Zur Entwicklung und Bedeutung des modernen Theaters als einer sozialen Wohlfahrts- Anstalt

Das Prinz-Regenten-Theater in München

Von Albert Hofmann-Berlin.

I. Geschichtliches.

„Das Drama kann nichts anderes sein als ein Gottesdienst oder eine Botschaft. Die Vorstellung muss wieder feierlich werden – wie eine kirchliche Handlung, die die beiden wesentlichen Elemente eines jeden Kultus in sich vereinigt: die Person, in der, auf der Scene wie vor dem Altar, das Wort eines Verkünders Fleisch und Blut wird; die Gegenwart der Menge, die stumm wie im Tempel . .“


„„Das Volk besteht aus all denen, die ein dunkles Bedürfniss empfinden, sich mit Hilfe der Dichtung aus dem täglichen Kerker zu erheben, in dem sie dienen und leiden.““

Verschwunden waren die engen städtischen Theater, in deren erstickender, mit unsauberen Dünsten geschwängerter Hitze die Schauspieler vor einem Haufen von Schlemmern und Dirnen das Amt des Spassmachers versehen. Auf den Stufen des neuen Theaters sah er die wirkliche Volksmenge, die ungeheure, einmüthige Menge… In den rohen und unwissenden Seelen hatte seine Kunst, obwohl unverstanden, vermöge der geheimnissvollen Macht des Rhythmus einen gewaltigen Aufruhr erzeugt, ähnlich dem des Gefangenen, der im Begriff ist, von harten Fesseln befreit zu werden. Das Glück der Befreiung verbreitete sich nach und nach selbst bei den Verworfensten; durchfurchte Stirnen hellten sich auf; Münder, an Flüche gewöhnt, öffneten sich dem Wunder; und die Hände endlich – die rauhen, durch Arbeitswerkzeuge abgenutzten Hände – sie streckten sich in einmüthiger Bewegung nach der Heldin …“


„Und ich will hauptsächlich die Möglichkeit haben, deinen Wunsch zu befriedigen: dass die ersten drei Tage das Volk freien Eintritt in das Theater habe, und späterhin beständig einen Tag in jeder Woche.“ – Gabriele d’Annunzio: „Feuer“. –

Man kennt die einfache und gemüthvolle Art, mit welcher Friedr. Nietzsche mit den Massen sich abzufinden gedachte: „Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Kopien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen, und endlich als Werkzeuge der Grossen; im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik.“ Wer die Entwicklung des modernen Theaters bis heute verfolgt, könnte nach dem Lesen dieser Zeilen auf den Gedanken kommen, dass Nietzsche ihr geistiger Leiter war. Denn so seltsam es klingen mag: so stark unsere gesammte moderne Welt von der sozialen Entwicklung in ihren so zahlreichen Erscheinungsformen ergriffen worden ist, das Theater ist fast unberührt von ihr geblieben. Wenn wir einen Blick nach Osten, nach dem „barbarischen“ Russländ senden, so erleben wir eine Ueberraschung.

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Hier sind nicht nur Theater geschaffen worden, in welchen das Volk Anregung und Erholung suchen kann, sondern man ist noch einen erheblichen Schritt weiter gegangen und hat mit den Schauspielhäusern Theehallen, Bildergallerien, Lesehallen und andere Einrichtungen verbunden, welche der materiellen und spirituellen Wohlfahrt des Volkes dienen sollen. Ueber die Eintritts-Bedingungen zu diesen Anstalten bin ich nicht unterrichtet, sie werden sich aber, wie sich sicher vermuthen lässt,.in den Grenzen bewegen, welche dem Geiste der ganzen Einrichtung entsprechen. Wir geben in der Abbildg. S..407 eine solche Anlage nach einem Konkurrenz-Entwurfe des verstorbenen Architekten Prof. Victor: Schröter in St. Petersburg. wieder. Was diese fortgeschrittenen Maassnahmen für Russland bedeuten, wird klar,. wenn man erwägt, “dass erst am 12. Juli 1750 die erste russische Bühne, nicht in St. Petersburg, sondern in Jaroslawl durch Feodor Wolkow gegründet wurde, nachdem eine Reihe früherer Versuche durch Peter den. Grossen und Zaar Alexei Michailowitsch und andere misslungen waren. Katharina. II.. unterstützte das Theater nach jeder Richtung; die merkwürdige und temperaimentvolle Fürstin pflegte zu sagen: „Das Theater ist eine nationale Schule, ich bin der Lehrer dieser Schule, weil ich für die Sitten des Volkes vor Gott verantwortlich bin.“ Der Schöpfer des russischen Theaters, welchen Katharina sogar zum Minister machen wollte, bot bei der Krönungsfeier Katharinas dem Volke einen Festzug in Bildern dar, welcher drei Tage währte und alles übertraf, was bis dahin der Menge geboten worden war. Das sind wohl Lichtpunkte in der Entwicklung des russischen Theaters; ein eigentliches Volkstheater in der sozialen Bedeutung des Wortes aber sollte es doch. erst in unseren Tagen werden.

Entwurf zu einem russischem Volkstheater von Prof. V. Schöter
Entwurf zu einem russischem Volkstheater von Prof. V. Schöter
Grundriss des alten Hofburgtheaters in Wien
Grundriss des alten Hofburgtheaters in Wien

Was ist nun gegenüber diesen weit fortgeschrittenen Maassnahmen im Westen geschehen? Wenig, sehr wenig! Im Lande der „ersten deutschen Bühne“ schloss sich Josef II., als er das Burgtheater in Wien gründete, wohl dem Ausspruch Schillers an, dass das Theater eine moralische Anstalt sei und sein solle. Auch er forderte vom neuen Burgtheater, dass es keine andere Bestimmung haben solle, als zur Verbreitung des guten Geschmackes und der Veredelung der Sitten zu wirken. Indessen, obgleich er somit der Ansicht war, dass der sittlichen Entfaltung des Volksgeistes ein bedeutsamer Theil fehle, so lange die dramatische Kunst noch nicht aus ihm entwickelt sei und sich bei ihm in Blüthe befinde, obgleich er sich von der Einwirkung des „grossen gigantischen Schicksals“ der Dichtung, „welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt“ auf das Volk sehr viel versprach, obgleich er also mit anderen Worten im Theater eine Kulturmacht ersten Ranges erblickte, gab er ihm doch eine Stätte, in welcher es nur dem kleinsten Bruchtheil des Volkes zugute kommen konnte. Als im Jahre 1741 sich das Ballhaus der Wiener Hofburg in das „Theater nächst der Burg“ verwandelt hatte, da hatte man wohl ein Hoftheater, nicht aber ein Theater nach dem eigentlichen Wunsche Josefs. Wenn man den nebenstehenden Grundriss dieses Theaters betrachtet, so wird man die treffenden Worte eines Journalisten bestätigen, der schrieb: „Es war von je nichts als ein Hoftheater, ohne warme Fühlung mit dem Volke, ein Haus mit lauter Vorzugsplätzen für den hohen Adel und, ganz dahinten, einem Stehparterre für das liebe Publikum und, ganz da droben, einem Juhe fürs Volk. Es hatte keinen nationalen Boden“. Und nun erinnere man sich an den Sturm, der sich erhob, als das neue Burgtheater eröffnet war und dieses doch wenigstens ein klein wenig mehr der Bestimmung entsprechen konnte, welche in dem monumentalen Satze der Instruktion zur österreichischen Theaterordnung vom Jahre 1850 enthalten war und hiess: „Das Theater als ein mächtiger Hebel der Volksbildung darf in seinen höheren Zwecken – der Pflege und Vervollkommnung der auf demselben thätigen Künste – nicht nur nicht beirrt, sondern es muss vielmehr auf das wirksamste unterstützt werden.“ Im alten Burgtheater wäre das nur möglich gewesen etwa im Sinne des Hoftheaters des Fürsten Günther Friedrich Carl I. von Schwarzburg-Sondershausen, der eines schönen Tages beschloss, seinen getreuen Unterthanen unentgeltlichen Eintritt in das fürstliche Theater zu gewähren und ihnen hierzu 283 Einlasskarten zur Verfügung stellte. Die trefflichen Bürgersfrauen nahmen ihren Strickbeutel mit, der Fürst selbst rauchte und hatte vor sich auf einem silbernen Teller eine mit Dukaten gespickte Apfelsine liegen. Gefiel ihm eine Leistung auf der Bühne, so warf er die Apfelsine nach dem Darsteller und rief ihm zu: „Sing Er, oder deklamire Er diese Stelle noch einmal!“ Missfiel ein Künstler, so kommandirte er ihn in der gleichen Oeffentlichkeit zum Lernen auf die Wache. Neben diesem familiären Wesen entwickelte sich in den Logen ein lebhaftes Kokettiren und Liebestreiben. Man würde sehr irren und der Grundriss des alten Burgtheaters. weist es mit voller Deutlichkeit nach, anzunehmen, dass das Hoftheater ein Theater zum Sehen war; es war ein Theater, um gesehen zu werden und die Logen waren zu allem anderen da, nur nicht zur Verfolgung der Darstellung auf der Bühne. So war das Theater, welches die Holländer eine „Schauburg“ nennen, in einem wichtigen Theil seines Bestandes ein lucus a non lucendo. Es wurde nicht auf der Bühne, sondern in den Logen gespielt. Und dahin wendete sich auch meistens die Aufmerksamkeit der Parkettbesucher. Unter diesen offenkundigen Schäden hat, wenn auch der Geist der Besucher allmählich ein anderer wurde, das Theater gelitten, bis Richard Wagner sein Festspielhaus in Bayreuth baute.

Wie sah es in Italien aus und wie steht es noch dort? In Italien wird noch heute der Thespiskarren gefahren. Abgesehen von wenigen festen Bühnen, wie der Scala in Mailand und der Casa di Goldoni in Rom – wenn diese Schöpfung Novelli’s nicht schon wieder eingegangen ist – besitzt das italienische Theater keine dauernde Stätte, sondern es besteht aus reisenden Gesellschaften. Da kann selbstverständlich von einer Volksbühne keine Rede sein. Es fehlt jedoch nicht an Ansätzen zu einer solchen. Im Jahre 1820 hatte König Victor Emanuel I. 50 000 Lire bewilligt zur Begründung einer königlichen Schauspielertruppe, „da wir der Ansicht sind, dass die dramatische Kunst und ihre Ausübung, wenn gut geregelt und in geeigneter Weise gefördert und geschützt, nicht nur eine ehrenwerthe Unterhaltung für die Bürger der Hauptstadt bietet, sondern auch zur Vervollkommnung der Sitten beitragen kann; da wir ferner den Wunsch hegen, mit den anderen Fürsten Italiens in der Bewahrung der Reinheit unserer herrlichen Sprache zu wetteifern, sowie auch darin, dass die so illustre und so nutzbringende Schauspielkunst zum höchsten Grade des Glanzes erhoben werde“. Man wird anerkennen, dass sich hier die Spuren für ein Volkstheater finden. Aber was war mit 50 000 Lire auszurichten! Und diese wurden noch zudem 1852 wieder aus dem Budget des Staates Piemont gestrichen. 1858 aber waren die Theaterverhältnisse so verfahren, dass der Deputirte Angelo Brofferio die Wiederherstellung der Summe beantragte und dabei ausrief: „Selbst im päpstlichen Rom hat man begriffen, dass man sich des Volkes versichert, wenn man die ihm theuren Künste fördert. Ich weiss sehr wohl, dass Italien nicht mit der Musik und den Theatern befreit wird, sondern mit den Waffen, aber so lange es so weit noch nicht ist, sollten wir dafür sorgen, dass wir den Italienern nicht als Volk von Vandalen, im entscheidenden Moment erscheinen, sondern als Freunde der Freiheit und der Kunst“. Obwohl Cavour den Plänen zustimmte und selbst den Antrag mit dem Titel versah: „Entwurf für Hebung der dramatischen Kunst und Schauspielreform“, wurde er doch aus Gründen der Finanzlage abgelehnt. „So wurde Italien“, schreibt Dr. Maximilian Claar in Rom, „das Land, in dem die Kunst nichts von den konstituirten Gewalten erhält, obwohl sie alle ausnahmslos ihr so unendlich viel verdanken“.

