtei von Bavon und der grosse Beguinenhof. Das Stadthaus ist eines der feinsten gothischen Architekturwerke Belgiens. Es stammt aus zwei verschiedenen Zeiten; seine graziöse gothische Nordfassade an der Hoogpoortstraat wurden in den Jahren 1518 bis 1533 von Dominicus van Waghemakere und Rombout Keldermans aus Mecheln, von welchen der erstere auch die Antwerpener Börse baute und letzterer am einstigen Palaste der Margarete von Oesterreich in Mecheln mitwirkte, errichtet. Im Jahre 1870 wurde sie zugleich mit dem gesammten sehr bedeutenden Innern von Viollet-le-Due im Verein mit dem Architekten Pauli wiederhergestellt. Aus dem Innern erregen die untere Eingangshalle und der obere holzgewölbte Ständesaal besonderes Interesse.

Das Rathaus von Gent (Gand)

Von stattlicher grosser Wirkung ist die Kathedrale von St. Bavon (Sint Baafs), deren Anfänge bis ins X. Jahrhundert zurückgehen. Eine Perle in ihr ist die Anbetung des makellosen Lammes von Hubert van Eyck. – Von angebauten Häusern umgeben ist die stark verfallene, mit einem sehr stattlichen Thurme ohne Helm ausgezeichnete Kirche zum heil, Nikolas. Sie ist die älteste Kirche von Gent und geht wie die Kathedrale gleichfalls in’s X. Jahrhundert zurück. Dem monumentalen Aeusseren steht das modernen Einflüssen unterworfene Innere nach.

Wieder eine Glanzleistung der belgischen Gothik ist das 1531 von der Schiffergilde errichtete Schifferhaus, eine dreigeschossige Anlage mit hohem, schön geschwungenem Giebel, der mit seinen grösseren Mauermassen auf den vollständig durchbrochenen drei unteren Geschossen ruht.

Das Schloss der Herzöge von Brabant ist eine umfangreiche, als Ruine verfallene Burganlage, von welcher bis jetzt nur die Wehrgänge wiederhergestellt sind. Ein halbwegs hergestellter Raum wird als derjenige der Elsa von Brabant bezeichnet.

Besondere Beachtung verdienen noch die Ruinen der Abtei von Bavon wegen der in ihnen erhaltenen schönen Architektur Ueberreste aus der romanischen und aus der Uebergangszeit.

Der Besuch des Beguinenhofes war insbesondere durch die Stille und Zurückgezogenheit, welche in dieser Stadt von künstlich aus dem Verkehr abgesonderten kleinen Häuschen herrscht, bemerkenswerth. Die Gelassenheit, mit welcher an dieser stillen Stätte die Ereignisse der Welt betrachtet werden, stand in einem fühlbaren Gegensatz zu der Reiseflucht der Ausflügler, welche eine zu frühe Stunde zur Abfahrt nach Brüssel wieder an den Bahnhof rief.

Ueber Brüssel kann ich mich kurz fassen. Die Schilderung der Stadt bildet einen Theil des anregenden Aufsatzes welchen J. Stübben bereits im Jahrg. 1880 dies. Zeitung veröffentlichte; ausserdem gehört die belgische Hauptstadt zu den vielbesuchten Städten Belgiens, sodass ich mich auch hier auf die Wiedergabe einiger allgemeiner Eindrücke beschränken darf.

Jeder Besucher der schönen Stadt wird diese in kurzer Zeit liebgewinnen; es tritt ihm in ihr eine Mischung französischer und germanischer Elemente entgegen, welche das etwas schwerfällige germanische Element beweglicher und graziöser macht, dem etwas leichteren und leicht beweglichen französischen Element aber eine gewisse Stabilität und Würde verleiht. Diese Mischung, der Anklang an Verwandtes und, mit diesem versetzt, die Gabe eines neuen, nicht verwandten aber gleichwohl willkommenen Elementes in der Auffassung des Lebens und dem, was mit ihm zusammenhängt, machen die Stadt dem deutschen Besucher so sympathisch.

