Italienische Madonnen

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Hunderttausende von Jahren und Entwicklungsformen liegen zwischen der Amöbe und dem bis auf weiteres höchsten Ausdruck menschlicher Lebensform und menschlichen Gefühlslebens: der Mutter mit ihrem Kind im Arm.

Und es liegen Tausende von Jahren und Entwicklungsformen zwischen den frühesten Versuchen der Kunst, dies höchste Menschliche bildlich darzustellen, und dem künstlerisch vervollkommneten Ausdruck dieses Strebens.

Als Mutter, als die hervorbringende Kraft im Dasein gaben die Religionen dem weiblichen Element Anteil am Göttlichen, und als Götterbild zieht die Mutter in die Kunst ein. In einer Anzahl archaistischer Terrakottabilder von Frauen mit Kindern hat man zwar nur Votivbilder zu finden geglaubt, die denen in den heutigen katholischen Kirchen entsprechen. Aber es dürfte doch gewiß sein, daß man in den Bildern der Kurotrofos, der Kinder nährenden, die Urform der Madonna der christlichen Zeit vor sich hat; und das herrliche Standbild einer sitzenden Frau mit einem saugenden Kind im Vatikan zeigt, wie unmittelbar der Uebergang schließlich vor sich gehen konnte. Aber dieser Uebergang machte in der Kunst, gleich wie oft im Leben, einen Umweg. Die byzantinische Kunst, deren Abglanz uns noch in den Ikonen der russischen Kirche begegnet, gestaltete ihre Madonnen nach gegebenen Formeln, und ob man jene auf den alten farbenherrlichen Mosaiken, auf den Temperabildern oder auf den Emailarbeiten sehen mag, so machen sie doch stets den gleichen unpersönlichen Eindruck. Maria ist nur die Himmelskönigin, die ihren Sohn zur Anbetung darreicht, während kein Zug das Verhältnis der Mutter zum Kind verrät.

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Unter der Renaissance beginnt der Madonnatypus sich Schritt für Schritt vom byzantinischen Konbentionalismus frei zu machen. Eine der frühesten Durchbrechungen der konventionellen Madonnadarstellung ist – in der Mitte des 13. Jahrhunderts – Marcovaldos herrliche Madonna in einer von Sienas Kirchen. Das Kind sitzt auf einer zusammengerollten italienischen Seidendecke und greift mit seiner Hand in der Mutter dunkles Kopftuch. Die tiefernste Farbe stimmt hier überein mit der „nach innen gewandten Tragik“ des Madonnagesichts, ein Ausdruck, der jetzt ganz die Mutter offenbart. Man fühlt den Strom von Wärme, der von ihrem Herzen in die langen, schmalen und noch steifen Finger sich ergießt, die des Kindes kleinen Fuß umfassen.

Madonna. S. Bernado besuchend. Von Filippino Lippi. Badiakirche in Florenz
Madonna. S. Bernado besuchend. Von Filippino Lippi. Badiakirche in Florenz