So ist es geblieben bis heute, bis eines schönen Tages der Dichter Gabriele d’Annunzio einen kühnen und phantasiereichen Plan fasste. Von der bedeutenden sozialen Einwirkung der dramatischen Kunst überzeugt und von der feinsinnigen Ansicht Genina’s durchdrungen, man müsse die dramatische Kunst schon deshalb pflegen, weil sie das Mittel sei, dem Individuum ohne die Form einer an dasselbe gerichteten Mahnung die richtigen Lebensmaximen zu predigen, hatte er den Plan gefasst, auf dem Janikulus in Rom nach dem Vorbilde Richard Wagners in Bayreuth ein Theater zu errichten. „Nicht aus Holz und Ziegeln in Oberfranken: wir wollen ein Theater aus Marmor auf dem römischen Hügel haben … Richard Wagners Werk ist auf germanischem Geist begründet und von speziell nordischer Beschaffenheit. Seine Reform gleicht in gewissem Sinne der von Luther angestrebten. Sein Drama ist nichts als die feinste Blüthe eines Volksstammes, als die wundervoll ergreifende Zusammenfassung all der Sehnsuchten, die die Gemüther der nationalen Musiker und Dichter quälten, von Bach zu Beethoven, von Wieland zu Göthe. Wenn Sie sich seine Musikdramen vorstellen an den Gestaden des Mittelmeeres, zwischen unseren hellen Oliven-, zwischen unseren hohen Lorbeerbäumen, so würden Sie sie erbleichen und vergehen sehen. Da es – nach seinem eigenen Worte – dem Künstler gegeben ist, eine noch gestaltlose Welt kommender Vollendung erglänzen zu sehen und ihrer im Wunsch und in der Hoffnung prophetisch zu geniessen, so verkünde ich die Herankunft einer neuen, oder einer wiedererneuten Kunst, die durch die starke und ehrliche Einfachheit ihrer Linien, durch ihre kraftvolle Anmuth, durch die Gluth ihres Geistes, durch die reine Kraft ihrer Harmonien das ungeheure ideale Gebäude unseres auserwählten Volkes fortführen und krönen wird. Ich bin stolz darauf, ein Lateiner zu sein.“ (Feuer.) An derselben Stelle führt der Dichter aus: „Das Theater des Apoll, das sich schnell auf dem Janikulus erhebt, dort, von wo einstmals die Adler herniederflatterten, um Weissagungen zu künden, das sei die monumentale Offenbarung des Gedankens, dem unsere Rasse durch ihren Genius entgegengeführt wird. Wir wollen die nationalen Vorzüge kräftigen, durch die die Natur unsere Rasse ausgezeichnet hat.“ Er denkt sich das Theater für alle die, „die ein dunkles Bedürfniss empfinden, sich mit Hilfe der Dichtung aus dem täglichen Kerker zu erheben, in dem sie dienen und leiden.“ Er sieht die engen städtischen Theater verschwinden und auf den Stufen des im antiken Sinne gedachten neuen Theaters „die wirkliche Volksmenge, die ungeheure, einmüthige Menge, deren Witterung vorher zu ihm aufgestiegen war, deren Lärmen er vorher gehört hatte in der marmornen Muschel, unter den Sternen.“ Und er glaubt, dass in den rohen Seelen seine Kunst einen Aufruhr erzeugt, „durchfurchte Stirnen hellen sich auf, Münder, an Flüche gewöhnt, öffneten sich dem Wunder“ und die rauhen, durch Arbeitswerkzeuge abgenutzten Hände strecken sich in einmüthiger Bewegung nach der Heldin. Er lässt einen Genossen es aussprechen: „In der Existenz eines Volkes, wie das unsrige, zählt eine grosse Kundgebung der Kunst weit mehr, als ein Bündnissvertrag oder ein Steuergesetz.“ Und die Freundin des Dichters ruft ihm in edler Begeisterung zu: „Bis zur Eröffnung des Apollotheaters und bis zur Vollendung des Sieges des Menschen gehe ich, um mich von den Barbaren zu verabschieden. Ich will für dein schönes Unternehmen arbeiten. Um die Schätze von Mykenä wiederherzustellen, braucht man viel Gold! Und alles um dein Werk herum muss den Anschein ungewöhnlicher Pracht gewähren. Ich will, dass Cassandras Maske nicht aus unedlem Material sei … Und ich will hauptsächlich die Möglichkeit haben, deinen Wunsch zu befriedigen: dass die ersten drei Tage das Volk freien Eintritt in das Theater habe, und späterhin beständig einen Tag in jeder Woche.“

Dieser erhabene Plan, angeregt durch das gewaltige Werk Richard Wagners auf dem Bayreuther Hügel und gegründet auf die Antike, sollte ein goldener Traum bleiben. Diesem Schicksal verfiel noch ein anderer Plan des gedankenreichen Dichters.

Er wollte das an den Ufern des Albaner-Sees zwischen Steineichen, Myrthen und Lorbeerbäumen gelegene antike Theater wieder herstellen und erweitern. Dort sollte im Frühling eines jeden Jahres das Volk in einem prächtigen Amphitheater der Darstellung der antiken Tragödien beiwohnen.

Auch dieser schöne Traum d’Annunzios fand begeisterte Förderer und Lobpreiser; zu den letzteren gehörte besonders Eleonora Duse. Im Lenze des Jahres 1899 hätte das Theater von Albano eröffnet werden sollen. Die Aufführungen sollten in jedem Jahre zwei Monate dauern und in jedem Zyclus zwei moderne und zwei antike Dramen umfassen. Gabriele d’Annunzio wollte eine „Persephone“ schreiben und zwei griechische Tragödien übersetzen. Alle Architekten lateinischer Rasse sollten für das grosse Werk zu einem Wettbewerb aufgefordert werden. Die schöne Begeisterung Gabriele d’Annunzios war aber rasch verflogen, und er wandte sich anderen, nicht weniger traumhaften Werken zu. Jetzt will nun der reiche, träumerische Antonio Fogazzaro, ein hervorragender italienischer Romandichter, den Faden weiterspinnen und den Gedanken des italienischen Festspiel- und National-Theaters wiederaufleben lassen. Sein Plan liesse sich aber schon eher verwirklichen. Als Nationaltempel der Tragödie ist das Teatro Olimpico, das Werk des Palladio in Vicenza in Aussicht genommen.

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Obergeschoss
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Obergeschoss
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Untergeschoss
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Untergeschoss

In Frankreich hat das Theater eine ungleich stetigere Entwicklung genommen, wie in Italien. Aber die Frage, ob das Theater hier ein soziales Bildungsmittel geworden sei, kann doch auch nur im Sinne der Gesellschaftsordnung des XVIII. Jahrhunderts beantwortet werden, von welcher das Theater bis auf den heutigen Tag abhängig gewesen ist. Das Logen- und Rangtheater, wie es die Ludwige geschaffen haben, das Hoftheater im schlimmsten Sinne des Wortes, beherrscht heute noch völlig das französische Theaterleben und das auf einem Boden, auf welchem die soziale Entwicklung den anderen europäischen Staaten um Jahrzehnte vorangegangen ist. Allerdings hat es auch hier nicht an Versuchen gefehlt, der grossen Menge eine Schaubühne zu geben, aber die Versuche blieben gleichfalls vereinzelt und im Entwurf stecken. Den interessantesten dieser Versuche hat die „Deutsche Bauzeitung“ schon im Jahrgang 1876 veröffentlicht. In den Beginn der sechziger Jahre des XIX. Jahrhunderts zurückgehend und einen Theil der grossartigen umgestaltenden Absichten des Seine-Präfekten Haussmann bildend, war der Gedanke gefasst, am Zusammenfluss der Boulevards Magenta und St. Martin ein gewaltiges Schauhaus für Massenbesuch zu errichten und zwar, was bemerkenswerth ist, unter Theilnahme der offiziellen Faktoren. Der Krieg des Jahres 1870 vereitelte den Plan, der jedoch mit Beginn der 70er Jahre in nicht unwesentlich veränderter Form wieder aufgenommen wurde. Es waren jetzt aber nicht mehr die offiziellen Faktoren, die hinter dem Plane standen, sondern es war eine Gruppe von Künstlern, Litteraten und Finanzleuten, welche sich zum Ziel gesetzt hatten, ein Volks-Opernhaus für eine Zahl von 10 – 15 000 Besuchern gegen ein Eintrittsgeld von 2 Frcs. zu errichten. Davioud & Bourdais, ein Architekt und ein Ingenieur, vereinigten sich zu dem Entwurf, welchen wir aus Jahrg. 1876, No. 69, nochmals hier vorführen. Schon damals wies die „Deutsche Bauzeitung“ darauf hin, dass das Beispiel der antiken Theater „mit ihren auf viele Zehntausende von Zuschauern berechneten riesigen Dimensionen“ beweise, dass die Aufgabe durchaus nicht unlösbar sei; „sind wir über die Art, in welcher Schauspieler und Musiker sich dort vernehmlich machten, und über die Hilfsmittel, deren sie sich hierzu bedienten, auch nicht genügend unterrichtet, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass die neuere Zeit in dieser Beziehung erhebliche Rückschritte gegen das Alterthum gemacht hat“. Ein Blick auf den Entwurf lehrt sofort, dass der Schwerpunkt des Planes in der eigenartigen Bühnenanlage, dass aber in dieser auch der schwerwiegendste Mangel des Entwurfes liegt. Mit Recht hat Heinr. Seeling in seiner ausgezeichneten Arbeit über „Theater“ im zweiten Bande der „Baukunde des Architekten“, die von den Herausgebern der „Deutschen Bauzeitung“ bearbeitet ist, betont, dass die Handlung nicht ausschliesslich auf der von zahlreichen Plätzen nur wenig sichtbaren Bühne stattfinden könne, sondern hauptsächlich auf die weit in den Zuschauerraum vorspringende Rampe verlegt werden müsse; „der Schwerpunkt der Aufführung darf demnach nicht in der scenischen Wirkung, sondern in der Musik und in dem Gesange beruhen.“ Diesen Mangel der Bühne hat auch Otto March erkannt, als er seinen Entwurf für eine Volksbühne für 8000 Zuschauer für die Schrift von Hans Herrig: „Luxustheater und Volksbühne“ aufstellte. In der Anlage des Zuschauerraumes geht er im Wesentlichen auf den Entwurf von Davioud & Bourdais zurück, für die Bühne aber glaubt er in der Anordnung der Shakespeare-Bühne ein entsprechendes Auskunftsmittel gefunden zu haben. Er schlägt eine weit vorspringende Vorder- und eine flache Hinterbühne vor und es ist anzunehmen, dass nicht nur Anlage, sondern auch Betrieb dieser Volksbühne nach der Shakespeare-Bühne eingerichtet: werden sollten.