Brüssel hat sich unzweifelhaft wesentlich verändert seit der Zeit, als Stübben seinen Aufsatz schrieb; ich hatte aber das Gefühl, als ob die Veränderungen nicht so sehr grundlegender, als ausgestaltender Natur seien. Nur auf zwei Anlagen sei daher zurückgegriffen: auf die vornehme Anlage des Quartier Nord-Est mit seinen, dem etwas abfallenden Gelände abgerungenen bemerkenswerthen Platzanlagen mit Springbrunnen und Teichen, und auf die Avenue Louise, die zum Bois de la Cambre führende stattliche Strasse – ähnlich dem Kurfürstendamm in Berlin, aber breiter, besetzt mit schönen Statuengruppen. Die Strasse ist noch nicht ganz ausgebaut und an manchen Punkten eröffnen sich noch Ausblicke auf vernachlässigte Stadttheile, die nicht zu dem grossen Charakter der Strasse passen. Doch ist nicht zu zweifeln, dass sich hier mit der Zeit „points de vue“ ergeben werden, welche die Wirkung der stattlichen Anlage wesentlich ergänzen. In das im Bebauungsplane freier gehaltene Quartier Nord-Est hat auch der Villenbau in unserem Sinne Eingang gefunden; im übrigen aber ist es bemerkenswerth, wie auch in den neuen Stadttheilen und neuen Strassenzügen der Stadt fast durchgehends das schmale Einfamilien-Reihenhaus vorherrscht. Man darf deshalb nicht annehmen, dass es ein in die Gewohnheit übergegangener Ueberrest der mittelalterlichen Vergangenheit der belgischen Städte ist, sondern da es unzweifelhaft schon im Bebauungsplane eine entsprechende Berücksichtigung bei Zuschnitt der einzelnen Baublöcke findet, so darf man es als das Ergebniss einer fortdauernden und verbesserten Lebensgewohnheit auffassen. Die durchschnittliche Breite dieser Einfamilien-Reihenhäuser beträgt selten mehr als 6-8 m; drei Fenster in der Front ist die übliche Zahl der Oeffnungen, 3 Stockwerke mit Giebel der übliche Aufbau. Im Untergeschoss befinden sich oft die Wirthschaftsräume, im Erdgeschoss die Empfangsräume, in den oberen Geschossen die Wohn-, Schlaf- und Dienstbotenräume. Die Architektur geht selten aus einem gewissen Schema heraus; wo das aber der Fall ist, da sind es durchweg beachtenswerthe Leistungen, über die zu berichten ist. Vielfach ist auch der Erker eingeführt, doch spielt er nicht die Rolle, wie beim deutschen Wohnhause. Als ein durch neue Gedanken bemerkenswerthes Wohnhaus der vorstehenden Art kann das Haus No. 37 der Rue Lebeau bezeichnet werden; in Zeitschriften finde ich ein diesem verwandtes Haus aus der Rue de Turin und hier ist als Architekt Horta angegeben; seiner Art ist auch das vorgenannte Haus. Beide zeigen eine Verbindung von Eisen mit Stein und zwar, und das ist das Bemerkenswerthe, den Versuch einer gegenseitigen Annäherung der beiden in ihren physischen Eigenschaften verschiedenen Materialien. Das wird beim Eisen – soweit ich erkennen konnte, durchweg Schmiedeisen – zu erreichen versucht durch eine einfachere Formengebung, in welcher bei schmückenden Füllungen z. B. die weiche runde oder anderweitig stark gebogene Linienführung in eine straffe, mit innewohnender federnder Kraft verwandelt wird, beim Stein aber dadurch, dass die starre gerade Linie wagrechter Gesimsgliederungen zugunsten einer leicht nach auswärts geschwungenen Linienführung verlassen wird. Sehr oft sind die Endigungen wagrechter Gliederungen beim Ausschnitt von Fensteröffnungen aufgebogen und volutenartig aufgerollt. Die eiserne Stütze wird der Naturform des Baumes derart nachzubilden versucht, dass die Basis als Wurzel ausgebildet wird, welche den unter ihr ruhenden Stein umfasst, während das Kapitell sich durch Ablösung seiner Blätter vom Stamme entwickelt. Es stehen sich also gegenüber eine künstlerische Behandlung des Eisens, welche dem geschmiedeten Ornament seinen spielenden, passiven Charakter nimmt und an seine Stelle einen ernsten, dynamischen Charakter setzt, der brutalen Konstruktion aber eine künstlerische Veredelung zu verleihen sucht, und eine Formengebung des Steines, welche diesem den spröden Charakter zu nehmen sucht, um an seine Stelle die Eigenschaft dehnbarer Formbarkeit zu setzen. Also gegenseitiges Entgegenkommen durch den Versuch formaler Umwandlungen der Materialeigenschatten. Es wird das nicht Jedem einleuchten wollen ; aber dem alten Grundsatze der Unantastbarkeit der Materialeigenschaft in der Formensprache steht ein moderner Grundsatz gegenüber, vom Material zu nehmen, was es hergiebt. Das aber ist eine der treibenden Kräfte der „art nouveau“, die Herrschaft über das Material bis zur – Vergewaltigung, würden die Vertreter alter Kunstanschauung sagen, bis zur widerspruchslosen Dienstbarkeit, sagen vielleicht die Neuen, denn Material ist doch immer nur Material, über dasselbe ist die Kunst durchaus souverän. –