Von dieser Zeit an geht die Kunst allmählich vorwärts zu der sinnlichgeistigen Einheit, die ihr großes Ziel ist. In einem Madonnabild nach dem andern kann man die kleinen Abstufungen verfolgen, durch die der Typus sich „vom Hieratisch-Uebernatürlichen zum Menschlichen, von der Strenge zur Milde, vom Steifen zum Seelenvollen“ entwickelt. So zeigen Guido von Sienas Madonnen immer noch das byzantinisch langgestreckte Gesichtsoval, den hohen Nasenrücken und die gesenkten Augenlider, unter denen aber der Blick von wahrer Zärtlichkeit leuchtet. Der Sienese Duccio und der Florentiner Cimabue entwickeln den Typus weiter durch ihre Madonnen, von denen man indessen die berühmte Madonna Rucellai in Maria Novella nicht mehr Cimabue zuzuschreiben beginnt. Auch dieses Bild stellt die Madonna wohl noch auf einem reichgeschnitzten Thronsessel sitzend dar, aber sie ist nicht mehr die Himmelskönigin, sondern nur die Mutter, die zärtlich auf ihr Kind niederblickt. Ein neuer Schritt vorwärts ist Simone Martinis (und Lippo Memmis) anmutige, goldstrahlende „Verkündigung“ in den Uffizien und vor allem die Vermenschlichung des Madonnatypus durch Giotto, der seinem Lehrer Cimabue weit vorauseilt. Man sehe z. B. seine Madonna in der Zwischenkirche zu Assisi, deren Gesichtstypus noch gewisse traditionelle Züge zeigt, wo aber doch der ganze Ausdruck verwandelt ist. Die sanfte Frau, deren weißes Tuch und hellblaue Kleidung eine wirkliche Gestalt umschließen, die sich ruhig und stark vom Goldgrund abhebt, beugt sich in lauschender Zärtlichkeit und bewundernder Ehrfurcht zu dem altklugen Kind auf ihrem Arm, das mit erhobenen Fingern eine tiefe Weisheit zu verkünden scheint. Immer öfter sieht man nun die Madonna, nicht mehr nur von einem Thronsessel herab das Kind zeigend sondern auch in mancherlei andern Stellungen: oft bei der Verkündigung oder auch beim Besuch und vor allem bei der Anbetung des Jesuskindes durch die Hirten oder die Könige. Aber der größte Schritt zur Verinnerlichung und Vermenschlichung des Madonnatypus wird gemacht, indem man beginnt, Maria in der verehrungswürdigen und einfachen Handlung darzustellen, in der sie dem Kind die Brust reicht. Damals wie heute konnten die Künstler in den italienischen Kirchen, gleichwie überall außerhalb derselben, lebende Vorbilder zu diesen nährenden Madonnen finden, und man sieht, daß sie diese auch frühzeitig benutzt haben.

Obwohl der frühere Gesichtstypus beibehalten ist, wie menschlich zart ist nicht bereits der Ausdruck bei der Madonna Ambrogio Lorenzettis in einer der Kirchen Sienas. Ein wenig unruhig und hold erfreut sieht Maria auf das lockige, großäugige und tiefsinnige Kind nieder, das zwar die Brust genommen hat, aber durch seinen nach außen gewandten Kopf zeigt, daß es bis auf weiteres mit seiner wichtigen Beschäftigung nicht Ernst machen will – ein Motiv, das man unter anderm bei der Madonna Litta in Petersburg wiederfindet.

Es ist die allerfrüheste, noch erst in der Luft fühlbare, irdisch unwirkliche Frühlingsstimmung, die uns dann bei Fra Angelicos Madonnen begegnet. Wenn man die unkörperliche, gar nicht erstaunte, sondern nur demütig sich beugende Jungfrau vor dem ebenso unkörperlichen Engel mit seinen pfauenfederschimmernden Flügeln auf der „Verkündigung“ in San Marco zu Venedig sieht und sich dann einer andern Verkündigung von der gleichen Zeit, der Filippo Lippis in der Domkirche zu Spoleto erinnert, so erhält man einen starken Eindruck von der reichen Mannigfaltigkeit, die verschiedene Künstlertemperamente den fünf oder sechs von ihnen ins Unendliche wiederholten Motiven zu geben wußten. Filippo Lippis Maria sitzt gleich einer jungen Königstochter in einem Prunkgemach und lauscht dem knienden Engelsjüngling, dessen Flügel die Zeit völlig verwischt hat und der deshalb einem jungen Pagen gleicht, der für seine Herrin eine heimliche Liebe hegt. Bei Fra Angelico dagegen sind die Farben der Engelsflügel und die wohlbeobachteten Blumen des Grasbodens das einzige, was an die Erde erinnert; und es ist nur der Wind des Himmels, der die weiten Gewänder bewegt, unter denen die musizierenden Engel mit stiller Würde ihre Füße im paradiesischen Festzug oder Reigen rühren. Sie bewegen sich sittsam und haben nichts von der Macht und Herrlichkeit zum Beispiel von Cimabues hoheitsvollen Engeln in Assisi, die ihre weißen Flügel in das Gold und den Purpur des Abendrots oder in Feuer und Blut getaucht zu haben scheinen; noch auch gleichen sie Filippo Lippis sommerseligen, gleich blumigen Fluren schimmernden Engeln, z. B. denen im Dom zu Spoleto.