Das Prinz-Regenten-Theater in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Erdgeschoss
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Erdgeschoss

Wer nun aber den Zirkel in die Hand nimmt, der kommt bei den beiden hier besprochenen Volksbühnen-Entwürfen zu interessanten Ergebnissen. Es beträgt in dem Entwurfe von Davioud & Bourdais die Entfernung von der Vorderkante der Rampe bis zum äussersten Zuschauer, im Grundriss gemessen, 59 m, in der Luftlinie noch etwas mehr. Bis zum hintersten Punkte der Bühne beträgt diese Entfernung gar beinahe 85 m. Das dürften selbst für ein Opernhaus bei scharfsinnigster Raumgestaltung hinsichtlich der Bedingungen der Hörsamkeit unnatürliche Maasse sein. Bei der Volksbühne von Otto March beträgt die Entfernung von der Vorderkante der Vorderbühne bis zum hintersten Zuschauer 55 m, bis zur Hinterwand der Hinterbühne 68 m; auf ihr soll hauptsächlich das Schauspiel eine Stätte finden. Vergleicht man mit diesen Maassen die Maasse eines der grössten griechischen Theater, jenes von Epidauros, so erkennt man auch hieraus die Ueberlegenheit des griechischen Theaters selbst gegen unsere Theater-Entwürfe. Vom Altar in der Orchestra, auf dessen Stufen der Schauspieler stand, wenn er zur Menge sprach, sind es, bis zur obersten Sitzreihe des Amphitheaters 56 m, von der Hinterwand des Proskenion bis zu dieser Reihe 68 m; die Maasse stimmen also mit denen Marchs überein. Dabei aber fasste das griechische Theater ein vielfaches der Besucherzahl, die Davioud & Bourdais und March annahmen. Lässt sich nun nicht leugnen, dass der Entwurf Marchs nach seiner Ausführung in weit höherem Maasse den Zielen eines Volkstheaterss nachkommen würde, wie der ausgeführte Entwurf der französischen Architekten, so bleibt aber auch er, mit dem griechischen Theater verglichen, nicht unerheblich hinter der Bedeutung des letzteren zurück. Die Bedeutung des griechischen Theaters als eines Volkstheaters, einer sozialen Wohlfahrtsanstalt, liegt allerdings in erster Linie in der Zahl der Besucher, aber diese ist abhängig von der Art der scenischen Darstellung. Die Frage eines Volkstheaters als einer sozialen Wohlfahrtsanstalt ist demnach keine Frage der Fassungskraft des Zuschauerraumes, sondern eine Frage der Bühnengestaltung bezw. des Bühnenbetriebes, von welchen die Fassungskraft des Zuschauerraumes abhängig ist. Und wenn man in Frankreich die antiken Theater von Orange, Béziers, von Paris und von anderen Orten dazu benutzt oder zu benutzen gedenkt, das antike Drama möglichst wieder unter seinen alten Daseins-Bedingungen hervorzurufen und es einer grossen Volksmenge zugänglich zu machen, so geschieht das in der Erkenntniss der werbenden Kraft antiker oder ihr nachgebildeter dramatischer Kunst, vor allem aber in der wiedergefundenen Erkenntniss der Vorzüge antiken Theaterbetriebes gegenüber dem Betriebe unserer Zeit. Diese Vorzüge erkannten auch die Franzosen in dem Theater Richard Wagners und deshalb fordert der Schauspieler André Antoine, einer der thätigsten dramatischen Künstler unserer Tage, für das ihm vorschwebende Muster-Schauspielhaus, dass wenn ein solches Unternehmen zur vollsten Befriedigung gelingen solle, man unwiderruflich den Grundsatz aufstellen müsse, das neue Schauspielhaus für den Zuschauer zu errichten, welcher gezwungen ist, den schlechtesten Platz einzunehmen. „Um diesen tausendsten Zuhörer hat man sich zu kümmern. Wir müssen ihm nicht blos einen bequemen Sperrsitz zur Verfügung stellen, auf dem man wirklich sitzen kann, sondern ihm auch das Bühnenbild in der Vorderansicht und nicht in der linken oder rechten Seitenansicht darbieten. Will man die Gallerien in ihrer jetzt üblichen Form beibehalten, das heisst, will man dem Zuhörer nach wie vor über dem Gemälde, für dessen Anblick er zahlt, seinen Sitz anweisen, so wird er, selbst wenn er gerade gegenüber sitzt, nur die Bretter der Bühne oder, wenn er in den zwei letzten Rängen sitzt, nur den Schädel der Darsteller betrachten können.

Das Problem, das es zu lösen gilt, wäre also dieses: Alle Zuschauer müssen Vorderansicht gewinnen und alle in der Regel derart übereinander geschichtet werden, dass der letzte noch vernünftig genug plazirt ist, um den ganzen Bühnenraum in seinem Sehwinkel zu finden. Man wird sich folglich gezwungen sehen, die Gallerien und sämmtliche Seitenplätze, Logen, Baignoires oder Pourtour abzuschaffen. Dies ist das System des Bayreuther Theaters“. –

Man wird neben dem dramatischen Künstler nicht ohne Interesse den bildenden Künstler seine Gedanken über das moderne Theater aussprechen hören. Im Institute of British Architects in London nahm Hubert Herkomer Gelegenheit, über die Entwicklung des Theaters zu sprechen. Der Künstler begann mit dem Hinweis, dass das moderne Theater von den Fortschritten der Technik nur so weit Vortheil gezogen habe, als die äussere Anordnung der Plätze und die technische Sicherheit vornehmlich gegen Feuersgefahr sorglicher behandelt werde, für die Steigerung der Illusion und für den Gewinn der Phantasie aber sei sehr wenig geschehen. Seit Richard Wagner habe kaum ein hervorragender Künstler sich mit dem äusseren Apparat der Bühne liebevoll beschäftigt. Die von Wagner bezüglich der Anordnung der Zuschauerplätze vorgeschlagene und auf dem Festspielhügel in Bayreuth auch durchgeführte Neuerung erschöpfe die Aufgabe noch nicht; man müsse Plätze schaffen, die sämmtlich einen vollen Blick auf die Scene gestatteten und auch eine Prüfung der scenischen Einzelheiten ermöglichten. Der Glaube, dass eine sorgsame Umrahmung des poetischen Werkes der intimen Wirkung Eintrag thue, sei durch das Beispiel Wagners hinlänglich widerlegt. Der Prospekt, der sich aufthue, solle in dem Sinne und Geiste des dargestellten Werkes gestaltet sein und man müsse sich eben so viel Mühe geben, die künstlerische Wirkung des Schauplatzes auszuprägen, wie die Schauspieler es mit dem Inhalt der Dichtung thun müssten. Jetzt begnüge man sich auf der englischen Bühne damit, den Himmel durch einige blau angestrichene Fetzen Leinwand anzudeuten, die herunterhingen wie die Wäsche auf der Leine. Auch die Rampenbeleuchtung unserer Bühne sei durchaus unkünstlerisch, und was die Requisiten anlange, so kümmere sich kein Mensch um den Stil der dargestellten Handlung. Das Proscenium läge fast überall zu hoch und durchgängig sei es zu weit. –

Volks-Opernhaus für Paris. Entwurf von Davioud & Bourdais
Volks-Opernhaus für Paris. Entwurf von Davioud & Bourdais
Volksbühne. Entwurf von Brth. Otto March
Volksbühne. Entwurf von Brth. Otto March

Mit diesen Erörterungen, deren Lehren auch für die Volksbühne zu ziehen sind, sind wir auf englischem Boden angelangt, auf welchen uns schon die Shakespeare-Bühne führte. Man wird ohne Schwierigkeit erkennen, dass Herkomers Ausführungen auch einen Protest gegen die Shakespeare-Bühne bilden. Diese Bühne kann nun aber nicht ohne einen gewissen Erfolg für die Zwecke eines Volkstheaters nutzbar gemacht werden und wenn ich auch nicht die Lösung in dieser Richtung suche, so ist es doch nöthig, dieser Bühnenanordnung ein eingehenderes Wort zu widmen. Vorher aber seien das Richard Wagner-Theater in Bayreuth und das Prinz-Regenten-Theater in München als wichtige Zwischenstufen für die Gestaltung des Zuschauerraumes eines Volkstheaters etwas eingehender beschrieben.

II. Das Theater Richard Wagners und das Prinz-Regenten-Theater in München.

„Weil’s der Brauch verfügt?

Doch wenn sich alles vor Gebräuchen schmiegt,
Wird nie der Staub des Alters abgestreift,
Berghoher Irrthum wird so aufgehäuft,
Dass Wahrheit nie ihn überragt.-“
(Shakespeare: „Coriolanus.“)

Die Shakespeare-Bühne, die wir zuletzt erwähnten, und das Richard Wagner-Theater stehen in einem solchen grundlegenden Gegensatze zu einander, dass eine gewisse Berechtigung zu der Frage entstehen kann, ob aus den Grundzügen beider fruchtbare Elemente für eine Umwandlung des Theaters im Sinne eines sozialen Faktors im modernen Kulturleben sich ableiten lassen.