Eine ähnliche interessante Verwendung und Durchbildung des Eisens wie bei diesen Einfamilienhäusern kann an einem Kaufhaus beobachtet werden, welches in dem Stadtviertel hinter der Kirche Notre Dame des Victoires errichtet wird und augenblicklich bis zum Aufschlagen des Daches vorgeschritten sein dürfte. Um den Uebergang von der senkrechten Stütze zum wagrechten Träger zu vermitteln, werden Rankenbildungen bezw. Abzweigungen aus dem Stamm der Stütze verwendet. Gegenüber dem bisher meistens beobachteten Vorgange der Anheftung von überleitenden Motiven von Aussen an die Konstruktion ist in diesen aus dem organischen Wachsthum der vegetabilischen Formenwelt entlehnten Motiven unzweifelhaft ein Fortschritt zur Verinnerlichung und Durchgeistigung des architektonischen Werkes zu erblicken. Auch an diesem Bau zeigt der harte Stein Formen, welche an die Metalltechnik erinnern und augenscheinlich das Bestreben verrathen, Stein und Eisen einander näher zu bringen, als dies bisher der Fall war.

Von den übrigen Eindrücken aus Brüssel sei noch in Kürze auf die Erzeugnisse der „art nouveau“ hingewiesen, welche von Frankreich aus nach Brüssel eingeführt wurden und wahrscheinlich zumtheil auch schon in Belgien selbst hergestellt werden. Auf dem keramischen Gebiete zeigen insbesondere Töpferwaaren und Glas, aus dem Materialgebiete des Holzes einzelne Möbelstücke unter Verwendung von Marmor, glasirten Fliesen, Metall, namentlich Messing, schönen Stoffen sehr eigenartige und ansprechende Ausbildungen. Ich darf gestehen, dass wo mir hier die „art nouveau“ entgegentrat, sie mir einen wesentlich intimeren Eindruck machte, wie z. B. in den unzweifelhaft sehr verdienstvollen Innenräumen der Dresdener Ausstellung. Den letzteren fehlte nicht nur nach meinem Gefühle die überzeugende Kraft behaglicher Wohnlichkeit.

Mit diesen allgemeinen Bemerkungen verlasse ich Brüssel und wende mich der benachbarten Gartenstadt Laeken zu. Die grossartigen Gewächshausanlagen waren hier das Ziel der Ausflügler. Sie zeigen bei einer architektonischen Durchbildung, welche erkennen lässt, dass überall der Versuch nicht unterlassen ist, die dem Nothwendigen entsprechende Konstruktion auch zu schmücken, eine Ausdehnung, welche ungefähr nach der Angabe bemessen werden kann, dass 47 Kessel zu ihrer Beheizung dienen; diesem Umfange gegenüber erscheint ein Dienst-Personal von nur 26 Köpfen bescheiden. Der bedeutendste Theil der Anlage ist das grosse Palmenhaus, das eine kreisrunde Gestalt mit beiderseitigen rechteckigen Verlängerungen besitzt. 36 dorische Steinsäulen tragen die innere Eisenkuppel, welche einen Durchmesser von etwa 40 m innerhalb der Säulen besitzt und im Zusammenhang mit den rechtwinkligen Anbauten eine ungemein stattliche Raumwirkung hat. Die Baulichkeiten sind nach den Plänen des verstorbenen Architekten Balat errichtet worden. Der Chef de Culture, Hr. L. van Obbergen, hatte in sehr liebenswürdiger Weise die Führung durch die umfangreichen Anlagen übernommen.