In der Malerei wie in der Bildhauerkunst tritt nun immer mehr der persönliche Lebensinhalt hervor. Das blonde und liebliche Weib, das von Lilien und Engeln umgeben, auf Fra Filippo Lippis Bildern Madonna genannt wird, heißt in Wirklichkeit Lucia und ist die Nonne, das „kleine, lilienweiße Wesen“, das des mönchischen Malers Geliebte und die Mutter seines Sohnes wurde. Es ist dies der gleiche Typus, der anfänglich auch in seines Schülers Botticelli Bildern wiederkehrt, bis dieser sein eigenes Madonnaideal geschaffen hat. Von den bedeutendsten Madonnen Botticellis, wie von denen Ghirlandajos und Filippino Lippis kann man das Wort gebrauchen, das Oskar Levertin über jene des Niederländers Memling gesagt hat: daß Gottes Liebe durch deren Wesen ging, wie ein Sonnenstrahl durch eine Glasscheibe geht, und daß sie, seitdem sie das Wunder lebendig werden ließen, „nun alles und alle mit himmlischer Zerstreutheit betrachten“.

Madonna mit dem Jesuskind. Von Ambrogio Lorenzetti. Kirche S. Fancesco in Siena
Madonna mit dem Jesuskind. Von Ambrogio Lorenzetti. Kirche S. Fancesco in Siena

Obgleich nun vollkommen körperlich, sind diese Madonnen des 15. Jahrhunderts doch vor allem seelenvoll und immer noch von holder Einfalt. Ihre Schönheit hat ganz das Gepräge des Vorsommers; eine Fülle, die noch nicht reif, die jungfräulich ist in ihrer keuschen Zartheit, während dagegen der Ausdruck die tiefe Zärtlichkeit des vollerwachten Muttergefühls hat. Niemals vorher und niemals später hat der Madonnatypus das Himmlische und das Irdische, die Jungfrau und die Mutter, das unbewußt Unschuldsvolle und die Bewußtheit der Seligkeit und des Schmerzes so miteinander verschmolzen. Man sehe nur Filippo Lippis von Engeln – langlockigen italienischen Knaben – umgebene Madonna, die zu dem im Wald lesenden St. Bernhard kommt und ihre lange schmale Hand auf sein Buch legt. Sie sieht aus als wanderte sie nach einer Krankheit zum erstenmal in die freie Luft. Durchscheinend bleich und sanft, neigt sich der schneeglockengleiche Kopf auf dem feinen Hals, und die wankende Gestalt scheint gestützt und geführt von den vier wunderbaren Engelsknaben, die sich dicht an sie schmiegen.

Im Gegensatz zu diesen florentinischen Madonnen stehen Mantegnas stattliche und schöne, thronende oder Siegermadonnen, in denen man die antike Formfestigkeit und Fülle in der Gestaltung bewundert, aber die florentinische Fülle von ahnungsreicher und sehnsuchtsweicher Schönheit vermißt. Mehr als alle die mächtigen Madonnen Mantegnas liebe ich sein kleines, einfaches Bild in Mailand, auf dem Maria des schlafenden Kindes schweren, runden Kopf stützt und seine Wangen leicht drückt, so daß sich der Mund öffnet, ein Bild aus der Kinderstube von vollendetem Realismus, während das zärtlich über das Kind geneigte Haupt der Mutter von einer edlen, ernsten Schönheit mit dem Gepräge einer tiefen Wehmut ist.

Der Schönheitsbegriff ändert sich jetzt unter dem Einfluß des Wirklichkeitseindrucks. Das Seelenvolle und Zarte fesselt nun minder, als das körperlich Volle und Mächtige. Die religiösen Gemälde werden Vorwände, um die volle, frische, irdische Schönheit der Frauen jener Zeit und die Pracht zu verherrlichen, die sie unter der Festesfreude der Renaissance entwickelten. Dies ist der ganze Inhalt von Tizians unzähligen Madonnenbildern, von denen nicht eins Andacht oder Ahnung erweckt, aber fast alle durch sinnliche Herrlichkeit hinreißen. Was die Künstler malen, sind ihre Geliebten, ihre Gattinnen. In Andrea del Sartos sämtlichen Bildern der Madonna mit den roten, halbgeöffneten und feuchten Lippen, dem Schatten des dunklen Haares über der niedrigen, kinderweißen Stirn, den schwarzen, sammetweichen Augen und der warmen, blassen Haut – offenbart sich die blutsaugende Liebe zu seiner Frau, jener Lucrezia, die der Sage nach seine Schaffenskraft auspresste, um die Mittel zur Stillung einer seelenlosen Genußsucht zu erhalten.