Die nach dem grossen Briten benannte Bühne entstammt viel weniger der Zeit der englischen Renaissance, als jener Litteraturepoche, in welcher nach Schiller und Goethe Jung-Deutschland mit seinen litterarischen Plänen die Welt zu erobern trachtete. Ganz wie heute wurde damals mit schneidender Kritik der Kampf gegen die „bilder- und sentenzenreiche Redseligkeit Schillers“ aufgenommen und in einen schärfen Gegensatz gebracht zu der Charakteristik Shakespeares und dem Allegorienspiel Calderons. Man forderte die Rückkehr zu einer einfacheren Wahrheit; man glaubte es verschmähen zu müssen, die physische Täuschung bis zum Eindruck der Natürlichkeit gesteigert zu sehen, Es entstand eine gewisse atavistische Strömung im Theaterleben, die sich in unseren Tagen wiederholt hat. Man erinnerte sich an die Vorrede in Cervantes’ dramatischen Werken, in welcher der Dichter die Zwischenspiele seines Vorgängers Lope de Rueda bespricht und sagt: „Der sämmtliche Apparat eines Schauspiel-Unternehmens war in einen Sack verpackt und bestand aus vier Schaffellen, eingefasst mit vergoldeten Lederborten“ – für die Darsteller der Schäfer – „und aus vier Bärten und Perrücken und vier Schäferstäben so ungefähr … Das Theater bestand aus vier Bänken, im Quadrat aufgestellt, und vier oder sechs Bretter darüber gelegt … Die Dekoration der Bühne war eine alte Decke, die an zwei Schnüren hin und her gezogen wurde.“ Man erinnerte sich auch, dass Goethe es unternehmen wollte, mit ein paar auf Fässer gelegten Brettern durch die Darbietung Calderon’scher Stücke jedes Publikum zu ergötzen. Man wollte den Theater-Direktor wieder zum Automedon, seinen Direktionssessel zum Bock des Thespiskarrens und das Repertoire zum Fahrplan machen. Man hatte Sehnsucht nach der ungebundenen Freiheit, nach der Landstrasse, nach der grünen Wiese, nach der Scheune, nach dem heute hier, morgen dort. In dieser Zeit stürmischer Gährung spöttelte Tieck über die Schneider- und Tischlerkunst in dem damaligen Ausstattungsluxus der Hoftheater. In einer Novelle: „Der junge Tischlergeselle“ machte er den Vorschlag, das alte Shakespeare-Theater mit seinen Anklängen an die Mysterienbühne wieder zu errichten.

Er stellte sich damit in einen ausgesprochenen Gegensatz zu dem ersten „Meininger“, dem Grafen Brühl, und fand in Immermann in Düsseldorf einen werkthätigen Genossen. Man muss sich diese Erinnerungen ins Gedächtniss zurückrufen, um die Vorgänge bei der Gründung der Shakespeare-Bühne unserer Tage zu ergänzen. Auch sie wollte in Gegensatz treten zu dem vermeintlich übertriebenen Ausstattungsluxus der Bestrebungen, die von Meiningen ausgingen und soweit verkannt werden konnten, dass man von ihnen eine Schädigung der Dichtung befürchtete. Als dann noch Gädertz die Zeichnungen des holländischen Gelehrten Johannes de Witt veröffentlichte, die dieser bei einem Besuche Londons im Jahre 1596 von der damaligen Bühneneinrichtung machte, welche nichts anderes war, als eine mit drei Seiten in die Zuhörer vorspringende dekorationslose Mysterienbühne, da glaubte man mit den Abstraktionen einer solchen Bühne den Gefahren einer Ueberwucherung des äusserlichen Eindruckes, den man von Meiningen besorgte, begegnet zu sein. Als erwünschtes Nebenergebniss gewann man die einheitlichere, weniger unterbrochene Darstellung der Werke Shakespeares. Es ist nun nicht zu verkennen, dass es auf den ersten Blick scheinen kann, als ob die besondere Gestaltung der Bühnenverhältnisse, wie sie ein fassungsreiches Volkstheater erfordert, aus der einfacheren Anlage der Shakespeare-Bühne, aus ihren Abstraktionen und aus der Ergänzungsthätigkeit, die dem Zuschauer zugemuthet wird, Nutzen ziehen könnte.

Und in der That hat Otto March z. B. geglaubt, sich, wie der Grundriss S. 418 zeigt, auf diesem Wege dem Ziele nähern zu können. Ich möchte mich aber doch mehr dem Theaterschriftsteller anschliessen, welcher sagte: „Die Theilung des Theaters in mehrere enge Räume, die der Aktion der Schauspieler Schwierigkeiten bereiten, erhält am Ende mehr Störendes für die Illusion, als die übliche Art, die das Gewohnheitsrecht für sich hat: Wenn der Zuschauer an demselben Abend bald die alltägliche Scene, bald ein neu konstruirtes Theater sieht, das wie eine Bühne auf der Bühne oder wie das Gerüst für ein Krippenspiel auf dem Podium steht, so ist das gewiss nicht geeignet, ihm einen höheren Wahrscheinlichkeits-Beweis für die Vorgänge zu geben“. Gleichwohl aber liegen auch in der Shakespeare-Bühne wertvolle Elemente für die Gestaltung eines Volkstheaters, wenn man sich entschliessen kann, dieses nicht einer bestimmten Kunstanschauung, sondern einer möglichsten Vielseitigkeit, der künstlerischen Darbietung dienstbar zu machen. Doch darüber später.

Der für die Gestaltung eines Volkstheaters wichtigere Schritt in der Entwicklung des Theaterbaues war durch das Theater Richard Wagners gemacht, Die Kunst des Meisters von Bayreuth war in zweifacher Hinsicht bestimmend auf das von ihm geschaffene Theatergebäude. Einmal durch die Proklamirung des Grundsatzes von der Einheit der Kunst d. h. durch das Bestreben, alle Zweige der Kunst der Gesammterscheinung des musikalischen Dramas in möglichst hoher künstlerischer Vollendung dienstbar zu machen, und zweitens in dem Bekenntniss des Meisters zu einem Schopenhauer’schen Gedanken, in welchem die Musik als ein „Ansich der Welt“, als eine „Welt neben der Welt“ aufgefasst wird, und welches den Meister dazu führte, den mystischen Abgrund aufzunehmen, sich des versenkten oder verdeckten Orchesters wieder zu erinnern, wie es schon längere Zeit vor ihm gefordert und geplant worden war.

Das erste Ziel der Wiedergabe eines durch alle Zweige der Kunst bereicherten Bühnenwerkes stellte an die freie Entwicklung des Zuschauerraumes die höchsten Anforderungen, Bedingungen, wie sie nur die natürlichste Gestaltung des Raumes bieten konnte, d. i. die Anordnung des griechischen Theaters. Man kennt die Stelle aus Goethe’s italienischer Reise, in welcher er beim Besuche des antiken Theaters von Verona darauf hinweist, wie das antike Theater die Befriedigung des natürlichsten Bedürfnisses darstelle. Bei jedem grossen Volkshaufen, in dessen Mitte etwas vorgehe, könne man die Wahrnehmung machen, dass immer die hinteren Zuschauer über die Köpfe der vorderen hinauszuragen suchen, um etwas zu sehen. Es liegt auf der Hand, dass als auf das Uebersehen des Bühnenbildes in seiner vollendetsten künstlerischen Gestalt ein so hoher Werth gelegt wurde, das System des italienisch-französischen Rangtheaters aus Gründen der natürlichen Erscheinung des Bühnenbildes verlassen werden musste. „Zweck und Absicht lagen hier einzig in dem Verhältnisse des Zuschauerraumes zu einer Bühne, welche in den grössten Dimensionen zur Herrichtung einer vollendeten Scenerie bestimmt war.“ (Rich. Wagners Gesammelte Schriften. IX. Bd. S. 404.) „Der Dekorations-Maler möge zugleich einsehen, wie unendlich wichtig, ja einzig ermöglichend mir seine geistvollste Mitwirkung ist, und dass ich ihm gewiss einen nicht wenig entscheidenden Antheil an dem Erfolge des Ganzen zuspreche.“ Gleichzeitig aber wendet sich Wagner gegen „das beleidigend freche Hervortreten des scenischen Bildes bis zur Betastbarkeit durch die Zuschauer“ und bestimmt daher: „Zwischen ihm und dem zu erschauenden Bilde befindet sich nichts deutlich Wahrnehmbares, sondern nur eine durch architektonische Vermittlung gleichsam im Schweben gehaltene Entfernung, welche das durch sie ihm entrückte Bild in der Unnahbarkeit einer Traumerscheinung zeigt, während aus dem „mystischen Abgrunde“ (des versenkten Orchesters) „die Musik geisterhaft herausklingt.“ Es scheint nun, dass Wagner erst später und durch Gottfried Semper darauf geführt wurde, aus der Versenkung des Orchesters auch einen künstlerischen Gewinn abzuleiten. Ursprünglich scheint er nur den Gedanken gehabt zu haben, das Orchester unsichtbar zu machen. Wagner sagte (Dtsch. Bztg. 1875, S. I): „Meine Forderung der Unsichtbarmachung des Orchesters gab dem Genie des berühmten Architekten (Gottfried Semper), mit dem es mir vergönnt war, zuerst hierüber zu verhandeln, sofort die Bestimmung des hieraus zwischen dem Proscenium und den Sitzreihen des Publikums entstehenden leeren Zwischenraumes ein; wir nannten ihn den „mystischen Abgrund“‚ weil er die Realität von der Idealität zu trennen habe, und der Meister schloss ihn nach vorn durch ein erweitertes zweites Proscenium ab, aus dessen Wirkung in seinem Verhältnisse zu dem dahinter liegenden Proscenium er sich alsbald die wundervolle Täuschung eines scheinbaren Fernerrückens der eigentlichen Scene zu versprechen hatte, welche darin besteht, dass der Zuschauer dem scenischen Vorgang sich weit entrückt wähnt, ihn nun aber doch mit der Deutlichkeit der wirklichen Nähe wahrnimmt, woraus dann die fernere Täuschung folgt, dass ihm die auf der Scene auftretenden Personen in vergrösserter, übermenschlicher Gestalt erscheinen. Der Erfolg dieser Anordnung dürfte wohl allein genügen, um von der unvergleichlichen Wirkung des nun eingetretenen Verhältnisses des Zuschauers zu dem scenischen Bilde eine Vorstellung zu geben. Jener befindet sich jetzt, sobald er seinen Sitz eingenommen hat, recht eigentlich in einem „Theatron“, d. h. einem Raume, der für nichts anderes berechnet ist, als darin zu schauen und zwar dorthin, wohin ihn seine Stelle weist……. während die aus dem „mystischen Abgrund“ geisterhaft erklingende Musik ihn in jenen begeisterten Zustand des Hellsehens versetzt, in welchem das erschaute scenische Bild ihm jetzt zum wahrhaftigen Abbilde des Lebens wird“.