Eine Wanderung durch den das Schloss umgebenden herrlichen Park führte zu dem Denkmal des Königs Leopold I. auf der Höhe der Montagne du Tonnerre. Das im Jahre 1880 errichtete Denkmal ist ein stattlicher gothischer Baldachin- oder Thurmbau, unter welchem die Statue des Königs steht. Die Architektur hat viel Verdienstliches, wenn mir auch scheinen will, als ob zwischen Unterbau und Pyramide ein etwas unharmonisches Verhältniss besteht.

Jedem Besucher von Laeken fällt die merkwürdige Marienkirche auf. Das nach den Entwürfen des Erbauers des Justizpalastes in Brüssel, Poelaert, errichtete Gebäude ist aus Staatsmitteln und aus dem Ergebniss einer nationalen Sammlung erbaut. Im Inneren gut gegliedert, ist es im Aeusseren durch Umstände, die uns nicht bekannt geworden sind, vollkommen unvollendet geblieben. Die gewaltigen Werksteine sind ohne jede Bearbeitung mit dem Bossen versetzt, sodass das Bauwerk von aussen den Eindruck eines ungefügen Cyklopenwerkes macht. Der Chor ist als eine achtseitige, zentral angelegte Königsgruft ausgebildet, in welcher bereits eine Anzahl von Mitgliedern des belgischen Königshauses ruhen. –

Als ein Unternehmen des Kongresses fand der Ausflug nach der in Trümmer liegenden Cisterzienser-Abtei Villers-la-Ville statt. Die Abtei liegt an der Strecke Charleroi-Löwen; sie wurde 1147 gegründet und in der Revolutionszeit, 1796, so gründlich zerstört, dass von der umfangreichen Anlage nur die Kirche mit ihren schönen Systemen und einige andere Theile so erhalten sind, dass sie einen Rückschluss auf die einstige Grossartigkeit zulassen. Entsprechend der Geschichte der Abtei zeigen die Trümmer Ueberreste aus allen Bauperioden. Der beistehende skizzenhafte Grundriss giebt einen ungefähren Begriff über die Grösse und Gliederung der Anlage; die noch erhaltenen Theile sind schwarz, die zerstörten weiss gegeben. Der Architekt der Provinz Brabant, Hr. Prof. Ch. Lieot, hat die aus allen Jahrhunderten seit dem XII. Jahrhundert stammenden Ruinen zu seinem Sonderstudium gemacht und ist von der Regierung mit den Erhaltungsarbeiten des Bestehenden betraut. Bei dem Besuche haben wir auch Nachrichten vernommen, dass ein Wiederaufbau geplant sei. Wenn das zutrifft, so dürfte es sich wohl nur um die Kirche mit ihrer näheren Umgebung handeln können; denn das übrige ist zu sehr zerstört, um eine der Vergangenheit entsprechende Wiederherstellung zu ermöglichen, es sei denn, dass man darauf verzichtet und lediglich Neubauten für ein wieder einzurichtendes Kloster zu errichten vorhat.

Cisterzienser-Abtei – Villers-la-Ville

Zwischen der Ruhe dieser Ruinen und der ruhigen Gelassenheit, mit welcher das Leben in Mecheln (Malines) dahinfliesst, ist kein sehr grosser Unterschied. Auch Mecheln, heute 55 000 Einwohner zählend, ist eine Stadt mit einer reicheren Vergangenheit. Ihre Anlage ist kreisrund, wie viele der anderen belgischen Städte, von Wasserläufen um- und durchzogen. Wir betraten die Stadt durch die mittelalterliche Porte de Bruxelles, ein Ueberrest der ehemaligen Befestigung, welche 11 ähnliche enthielt, deren Ursprung bis in das 13. und 14. Jahrhundert zurückreicht. Einige dieser Thore wurden schon im XVI. Jahrhundert niedergelegt. Die Porte de Bruxelles besteht aus zwei starken Rundthürmen, zwischen welche die eigentliche Pforte eingezwängt ist. Wir lassen das Thor hinter uns, überschreiten den noch aus dem XIII. Jahrhundert stammenden „grand pont“, die grosse Brücke, und gelangen auf die Grand’ place mit der stolzen Cathedrale St. Rombaut. Schon weithin gewahrt man ihren stattlichen Thurm, der, obwohl unvollendet und ohne Pyramide geblieben, die ansehnliche Höhe von 98 m besitzt; ausgebaut würde er sich zu einer Höhe von 168 m erhoben haben. An ihm ist ohne weitere Unterlage das berühmte Zifferblatt von 13,7 m Durchmesser und etwa 41 m Umfang befestigt. Das Innere ist sehr edel und vornehm, leider in einzelnen Theilen entstellt durch spätere Zuthaten. Auf dem Rathhause befindet sich eine interessante Handzeichnung zu den „Hallen“, einer grossen gothischen Anlage, deren Ueberreste noch in dem von uns wiedergegebenen Bauwerke stecken, in welchem das städtische Museum untergebracht ist.