Thronende Madonna. Von Giorgione. Kirche in Castelfranco
Thronende Madonna. Von Giorgione. Kirche in Castelfranco

Diese späteren Madonnen scheinen oft das Kind von einem Busch gepflückt u haben oder es mit der Unbeholfenheit eines unerfahrenen Mädchens anzufassen. Daß so manche der Madonnen dieser Zeit doch den Eindruck edler Hoheit machen, beruht weniger auf der Andacht des Malers als auf den körperlich vollkommenen Gestalten, die der italienische Stamm damals noch darbot und deren große und stolze Schönheit die abnehmende Innerlichkeit ersetzen. Dies ist vor allem der Fall bei Bellinis herrlichen Madonnen, insbesondere bei jener in der Akademie zu Venedig, wo ein kraftvoller St. Georg und ein gedankenvoller Paulus zu beiden Seiten einer Madonna stehen, die ebenso vollkommen schön wie bewußt stolz ist. Nicht gebeugt und anbetend, sondern liliengerade und hoch getragenen Hauptes sieht sie mit siegesseligen und doch zärtlich milden Blicken in die Welt hinaus und hält ihr herrliches Kind stehend vor sich, gleich als ob sie dieses und sich selbst zur vollen Höhe emporrichten wollte: ein Bild vollen und frischen, aber durch das Bewußtsein eines Ausnahmegeschicks erhöhten irdischen Mutterglückes.

In erhabener Einsamkeit aber thront die Madonna, die mir als der Höhepunkt der Madonnenmalerei der venetianischen Schule erscheint, Giorgiones Bild in der Kirche zu Castelfranco, des Meisters schöne Geburtsstadt am Fuß der venetianischen Alpen. Diese Madonna sitzt unter einem Baldachin und so hoch, daß der junge ritterliche Heilige, auf der einen und der alte mönchische Heilige auf der andern Seite nicht einmal den Fuß ihres Throns erreichen. Während das Kind sich hinab streckt, um den Ritter anzuschauen, blickt die Mutter nur nach innen. Jeder Versuch, diesen einwärtsgewandten, traumerfüllten und geschlossenen Ausdruck zu schildern, wäre ebenso vergebens, wie wenn man mit Worten eine Ahnung zu geben versuchte von der geschmeidigen, mädchen-schlanken und doch festen und vollen Gestalt, die sich unter den „gleich edlen Tonwellen fließenden Falten“ der blaugrünen und venetianischroten Tracht zeichnet, oder von dem feinen, schmalen und doch weichgerundeten Gesicht, aus dem nachtschwarze Augen unter halbgesenkten Lidern blicken, während der kleine Mund sich fest zusammenschlließt und das leicht gespaltene Kinn den gleichen Eindruck stiller Stärke giebt. Eine dunkle Haarwoge, die unter dem Kopftuch hervorquillt, wirft einen leichten Schatten über das matte Weiß der Stirne. Die Schönheit des zum erstenmal Mutter gewordenen jungen Weibes, die Schönheit des Menschensommers in dessen volllommenstem, schnell vergehendem, höchstem Augenblick hat hier einen einzig dastehenden Ausdruck gefunden.

Dagegen sagen mir Rafaels Madonnen leider nichts, mit Ausnahme der „Madonna del Granduca“ in den Uffizien, die davon erzählt, daß das junge Mädchen, das das Kind hält, durchaus nicht dessen Mutter ist, während dagegen das seelenvolle Kind, das sie auf dem Arm trägt, in ihr die Ahnung des Glücks der Mutterschaft erweckt. Und dann natürlich die Sixtinische Madonna. Aber in Bezug auf sie hat schon von Jugend auf teils ein alter Holzschnitt, teils eine warme Schilderung meines Vaters mich jedes objektiven Urteilsvermögens beraubt. Das Gesicht der Madonna mit den tiefen, sich gleichsam nach innen erweiternden Augen und der noch wunderbarere Blick des Kindes wirken gleich bezaubernd, so oft ich das Bild sehe.