Nach diesen Grundsätzen nun wurde das Bühnen-Festspielhaus in Bayreuth errichtet, wie es die „Deutsche Bauzeitung“ im Jahre 1875 S. I f. veröffentlicht hat. Der Festspielgedanke war aber nicht die Krone, sondern der Keim des Werkes von Richard Wagner. Träume und Pläne, welche dahinstreben, eine von den gewöhnlichen Opernhäusern getrennte festliche Aufführung seiner Werke zu ermöglichen, sind schon früh bei Wagner zu erkennen. Schon in einem Briefe aus Zürich vom 20. September 1850 an seinen Freund Uhlig spricht er den Gedanken aus „auf einer schönen Wiese bei der Stadt von Brett und Balken ein rohes Theater“ nach seinem Plane herstellen zu lassen, um den „Siegfried“ aufzuführen. Später dachte er am Rheine ein Theater aufzuschlagen „und lade zu einem grossen dramatischen Feste ein; nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf: mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution die Bedeutung dieser Revolution nach ihrem edelsten Sinne zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen, das jetzige kann es nicht. So ausschweifend dieser Plan ist, so ist er doch der einzige, an den ich noch mein Leben, Dichten und Trachten setze. Erlebe ich seine Ausführung, so habe ich herrlich gelebt; wenn nicht, so starb ich für was Schönes.“ Es sollte aber trotz aller Beharrlichkeit nicht so schnell gehen. Die Vorgänge in München, als sich Ludwig II. des Gedankens annehmen wollte, sind bekannt. Weniger bekannt die Ablehnung Bismarcks, den Plan von Reichs wegen zu fördern, die aber vielleicht durch Wagners zu selbstbewusstes Auftreten verschuldet wurde. Immerhin ging das Jahr 1876 ins Land, bis das Festspielhaus in Bayreuth eröffnet werden konnte. Es fand, was das einfache Sehen anbelangt, eine solche Anerkennung, dass der gewandte Franz Dingelstedt den Plan fasste, in Bayreuth eine Aufführung der von ihm bearbeiteten Faust-Trilogie anzustreben. Er schrieb darüber: „Ich denke an keines der bestehenden Hoftheater … sondern an ein neutrales freies Terrain, an Bayreuth, wie an ein deutsches Olympia. Dort hat die Kraft eines Mannes mit den Mitteln eines Volkes ein Werk der Zeit geschaffen, den Schauplatz für nationale dramatische Festspiele idealer Gestalt und Richtung. Soll das Wagner-Theater, nachdem die grossartige Aufgabe seines Schöpfers, der „Nibelungenring“, gelöst worden, unbenützt und leer stehen? Wie, wenn in Olympiaden-Intervallen cyklische Darstellungen hervorragender klassischer wie moderner Bühnenstücke oder Gesammt-Gastspiele von anerkannt ersten Bühnenkünstlern vor einem Elite-Publikum veranstaltet würden ? Wenn einer von diesen Festtagen im Theater-Kalender der Zukunft der „Faust“-Trilogie gehörte?“ Man sieht, schon hier in grösserem Umfange von Franz Dingelstedt dieselben Gedanken für das Bayreuther Haus, die Ernst Possart nunmehr für das Prinz-Regenten-Theater in München zu verwirklichen trachtet.

Dass es nicht zu Dingelstedts Plan kam, lag, abgesehen von seiner unmöglichen Faust-Bearbeitung, an der ablehnenden Haltung Wagners, welcher sein Theater für seine eigenen Werke vorbehalten sehen wollte. Um so mehr fällt es im höchsten Grade auf, dass 25 Jahre in die Welt gehen mussten, bis das Beispiel Wagners Nachahmung finden konnte. Unwillkührlich wird man dabei an ein Wort von Ludwig Barnay in „Bühne und Welt“ erinnert: „Der stumpfe, passive Widerstand tritt wohl nirgends hemmender und störender auf, als beim Theater. Weil es immer so gewesen, und weil es damit immer gegangen ist, vermeint man, müsste alles falsch oder zum wenigsten überflüssig erscheinen, was auf eine andere als die gewohnte Art ins Werk gesetzt werden soll.“ In diesem Sommer hat man in München das Prinz-Regenten-Theater als eine monumentale Nachbildung des Bayreuther Vorbildes eröffnet. Das Ereigniss bedeutet einen so ungewöhnlichen und voraussichtlich folgenschweren Schritt im modernen Theaterbauwesen, dass wir dem neuen Münchener Hause eine kurze Besprechung widmen müssen. –

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Ansicht des Zuschauerraums von der Bühne aus
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Ansicht des Zuschauerraums von der Bühne aus

Wir müssen den Lauf unserer Ausführungen für kurze Zeit unterbrechen, um dem Prinz-Regenten-Theater in München, dem interessanten Werke von Heilmann & Littmann in München, eine gedrängte Darstellung zu widmen, die sich in der Hauptsache auf die zahlreichen Abbildungen stützen kann und nur weniger ergänzender Worte bedarf, welche der schönen Festschrift des Hrn. Arch. M. Littmann, die wir später noch kurz besprechen, entnommen sind.

Drei Gründe waren es, weiche den Intendanten Ernst von Possart veranlassten, den Gedanken eines Richard-Wagner-Theaters in München seit mehr als einem Vierteljahrhundert hartnäckig zu verfolgen. München hatte in den sechziger Jahren durch die Aufführung Wagner’scher Werke durch Bülow eine führende Stellung im deutschen Musikleben sich errungen, welche Possart durch die Fortsetzung dieser Aufführungen zurückzugewinnen suchte. Die höchste Vollendung derselben aber scheiterte an dem Mangel eines Wagner-Theaters mit amphitheatralischem Zuschauerraum und verdecktem Orchester. Der Mangel einer zweiten grösseren Bühne machte sich auch empfindlich bemerkbar, als durch das Anwachsen Münchens das kgl. Hoftheater seine Pforten täglich öffnen musste und die Aufführungen von Schauspiel und Oper auf einer Bühne zu unliebsamen Zwischenfällen Veranlassung gaben. Dazu trat mit der Zeit immer nachhaltiger der Wunsch der Bevölkerung zutage, an Sonn- und Feiertagen billige Klassiker-Vorstellungen gegeben zu sehen.

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München.
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München.

Diese 3 Gründe fanden Anerkennung durch ein Konsortium, welches sich die Aufgabe gestellt hatte, die Prinz-Regenten-Strasse rechts der Isar fortzusetzen. Es kam ein Pachtvertrag über das geplante Haus mit der königl. Zivilliste und es kam die Bildung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung „Prinzregenten-Theater“ mit einem Gesellschafts-Kapital von 1 300 000 M. zustande. Die Gesellschaft stellte, wie der Lageplan zeigt, ein Gelände von 3,325 Tagwerk oder rd. 11 330 qm zur Verfügung, welches, an der äusseren Prinzregenten-Strasse gelegen, östlich vom Prinzregenten-Platz, südlich von der Aachener Strasse und westlich von der Niger-Strasse begrenzt wird. Der Bauplatz liegt noch im freien, der Bebauung harrenden Gelände und es ist ohne Zweifel neben den künstlerischen und theatertechnischen Beweggründen bei der Aufnahme des Gedankens durch das Konsortium auch das Motiv treibend gewesen, durch die Anlage des Theaters eine Werthsteigerung des umgebenden Geländes herbeizuführen. Von 5 Vorentwürfen wurde der vom 30. Nov. 1899 zur Ausführung bestimmt und mit Vertrag vom 18. April 1900 der Baugesellschaft Heilmann & Littmann der Auftrag zur Ausführung ertheilt. Am 27. April 1900 wurde mit den Erdarbeiten begonnen, und trotz eingetretener Wasserschwierigkeiten bereits am 15. Okt. 1900 der Dachstuhl des Zuschauerhauses und am 18. Nov. der des Bühnenhauses aufgestellt. Im Januar 1901 wurde die Heizanlage für den Zuschauerraum eingerichtet und nun konnten die Ausbauarbeiten so gefördert werden, dass bereits im Mai dieses Jahres die Malerarbeiten begonnen wurden. Inzwischen war für das Restaurationsgebäude ein doppelter Betrag bewilligt worden, sodass vom Beginn des Jahres ab auch dieses energisch gefördert werden konnte. Am 20. August 1901 wurde das Theater, nachdem es schon längere Zeit vorher völlig fertig war, feierlich eingeweiht.

Lageplan des Prinz-Regenten-Theater in München
Lageplan des Prinz-Regenten-Theater in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Logenaufgang. - Arch. Heilmann & Littmann in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Logenaufgang. – Arch. Heilmann & Littmann in München

Bei dem stolzen Werke fällt dem von der Stadt kommenden Besucher auf, dass dasselbe seine interessanteste Gruppirung nicht von dieser, sondern der entgegengesetzten Seite zeigt, da der Restaurationsflügel auf die östliche Seite des Hauses verlegt wurde. Das hängt mit der Forderung zusammen, dass neben dem Restaurationsgarten ein Gelände freigelassen werden sollte, auf welchem später Dekorationsmagazine, Werkstätten, Verwaltungsräume usw. im unmittelbaren Anschluss an die Bühne errichtet werden konnten. „Diese Anordnung“, schreibt Littmann, „die in späteren Jahren vielleicht einmal von äusserster Wichtigkeit werden kann, nöthigte leider zum Verzicht auf den schönen perspektivischen Effekt, der sich anderenfalls für die von Westen kommende Mehrzahl der Besucher durch den dem Theater vorgelagerten Garten mit dem niederen Restaurationsbau ergeben hätte.“ Man wird sich der Dringlichkeit dieser Gründe nicht verschliessen, aber doch dem Wunsche Ausdruck geben können, dass es, namentlich bei der platzartigen Erweiterung an der Westseite des Theaters, noch dazu kommen möge, diesem einen dem Restaurationsgebäude entsprechenden Bau vorzulagern.

Das Ungewöhnliche an dem neuen Hause gegenüber allen Theatern, die nach dem Hause von Bayreuth errichtet wurden, sind das aus diesem übernommene Amphitheater, das verdeckte Orchester, und – für das Prinzregenten-Theater allein – die seitliche Schliessung des Amphitheaters durch die durch Nischen gegliederte Abschlusswand. Das Amphitheater wird umschlossen durch den Wandelgang mit den dezentralisirten drei Eingängen. Auf die Anlage eines grossen, prunkvollen Vestibüls wurde zumtheil infolge der Anlage der Eingänge, zumtheil aus dem Grunde verzichtet, als der Wandelgang einen Theil der Funktionen eines Vestibüls erfüllt. Die Garderobe zerfällt wie das Amphitheater auf jeder Seite in 6 Abtheilungen; die Garderoben-Nummern entsprechen den Sitz-Nummern, sodass jeder Besucher zu einem bestimmten Theil der Garderobe gezwungen ist, Anlage und Ausbildung des Amphitheaters entsprechen dem des Bayreuther Vorbildes; die Steigung beträgt 1:3,8, der Zugang ist von den Seiten; die Logen liegen an der Rückwand. Abweichungen waren durch die feuerpolizeilichen Vorschriften nach dem Ringtheaterbrande geboten. – Es liegen in Bayreuth die Treppen zum Zuschauerraum innerhalb der senkrecht zur Bühne stehenden Saalseitenwände, es liegen die Treppen in München ausserhalb der schräg zur Bühne stehenden Saalwände. Der grosse Vortheil dieser neuen Anordnung liegt auf der Hand. Bei gleicher Grundfläche weist allerdings das Münchener Haus nur 1028 Sitzplätze gegen 1345 des Bayreuther Hauses auf. Die Bankreihen sind nach antikem Vorgange durch radiale Gänge unterbrochen. Zu der genannten Zahl von Plätzen kommen noch 78 Logensitze, sodass die Gesammtzahl der Sitzplätze 1106 beträgt.