Die Hallen in Mecheln

Nach einem Blick in die aus der Barockzeit stammende, 1670-77 errichtete Peter-Paul-Kirche mit ihrer an gleichartige südliche Fassaden erinnernden Front betraten wir den Justizpalast, den ausgebauten und wiederhergestellten ehemaligen Palast der Margareta von Oesterreich, einen feinen Bau aus der Zeit des Ueberganges von der Spätgothik zur Renaissance. Er stammt von Rombout Keldermans aus Mecheln und Guyot de Beaugrant aus Frankreich; seine vortreffliche Wiederherstellung leitete der Architekt Blomme von Antwerpen. Unterwegs bemerken wir noch die köstlichen Häuser zum Salmen, Pavillon belge, La Grue, Concordia mit ihrer feinen spätgothischen Gliederung und treten noch zu kurzem Aufenthalt in das Palais Busleyden, im Jahre 1503 als Wohnsitz von Jeróme de Busleyden errichtet ein. Es ist im Jahre 1864 gleichfalls wieder hergestellt worden und dient heute als Wohlthätigkeits-Anstalt.

Und nun, last not least, Antwerpen! Was soll ich von der schönen, gewaltigen Handelsstadt an der Schelde, was von ihrem wunderbaren Rathhause, was von ihrem Dome, ihrem einzigen Museum Plantin sagen, was könnte ich von ihnen mittheilen, was nicht schon bekannt wäre und seit langem den alten Ruhm der Stadt des Rubens und des Quentin Massis begründet hat?

Das Museum der Steen in Antwerpen

Als die Kongressmitglieder den höchst dankbaren Ausflug machten, da war es ihnen auch viel mehr darum zu thun, die neuen Anlagen von Antwerpen, die grandiosen Neu-Einrichtungen des gewaltigen Hafens, die unter der Leitung des Hrn. Ing. van Bogaert unternommenen umfangreichen Eisenbahn-Umbauten, zu welchen der ausgezeichnete de la Censerie die architektonischen Entwürfe macht, zu besichtigen. Diese Bahnhofs-Umbauten sind im höchsten Grade beachtenswerth, sowohl nach konstruktiver wie auch nach künstlerischer Richtung. Daneben sind es die neuen Gebäude des Zoologischen Gartens von Emile Thielens; welche sich einer künstlerischen Durchbildung im Sinne der Einführung neuer konstruktiver und dekorativer Gedanken in die Architektur erfreuen, welcher man die hohe Achtung vor dem architektonischen Können ihres Urhebers nicht versagen kann. So bietet diese Metropole des Welthandels noch an vielen Punkten Gelegenheit zu aufrichtiger Bewunderung belgischer Thatkraft und belgischer Kunst.

Die Stadt lohnt in jeder Beziehung einen Besuch, weshalb wir uns auch hier nicht weiter über sie in unzulänglichen Worten verbreiten wollen.

Der Saal Leys im Rathhause zu Antwerpen

In Antwerpen sowohl, wo die Kongressisten durch die Vertreter der Stadt in dem herrlichen Rathhause auf das herzlichste willkommen geheissen wurden, wie auch in allen anderen belgischen Städten liessen es sich die Stadtvertretungen nicht nehmen, die Ausflügler in herzlicher Weise zu begrüssen, ihnen theilweise Willkommentrunk darzubieten und ihnen die öffentlichen Bauwerke nach Möglichkeit zugänglich zu machen. Hat so diese Bereitwilligkeit nicht den geringsten Theil zu dem schönen Gelingen des Ausfluges nach Belgien beigetragen, so darf doch dem Kölner Verein und – dem Himmel grosser Dank nicht vorenthalten werden.

Denn als man über die Grenze kam, regnete es wieder.

Dieser Artikel erschien zuerst am 20., 23. & 27.10.1897 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-H.-“.