Während Rafaels Frauen selten viel geistigen Gehalt haben, sind dagegen die meisten derjenigen Leonardos so inhaltreich, daß ein jeder in sie hineindichten kann, was er darinnen zu finden wünscht. Dies gilt auch von seinen Madonnen. Das fesselndste aller seiner Gemälde, deren Vorwurf die Madonna ist, scheint mir jenes Bild zu sein, das vermutlich 1501 für die Serviten in Florenz begonnen wurde und die ganze Stadt nach deren Kloster wallfahrten ließ, als es dort als Karton ausgestellt ward. Denn man glaubt, daß es das später nach Frankreich mitgenommene und dort teilweise, aber niemals ganz vollendete Gemälde ist, das jetzt unter dem Namen „St. Anna Selbdritt“ im Louvre ins mit seinen lichten, milden Farbentönen, seiner blaudämmernden Berglandschaft, vor allem aber durch den Ausdruck in St. Annas Gesicht entzückt, jenen Ausdruck, der, unergründlich vertieft, des Künstlers „Mona Lisa“ zu einem ewigen Rätsel macht. St. Anna sitzt in der erwähnten Landschaft, ebenso wie bei „Mona Lisa“, und hat auf ihren Knien ihre Tochter, die das Jesuskind hält, das seinerseits ein ihm entfliehendes Lämmchen zu halten sucht. Die ganze Bewegung wie alle Einzelheiten in dieser festgeschlossenen Komposition sind von Leonardo bis ins Unendliche studiert worden. Ueber St. Annas Antlitz schwebt, wie gesagt, bereits etwas von dem Lächeln Mona Lisas, jenes Lächeln, das Morelli treffend „das Lächeln des inneren Glückes“ genannt hat. Sah Leonardo dieses Lächeln wirklich auf Frauenlippen, oder quoll es aus seiner eigenen Seele hervor?

Wie dem auch sein möge, dieses Lächeln und das großwellige, dunkelblonde Haar sind die ganz besonderen Zeichen des lombardischen Madonnatypus geworden. Sie begegnen uns bei Boltraffio, Leonardos vornehmem und eigenartigem Schüler, unter dessen Werken zu Mailand sich eine Madonna mit einem wunderbar seelenvollem Kind auf dem Schoß befindet. Sie hält es mit einer Binde um die Mitte fest, während es sich vorstreckt, um von dem prächtigen blauen Brokatkleid der Mutter eine Lilie zu pflücken, die es für lebend hält – wieder eins der Madonnabilder, auf denen man sieht, wie eine anmutige Wirklichkeit unmittelbar in ein Bild übergegangen ist. Bleicher, aber immer noch ebenso hold begegnet uns das versprechungsreiche Lächeln bei Luinis Madonnen. Mitten unter der Veräußerlichung des 16. Jahrhunderts bewahrte er viel von des 15. Jahrhunderts ernster und ungesuchter Naivität. Diese bezaubert vor allem in den anmutigen Fresken zu Sarenno, auf denen Ochse und Esel nachdenklich auf das schöne, sinnende und doch nicht altkluge Jesuskind niederschauen.

Madonna mit dem Kind. Von Boltraffio. Museum Poldi-Pezzoli in Mailand
Madonna mit dem Kind. Von Boltraffio. Museum Poldi-Pezzoli in Mailand

Mit Luini scheint mir der religiöse Ernst zu Ende zu gehen. Schwellende Draperien und gesuchte Stellungen offenbaren die innere Leere unter den großen Gebärden. Der einzige Madonnatypus, der noch Freude bereitet, ist der der venetianischen Schule, durch deren freie Verherrlichung der vollblütigen weiblichen Schönheit, sowie derjenige Coreggios, dessen irdische Madonnenanmut von der entzückten Mutterfreude veredelt wird, die die zarte Röte über das perlmatte Weiß des Gesichts jagt, mit einem holden Lächeln die unregelmäßigen, beweglichen Zuge erleuchtet und über die gewölbte, von kastanienbraunen Haarwellen umrahmte Stirn den Ernst der jungen Mutterwürde legt.