Um die Aufführung klassischer Dramen zu ermöglichen, ist eine Ueberdeckung des „mystischen Abgrundes“ in Aussicht genommen, sodass, wie im antiken Theater, „der Schauspieler ganz in der Welt des Zuschauers auftritt.“

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Vorderansicht
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Vorderansicht
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Querschnitt
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Arch. Heilmann & Littmann in München. Querschnitt

Das Bühnenhaus wurde, um die Dekorationen des Hoftheaters verwenden zu können, den Verhältnissen dieses Theaters angepasst, nur die Hinterbühne wurde tiefer angelegt. Die Vorderbühne erhielt 29,2 m Breite und 23 m Tiefe, die Hinterbühne 17 m Breite und 14 m Tiefe, Die Garderoben liegen seitlich mit je 2 massiven Treppenhäusern; die Räume für Militär, Statisten und für das bis 115 Mann starke Orchester liegen im Untergeschoss mit leichter Rettungsmöglichkeit ins Freie.

Das Restaurationsgebäude bildet mit dem auf gleicher Höhe liegenden östlichen Foyer einen Foyersaal von rd. 364 qm Fläche; nach Osten schliesst sich noch ein Nebensaal von 108 qm an. Bei grossen Festspielen dienen beide Säle für die Aufnahme der Theaterbesucher, bei gewöhnlichen Vorstellungen nur der eine Saal.

In dem Aufbau und seinem künstlerischen Schmuck machte die verhältnissmässig bescheidene Bausumme immerhin ihre Einflüsse geltend. In erster Linie wurden mit Recht die praktischen Bedürfnisse des Bühnenbetriebes und des Wohlbefindens der Zuschauer befriedigt und der Schwerpunkt der künstlerischen Sorgfalt auf das Amphitheater gelegt; „und als dies geschehen blieb für die Ausgestaltung der Fassade nicht viel mehr übrig, als das, was zu thun unbedingt nothwendig war“. In der That: knapp das Nothwendige! Man hätte dem Architekten gerne eine halbe Million Mark mehr gewünscht, um dem Aussenbau durch Verwendung von Haustein das monumentale Gepräge zu verleihen, welches der theatergeschichtlichen Bedeutung des Werkes entspricht. Littmann schreibt ferner: „Es war nicht möglich, zur besonderen Betonung oder zur Vermittelung einzelner Gebäudemassen Räume ohne eine uns gegebene Zweckbestimmung hinzuzufügen, weshalb auch die äussere Erscheinung die innere Raumgestaltung ganz scharf zum Ausdruck bringt“. In dieser Beschränkung und in der daraus gewonnenen Wahrheit im Aufbau liegt einer der Hauptvorzüge des interessanten Gebäudes. Die künstlerische Durchführung des Aeusseren erfolgte unter Verwendung sparsamen plastischen Schmuckes als Putzbau. Vier Statuen in französischem Kalkstein: „Musik“, „Gesang“, „Tragödie“ und „Komödie“ von Prof. Heinr. Wadere, sowie vier Reliefs, „Gesang“, „Tanz“, „Wahrheit“ und „Schönheit“ von Prof. Ernst Pfeifer schmücken den Mittelbau.

Im Inneren war die Hauptaufgabe die künstlerische Durchbildung des Amphitheaters. Von dem Provisorium in Bayreuth konnte nicht viel gewonnen werden, zumal ein wichtiger Theil, der seitliche Abschluss des Saales, hier neu hinzukam. Dieser seitliche Abschluss erforderte ebensosehr in künstlerischer wie namentlich auch in akustischer Beziehung den Scharfsinn des Architekten heraus. In ersterer Beziehung, bereichert durch die vielleicht etwas zu sehr bewegten Statuen, darf er als wohlgelungen betrachtet werden; zusammen mit der schönen Logenarchitektur der Rückwand wird dem Zuschauerräume ein charakterisches neues Gepräge verliehen.

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Oestliches Foyer. - Arch. Heilmann & Littmann in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Oestliches Foyer. – Arch. Heilmann & Littmann in München

In akustischer Beziehung ist alles geschehen, was möglich war, eine gute Klangfarbe zu erzielen. Mit vollem Rechte führt Littmann das charakteristische Wort eines Pariser Theaterdirektors an, welcher, nach den Vorkehrungen für eine gute Akustik befragt, die Auskunft gab „Faites votre salle aussi baraque que vous pouvez!“ In diesem Ausdruck liegt die Bestätigung des Praktikers dafür, dass es in der Akustik Regeln nicht giebt, mag man sagen, was man will. Im gegebenen Fall wird die scharfsinnigste Regel durch den kleinsten Zwischenfall über den Haufen geworfen. Möglichst zertheilte und bewegte Flächen – das wird einer der Hauptgrundsätze bleiben. „Durch ein weit ausladendes, an jeder Säule sich verkröpfendes Gebälk, durch die freistehenden Säulen, welche Vasen tragen, durch die rückspringenden Nischen mit einem derben rauhen Putz, durch die in sie hineingestellten Figuren und durch reiche Stoffbespannung und Aufhängung von Gardinen in den Logen der Rückwand, sowie durch die völlig wagrecht durchgebildete und durch stark vortretende Gurte unterbrochene Decke hofften wir jene Forderungen zu erfüllen, welche die wohl nie in starre Regeln zu bindenden Lehren der Akustik an einen Theaterbau stellen“. Und in der That, die Forderungen sind wohl erfüllt worden, abgesehen von kleineren Ausgleichungen, welche insbesondere auswärtige Musikkritiker gefordert haben.

Prinzregenten-Theater-Muenchen
Prinzregenten-Theater-Muenchen

Ueber die technische Ausführung des Baues müssen wir uns kurz fassen. Die Fundamente bestehen bis Oberkante Sockel aus Kiesbeton, das Mauerwerk ist Ziegelmauerwerk mit „gestrecktem“ Mörtel, d. h. Mörtel mit Zementzusatz. Die Decken sind Betoneisendecken und Rabitzgewölbe. Die kleineren Dachstühle haben hölzerne Gespärre, die grossen sind aus Eisen. Die gesammte Einrichtung des Bühnenhauses einschliessl. der Beleuchtung und der Vorkehrungen für Feuersicherheit wurde nach den Angaben des kgl. Maschinerie-Direktors Karl Lautenschläger ausgeführt.

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Westliches Foyer. - Arch. Heilmann & Littmann in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Westliches Foyer. – Arch. Heilmann & Littmann in München

Die Heizungs- und Lüftungs-Anlage wurde in 2 Theile geschieden; das für sich verpachtete Restaurations-Gebäude erhielt eine eigene Niederdruck-Dampfheizung mit entsprechender Lüftungs- Anlage. Die Anlage für das Theater-Gebäude zerfällt wiederum in 2 Theile: in eine Niederdruckdampf-Luftheizung für den Zuschauerraum und eine Niederdruck-Dampfheizung für die übrigen Räume. Durch einen elektrisch angetriebenen Pulsionsventilator können in der Stunde 40 000 cbm frische Luft oder 39 cbm auf den Zuschauer bei vollem Hause eingeführt werden.

Das Prinz-Regenten-Theater in München. Längsschnitt. - Arch. Heilmann & Littmann in München
Das Prinz-Regenten-Theater in München. Längsschnitt. – Arch. Heilmann & Littmann in München

Die Beleuchtung ist die elektrische. Seitens der städtischen Elektrizitätswerke wurde im Theater eine Unterstation eingerichtet. Von hier führen getrennte Hauptleitungen nach der Bühne, nach dem Zuschauerhause, nach der Restauration und nach den Electromotoren. Die Bühnenbeleuchtung erfolgt durch 2334 Glühlampen. Zur Erzeugung besonderer Lichteffekte dienen 12 Effektlampen mit Linsensystem. Für den auf der Bühne vorgesehenen motorischen Betrieb sind 2 Motore mit je 5 P.S. bestimmt

Entwurf Sempers für das Hoftheater in Dresden aus dem Jahre 1835
Entwurf Sempers für das Hoftheater in Dresden aus dem Jahre 1835
Entwurf Schinkels v. Jahre 1817 für den Umbau der Bühne des Schauspielhauses in Berlin
Entwurf Schinkels v. Jahre 1817 für den Umbau der Bühne des Schauspielhauses in Berlin

Die Beleuchtung des Amphitheaters erfolgt durch 14 Bogenlampen, bei welchen durch ein Umschliessen mit reichen Krystallgehängen ein Blenden der Zuschauer vermieden wird. Die Logen, sowie alle übrigen Räume des Zuschauerhauses einschl. der Restauration erhielten Glühlicht.

Das Richard Wagner-Theater in Bayreuth. Grundriss der Ausführung
Das Richard Wagner-Theater in Bayreuth. Grundriss der Ausführung

Die Vorkehrungen gegen Feuersgefahr bestehen, abgesehen von der durchaus feuersicheren baulichen Herstellung, in der Anordnung zweier eiserner Vorhänge zwischen Hinterbühne und Bühne und zwischen Bühne und Zuschauerraum. Ferner dienen diesem Zweck die grossen eisernen Schubthore zwischen Hinterbühne und den 20 tiefen Vorhang- und Coulissen-Magazinen und endlich die völlig in Eisen durchgeführte Bühneneinrichtung. Zur Bekämpfung eines bereits ausgebrochenen Brandes dienen der Stehle’sche Regenapparat und eine das Gebäude umziehende Wasserleitung mit 5 Hydranten ausserhalb, 19 auf der Bühne, 8 auf den Gängen und 4 im Zuschauerhause. Neben diesen Einrichtungen wird die Sicherheit der Theaterbesucher unterstützt durch die zweckmässig angelegten dezentralisirten Ausgänge und durch ihre reichliche Bemessung.

Die künstlerischen Mitarbeiter waren, was die Architektur betrifft, in erster Linie Hr. Arch. Franz Habich, dessen unermüdliche Thätigkeit die Lösung der grossen Aufgabe in so kurzer Zeit mit ermöglichte. Auf der Baustelle war es Hr. Arch. Friedr. Grunow, welcher mit Umsicht und Thatkraft die Bauausführung leitete. An den Bildhauerarbeiten waren betheiligt die Hrn. Heinr. Düll, Max Heilmaier, Ant. Kaindl, Jos. v. Kramer, Ernst Pfeifer, A. Stehle und Heinr. Wadere; an den Malerarbeiten die Hrn. Jul. Mössel und Karl Selzer.

Die Erd-, Beton-, Maurer-, Zimmer- und Rabitzarbeiten sowie ein Theil der Tischlerarbeiten wurden durch die bauausführende Firma selbst ausgeführt. Im übrigen lieferten die Steinmetzarbeiten die Granitwerke Blauberg, Zwisler & Baumeister und die Steinfabrik Ulm; die Ziegel die Aktien-Ziegelei München, das Eisen das Eisenwerk München A.-G.; die übrigen Schreinerarbeiten Anton Pössenbacher und Friedr. Hummel; die Schlosser- und Kunstschmiede-Arbeiten Fr. Blab, L. Heck & Söhne und Friedr. Grohmann; die Spengler- und Dachdecker-Arbeiten sowie die Blitzableitung Joh. Schneider; die Glaserarbeiten und Spiegel M.Waigerleitner; die Stuckateurarbeiten Weipert & Nowotny, die Parkettarbeiten M. Loewi. Die Terrazzo-, Beton- und Asphaltarbeiten hatten J. Odorico, Karl Lindner und Max Niggl übernommen; die Bildhauerarbeiten in Stein F. Enderle; die Maler- u. Anstreicherarbeiten Schmidt & Co. und H. Heider; die Heizungs- und Ventilations-Anlage H. Recknagel; die elektrische Beleuchtungs-Anlage die Allg. Elektricitäts-Ges. München. Die Beleuchtungskörper lieferten Wilhelm & Lind, das Linoleum F. Fischer & Sohn; die Feueralarm-Anlage und den Haustelegraph Aug. Neumüller. Die Be- und Entwässerungs-Anlage sowie der Regenapparat der Bühne waren an Joh. Schneider übertragen, die Aufzüge an Friedr. Hummel und das Eisenwerk München: die Monierarbeiten an Wayss & Freytag und die Gartenanlage an E. Gende. Die Tapezierarbeiten einschl. Stofflieferungen hatten L. M. Rosipal, L. Bernheimer und Rudl & Behringer; die Applikationsarbeiten besorgten Frau von Brauchitsch und Jörres Nachf. Die Lieferung des Gestühls und anderer Möbel war an Paul Hyan-Berlin, Gebr. Thonet und Kadeder übertragen.

Unbeschriftet, S. 477
Unbeschriftet, S. 477

Die Errichtung des Hauses war der Firma Heilmann & Littmann in Generalunternehmung übertragen Das Theater fasst 1106 Zuschauer; es hat ohne Restauration einen Rauminhalt von 74 458 cbm ohne Bauplatz und ohne Berücksichtigung einiger Schenkungen für den cbm 18,42 Mk., für Zuschauer 1239,55 Mk.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Errichtung des Hauses eine architektonische That bedeutet, die aus der an solchen Ereignissen nicht armen Baugeschichte Münchens hell herausleuchtet. –

III. Die antike Bühne und die Möglichkeit ihrer Verwerthung für ein modernes Volkstheater.

„Wenn aber in unserer Zeit der Glaube an die soziale Aufgabe der Staatsordnung erst wieder sozusagen ausgegraben und belebt werden musste, so gehörte er bei den Alten zu den selbstverständlichen Dingen; ein Staat, welcher nicht seinen Bürgern, die freilich stets nur ein Bruchtheil der im Staat vorhandenen Menschenmassen waren, das Wohlergehen verbürgt hätte, würde nach Aller Urtheil seiner eigentlichen Aufgabe nicht genügt haben. Der antike Staat ist nicht von der Idee des abstrakten Rechts beherrscht, sondern von der Idee des Glückes der Bürger“.

(Egelhaaf.)

„Bildung ist eine fortwährende Vermehrung des geistigen Wohlstandes der Nation. Auf sie hat Jeder ein Recht, der geboren wird: ein Volk im wahren Sinne des Wortes ist nur denkbar als die Genossenschaft gebildeter Menschen, deren jeder an seinem Platze zufrieden sein wird, weil er sein Leben danach einrichtet, ihn auszufüllen und weil er darum ihn liebt“.

(Paul de Lagarde.)

Wem es vergönnt war, im Garten der Hesperiden und an den Gestaden der Sirenen zu reisen, dem müssen, wenn er seine Aufmerksamkeit nicht ausschliesslich den künstlerischen Interessen, sondern auch den vielfach auf diese einwirkenden sozialen Erscheinungen widmete, die zahlreichen antiken Theater mit ihrer ungeheuren Fassungskraft aufgefallen sein. Jede irgendwie bedeutendere Provinzialstadt hatte, ganz abgesehen von den Landeshauptstädten, sowohl im griechischen wie im römischen Alterthum ihr Theater, welches so gross war, dass die Anzahl der in ihm zusammengefassten Menschen in die Zehntausende ging. Die Erscheinung ist eine so typische, dass es nahe liegt, in ihr ein soziales Prinzip zu vermuthen. Und in der That: wer der Sozialpolitik des griechischen Alterthums und zwar der Periode ihrer glänzendsten Entwicklung, der Periode des Perikles, nachgeht, kommt zu höchst bedeutsamen Wahrnehmungen. Perikles verstand es, wie Thukydides ihm nachrühmt, das Volk in freiem Gehorsam zu erhalten. Aber „man muss sich erinnern, was alles auf den Demos in Athen einwirkte: eine Bühne, deren Gleichen es nie wieder in der Welt gegeben hat und eine gleich grossartige plastische Kunst, der Schwung, den die aufstrebende Kultur überhaupt den Geistern mittheilt.“ (Ranke.) Dazu kam eine zielbewusste Sozialpolitik, welche in der Idee des Glückes der Bürger gipfelte. Perikles ergriff „die Sache der Vielen und Armen im Gegensatz zu den Reichen und Wenigen.“ Die Festes-Freuden wurden nach Duncker wesentlich vermehrt; man erhöhte die Zahl der Wettkämpfe bei den grossen Opfern, bereicherte den Pomp der Festzüge, stattete die Darbringungen für die Götter reichlicher aus und bemaass die Preise der Sieger in den Wettkämpfen freigebiger. Den Panathenäen wurden Wettkämpfe der Zither- und Flötenspieler, Wettgesänge zu Ehren der Schutzgöttin Athens usw. hinzugefügt. Vor allem aber führte Perikles die Verabreichung des Schaugeldes aus öffentlichen Mitteln ein, damit jeder Athener an diesen geistiren Genüssen Antheil nehmen und seine sittliche Bildung dadurch fördern könne, und damit gerade die ärmere Bürgerschaft, welche der Erhebung des Geistes und Herzens am meisten bedurfte, den vom Staate abgehaltenen Schauspielen nicht fern zu bleiben brauchte. Es entsprach der Sozialpolitik des Perikles, dem armen Manne an den Festtagen eine kleine Erleichterung für den Unterhalt zu bieten, indem man ihm je einen Obolen für jeden Tag der Dionysien und Panathenäen gewährte. So wurde es ihm möglich, sich den ganzen Genuss des Festes zu gönnen. In dieser Weise suchte Perikles das von ihm geleitete Volk zur Ausreifung einer idealen Kultur zu befähigen; das Volk besass freilich die entscheidende Macht, die er aber durch solche Maassnahmen so zu leiten wusste, dass die Macht des Volkes nur die Grundlage seiner eigenen Autorität wurde. Auf diese Weise schloss sich der Kreis der griechischen Sozialpolitik. Sie war die gleiche bei den Römern. Das Volk wandte auch hier dem Theater und den circensischen Spielen das regste Interesse zu und zurzeit der Republik gewann mancher Ehrgeizige das souveräne Volk durch Spiele. In der Hand der Kaiser waren diese sogar ein Mittel, die grosse Masse des Volkes von der Politik abzuziehen. „Es verlangt nur nach zwei Dingen, nach Brod und nach Spielen“, grollte Juvenal. („Duas tantum res anxius optat, panem et circenses!“ Sat. X, 81)

Das Richard Wagner-Theater nach dem Entwurf
Das Richard Wagner-Theater nach dem Entwurf
Entwurf Sempers für das Festspielhaus in München
Entwurf Sempers für das Festspielhaus in München

Diese einflussreiche politische Bedeutung des antiken Theaters wäre in unserer Zeit nicht möglich, so sehr man auch seine weiteste ideale Förderung wünschen mag. Alle Bestrebungen unserer Tage, welche auf eine sogenannte Popularisirung der Kunst ausgehen, tragen gegenüber den ähnlichen Bestrebungen des Alterthums insofern einen durchaus veränderten Charakter, als es sich im Alterthum immer nur um die Bürger, die in der menschlichen Gesellschaft eine Minderheit bildeten, handelte. Die weit zahlreichere Klasse der Menschen, die dem Dienstbarkeits-Verhältnisse unterworfen waren, blieben von diesen Kultursegnungen ausgeschlossen. Heute ist dieses Verhältniss aufgehoben: und wir stehen nicht mehr einem Theile der menschlichen Gesellschaft, sondern dem Ganzen derselben gegenüber. Dadurch wird die Zahl grösser und die Grösse des Theatergebäudes erhält eine nicht mindere Bedeutung heute wie im Alterthum.

Schnitt des Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Schnitt des Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Grundriss des Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Grundriss des Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio

Diese Bedeutung liegt für uns, wie schon S. 418 ausgeführt wurde, nicht in erster Linie in der Fassungskraft des Zuschauerraumes, sondern in der Bühnengestaltung. Bei einem Blick auf den Ort der Handlung im griechischen Theater mögen die neueren Untersuchungen von Wilhelm Dörpfeld und Emil Reisch dienen.(Das griechische Theater. Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater. Von Wilhelm Dörpfeld und Emil Reisch. Athen, Barth & von Hirst. 1896.) „Das Theater, in welchem die Dramen der grossen Tragiker des V. Jahrhunderts aufgeführt wurden, war kein prächtiges Bauwerk mit steinernen Sitzreihen und marmornen Thronen, sondern ein einfacher Zuschauerraum mit hölzernen Bänken.“ Erst das IV. Jahrhundert errichtet den Steinbau und als eines der edelsten Theater das von Epidauros, welches wir in den Abbildungen S. 484 für unsere Betrachtung wählen. „Wer jemals auf den Stufen des Theaters von Epidauros gesessen und den ganzen Orchestrakreis zu seinen Füssen gesehen hat, der kann diesen Anblick nicht vergessen, und wem es vergönnt war, Theile eines antiken Dramas in der Orchestra aufgeführt zu sehen, der hat einen Begriff bekommen von dem starken Eindruck, den ein solches Spiel hervorruft; dem wird auch für alle Zeiten beim Lesen eines antiken Dramas gerade das Theater von Epidauros mit seinem Steinkreise als Spielplatz vorschweben“.