Außerhalb des Gebiets aller andern Madonnatypen, hoch über seinem Zeitalter und alle Zeiten umfassend steht der Madonnatypus Michel Angelos, wie er ihn in einem Standbild der Maria mit dem Kind an der Brust geschaffen hat das sich in der Mediceerkapelle zu Florenz befinden Die meisten Besucher derselben bleiben zuerst und am längsten vor „Nacht und Tag“, „Abend und Morgendämmerung“ stehen. Mein erster und letzter Blick galt allezeit dieser Madonna, die trotz ihrer gewaltigen Gestalt ein allzu zarter Stamm für die schwere Frucht zu sein scheint, die sie trägt. Mit der einen Hand stützt sie sich selbst, mit der andern das starke Kind, das sie an ihrer Brust hat. sie selbst ist weit von dem Gegenwärtigen entfernt. Ihr Ausdruck hat mir mehr als irgendeine andere Kunstschöpfung offenbart, daß das tiefste Pathos der Madonna eben das der Menschheit ist daß die „nach innen gewandte Tragik“, die sie für sich ahnt, die aller ist – jene Tragik, daß die Seligkeit, für die wir unser Leben geben, zugleich unser Untergang wird. Was seine Trauer über dieses Frauenantlitz breitet, ist nicht allein das eigene Geschick, sondern die Ahnung des Menschenschicksals; es ist aller Geschlechter geheimstes und höchstes Weh, was sein Siegel auf diese geschlossenen Lippen, diese schwermütige Stirn, diese seelenvollen Schläfen drückt, was den langschmalen Hals beugt und über die Augenwölbung Todesmüdigkeit legt. Lieben, um zu opfern, gebären, um beraubt zu werden, dem Göttlichen das Leben geben, um es von der Welt gekreuzigt zu sehen – das ist das große Menschenschicksal. Darum werden die Mater Dolorosa und ihr gekreuzigter Sohn die ewigen Urbilder der tiefsten Tragik unseres Geschlechts sein, während die jungfräuliche Mutter mit ihrem göttlichen Kind das Symbol des Ewigweiblichen in dessen heiligster Gestalt bleibt. Michel Angelo – einsam hierin, wie überall – hat beide Symbole in einer einzigen Gestalt vereinigt.

Die künstlerischen Darstellungen von Maria mit dem Kind, die uns die neuere Kunst gegeben hat, sind weit von der Hoheit entfernt, die die Kunst der Renaissance – vor allem jene Italiens – umstrahlt, obwohl auch nördlich der Alpen van Eyck, Quintin Matsys, Stefan Lochner, Holbein, Memling und andere dem Madonnatypus die germanische Innigkeit gaben, wenn auch oft ohne die Ausdrucksfülle der Schönheit, die die italienischen Madonnen an sinnlich-seelenvoller Vollkommenheit unerreicht macht. Die spanischen Maler, insbesondere Murillo, haben, wo sie das Höchste erreichten, ihren Madonnen die Hoheit der Verzückung gegeben. Rembrandt allein vermochte über die einfachste Alltagswirklichkeit die Verklärung der Andacht auszubreiten, vor allem in dem großen Wunder der Kunst, das man die „Zimmermannsfamilie“ nennt (in der Eremitage zu Petersburg), auf dem man nur eine junge, einfache, lesende Handwerkerfrau sieht, die mit einer Hand die Decke um ein schlafendes Kind wickelt, während längs dem auf die Treppe fallenden Lichtstrahl behutsam Engel hereingleiten, um das Kind zu beschauen. Wird die Kunst jemals mehr vermögen, im gleichen Maß wie hier, das Einfache groß zu machen?

Vielleicht, falls die Menschheit einmal von der gleichen religiösen Andacht vor den großen irdischen Wirklichkeiten des Menschenlebens ergriffen wird, die sie vordem für die in den Lehren der Religion krystallisierten geistigen Erfahrungen besessen hat, und dann vor allem für des Lebens heiligste Wirklichkeit, die Mutter, die durch das Kind in ihrem Arm dem Geschlecht ein neues Leben giebt, ein neues Glied in der unendlichen Kette der Entwicklung, die der Menschheit stets neue Helden und Märtyrer, neue Kämpfer und Sieger schafft.

Aber wird das Frauengeschlecht, das sich jetzt auf so manchen unsicheren Wegen vorwärts tastet, wirklich aufs neue durchdrungen werden von der Andacht für den Beruf, der in der Mariaverehrung sein großes Symbol hat? Werden alle die Frauen, die jetzt des kinderlosen Weibes Vorzug preisen, aufs neue einsehen lernen, daß es die heiligste Handlung des Weibes ist, mit den Säften der Mutterbrust und den Kräften des Mutterherzens die Zukunft zu nähren, und daß die Frau, die diese Handlung groß und schön vollbringt, des weiblichen Wesens höchste Offenbarung ist?

Dieser Artikel von Ellen Key erschien zuerst in Die Woche 51/1902.