Entwurf von Gottfried Sempers für das Festspielhaus in München
Entwurf von Gottfried Sempers für das Festspielhaus in München

Tanz, Gesang und Spiel fanden in der Orchestra des griechischen Theaters statt. Die auf- und abtretenden Künstler betraten den Platz durch die beiden seitlichen Zugänge, die Parodoi. Durch Errichtung der Skene wurde die Orchestra, die bis dahin ein Platz im heiligen Bezirke war, zum Platz vor dem Königspalast, oder vor dem Tempel, oder was sonst die Skene darstellte. Einen Innenraum konnte die Skene nicht wiedergeben; entweder wird derselbe von weiten durch eine geöffnete Thür gezeigt, oder es erfolgt eine Einladung an den Chor, damit der Schauspieler einen Anlass habe, aus dem Hause herauszutreten, um zu erzählen, was drinnen geschieht. Auch sehen wir, wie der Chor an die Thüren des Palastes herantritt, um zu erlauschen, was im Inneren vorgeht. Zu der Annahme der Orchestra als Ort der Handlung nöthigt die grosse Zahl der vereinigten Personen z. B. in den Versammlungs- und Gerichts-Scenen, wie die Grösse der aufgestellten Schmuckbauten, wie Altäre, Gräber usw. Endlich auch die Freiheit der Bewegung, wie beim Ballspiel usw. Für grosse Aufzüge wurden die Orchestrazugänge benutzt. Der Wunsch, bei dem Beschauer eine erhöhte Illusion hervorzurufen, ihm Wirklichkeit vorzutäuschen, entwickelte sich immer mehr. „Die Form der Dichtung und der Schauplatz ihrer Aufführung stehen in engster Wechselwirkung. Der Dichter, der anfangs der gegebenen Beschaffenheit des Tanzplatzes sich angepasst hat, von ihr sich hat Schranken setzen lassen, lernt immer mehr, diesen Platz seinen schöpferischen Gedanken gemäss in eigenartiger Weise umzugestalten.“

Da in Griechenland das öffentliche Leben sich grösstentheils unter freiem Himmel auf offenen Plätzen abspielte, so konnte die Orchestra ohne besondere Vorkehrung als ein freier Platz nach den Angaben der Dichtung gelten. Um nun aber den Platz näher zu charakterisiren, führte man an der Kreistangente desselben oft umfangreiche Bauten auf, d. h. also, die Scene war in die Zuschauer vorgeschoben, der Schauspieler trat unter das Volk, die Zuschauer erlebten die Darstellung mit. Solche Bauten waren grosse Grab- oder Altarbauten, ja selbst entwickelte Palastbauten. In dem Drama „Prometheus“ nimmt der Dichter als Hintergrund einen Fels an, an welchen Prometheus im Eingang gefesselt wird. Der Fels stürzt zusammen und der Gefesselte versinkt. In der Orestes-Trilogie bildet den Hintergrund an der Orchestra im ersten und zweiten Stücke ein Palast, im dritten ein Tempel. Im „Agamemnon“ ist es ein grosser, dreithoriger, an der Vorderseite reichgeschmückter Palastbau. Im Hinblick auf solche mit Schwierigkeit zu errichtende Bauwerke erklärt sich die griechische Forderung nach der Einheit des Ortes und der Zeit des Dramas. An die Stelle des Palastes tritt in der Komödie das kleinere bürgerliche Haus; auch die freie Landschaft wird angedeutet, jedoch entsprechend den geringen Fortschritten in der Malerei nur dürftig.

Grundriss des Theaters in Epidauros
Grundriss des Theaters in Epidauros
Ansicht des Theaters in Epidauros
Ansicht des Theaters in Epidauros
Nach Dörpfeld und Reisch. Das griechische Theater
Nach Dörpfeld und Reisch. Das griechische Theater

Ein Hain ist der Schauplatz im „Oedipus auf Kolonos“, er wird aus einigen natürlichen oder nachgeahmten Bäumen bestanden haben. „Uns fehlt heute nicht nur genügende Anschauung von dem malerischen Können jener Zeit, sodann auch ein Maasstab für ihre Naivetät; wir vermögen nicht zu beurtheilen, unter welchen Bedingungen den Menschen jener Zeit die täuschende Wiedergabe der Wirklichkeit durch die Scenenmaler erreicht schien“. Da die ganze Scene nur aus Pfosten, Brettern und Leinewand leicht aufgebaut war, so konnte man auch Brandvorgänge, das Erzittern von Gebäuden usw. vorführen. Auch stellte man Göttererscheinungen in der Höhe mit der Schwebemaschine schon dar, kurz, man war im Stande, die schwierigsten Vorgänge wieder zugeben. Um den Schein der Wirklichkeit durch Vorführung eines fertigen Bildes zu erhöhen, war man zur Anwendung eines Vorhanges genöthigt, welcher zwischen den vorspringenden Paraskenien des Spielhauses befestigt wurde.

Aus dem Vorstehenden geht nun zweierlei als für die Gestaltung eines Volkstheaters wichtig hervor: 1. Die Orchestra, oder sagen wir nach unserem Sinne die Bühne, war weit in die Zuschauer vorgeschoben, sodass die Entfernung vom Schauspieler bis zum äussersten Zuschauer eine möglichst kurze war, in Epidauros, wie schon S. 418 bemerkt, nur 56 bezw. 68 m, und dass auch von den äussersten Seiten des übervollen Halbkreises alle Vorgänge deutlich wahrgenommen werden konnten. 2. Die Ausstattungs-Gegenstände waren, mit Ausnahme der gemalten Pinakeswand oder des Hintergrundes vollrund, sodass sie von allen Seiten eine gute Ansicht darboten. Soviel über das griechische Theater.

In der Zeit der Wiederbelebung der Antike fand auch das antike Theater eine Auferstehung. Zweimal ist, soviel mir bekannt geworden, in der Renaissance der interessante Versuch gemacht worden, das antike Theater wieder zu beleben. Einmal, ganz wie beim Richard Wagner-Theater, in provisorischer Weise in Parma, das andere Mal in monumentaler Weise in Vicenza. Das „Teatro Farnese“ in Parma, ein von den Zeitgenossen „Theatrum orbis miraculum“ genannter Bau, wurde 1618 durch den Architekten Giambattista Aleotti (1546 – 1636) aus Argenta im Ferraresischen, im Auftrage Ranuccios I. Farnese nach der Art der antiken Amphitheater in Holz erbaut und soll etwa 5000 Zuschauer fassen. Es wurde 1628 zur Feier der Hochzeit des Odoardo Farnese mit Margarete von Toscana mit der Aufführung eines grossen Turniers Mercurio e Marte und einem Schäferspiel eröffnet. Es werden Maasse von 87 m Länge, 32 m Breite und 28 m Höhe angegeben, jedoch nicht gesagt, wo die Maasse genommen sind. Der Zuschauerraum ist nach den Angaben Vitruvs eingerichtet; er hat 14 Stufenreihen, darüber eine dorische und eine jonische Säulenstellung mit Bogen in moderner Einrichtung. Den Abschluss bildet ein reiches Gesims mit Ballustrade und Standbildern. Die Bühne entspricht den neueren Anforderungen 1628 wurde der Bau durch Marchese Enzo Bentivoglio erweitert; 1867 erhielt er ein Holzdach.

Der Monumentalbau in Vicenza wurde schon früher errichtet, wie der Holzbau in Parma. Die i. J. 1550 gestiftete Akademie der Olympier in Vicenza, deren Mitglied Palladio war, hatte zu den von ihr unternommenen Theateraufführungen jeweils Holzbauten errichten lassen, bis sie 1579 ein dauerndes Haus nach den Vorschriften Vitruvs zu errichten beschloss. Palladio fertigte die Pläne, die nach seinem 1580 erfolgten Tode 1584 durch Scamozzi ausgeführt wurden. Man gab den Oedipus des Sophokles mit einer Scenendekoration von Scamozzi. 2000 Edelleute des venezianischen Gebietes und der benachbarten Gegenden sollen ihr beigewohnt haben, Das Theater ist in unseren Abbild. S. 481 u. 485 dargestellt. Es enthält in erster Linie die Wiedergabe des antiken Theaters mit einem Keim des Volkstheaters insofern, als die sogenannten bevorzugten Plätze fortgefallen sind. Von dieser Zeit ab treten, soweit ich sehen kann, erst wieder in der scharfsinnigen Thätigkeit Gottfried Sempers für ein Volkstheater verwendbare Keime auf Von grossem Interesse ist in dieser Beziehung sein Entwurt zum Dresdener Hoftheater vom Jahre 1835. Zunächst liegt in der Möglichkeit des seitlichen Heraustretens des Schauspielers vor den geschlossenen Vorhang (s. S. 473) die vollkommene Anregung zur Shakespearebühne, die von den Vertretern derselben nachträglich zur Kenntniss genommen werden muss. Ferner bietet die schräge Gestaltung des reich gegliederten Prosceniums die Möglichkeit, die Sitzreihen weit über den üblichen Kreisausschnitt hinaus anzuordnen. Viel weiter noch ist Semper in dieser Beziehung gegangen bei seinem Entwurf zu einem Festspielhaus für München, den wir S. 477 und vorstehend abbilden. Es mag dahin gestellt bleiben ob es Richard Wagner oder ob es, was wahrscheinlicher ist, Gottfried Semper war, welcher auf den Gedanken kam, auf das antike Theater zurückzugreifen. Jedenfalls ergiebt sich durch Vergleiche eine enge Verwandtschaft zwischen Sempers Festspielhaus und z. B. denn palladianischen Theater in Vicenza, Eine Rückbildung, wenn ich im Sinne des Volkstheaters so sagen darf, weist in diesem Entwurfe die Lösung des Prosceniums auf, indem sie eine solche ist, dass sie den Zuschauerreihen keine volle Rechnung trägt. Nichtsdestoweniger liegen in allen diesen Entwürfen ausserordentlich werthvolle Keime für ein Volkstheater und selbst wenn sich dieses auch eng an das antike Vorbild anlehnen muss, so behält doch Richard Wagner Recht mit dem Ausspruch, welchen M. Littmann an die Spitze seines interessanten Aufsatzes über den Werdegang des Wagner-Theaters setzt: „Denkt man sich in die Räume des Theaters der Zukunft, so erkennt man ohne Mühe, dass in ihnen ein ungeahnt reiches Feld der Erfindung offen steht.“

Dem unsichtbaren Orchester wohnt für unseren Zweck eine geringere Wichtigkeit bei. Sie kommt, für den Fall, dass die Volksbühne gleichzeitig für Musikdrama und Schauspiel eingerichtet werden sollte, nur insoweit inbetracht, als das Orchester beim reinen Drama überdeckt werden kann und nun der Schauspieler die Möglichkeit hat, vorzuschreiten, um, wie Littmann treffend sagt, gleichwie im antiken Theater „ganz in der Welt des Zuschauers“ aufzutreten. Ein Versuch Schinkels aus dem Jahre 1817 für die räumliche Behandlung des Orchesters (s. S. 473) istinsofern interessant, als er eine weit vorgezogene Vorderbühne schaffen will, „wodurch an Platz gewonnen wird; ausserdem wird dadurch das so unangenehm störende, zu weite Vortreten der Schauspieler an den Seiten des Prosceniums verhindert“. Schinkel hat also hier schon den Eindruck der mangelhaften Wirkung des üblichen Bühnenbildes. Aber weder Schinkel noch Wagner sind die Urheber des unsichtbaren Orchesters. Es wird vielmehr in einer Denkschrift Marette’s vom Jahre 1775, die der Archivar der Grossen Pariser Oper, der bekannte Librettist Nuitter, wieder aufgefunden hat, der Vorschlag gemacht, das Orchester unter einer Verlängerung der Bühne zu verbergen, während der Kapellmeister allein über diese Verdeckung hinausragen sollte, um die Schauspieler und Sänger sehen zu können. Auf diesen Vorschlag hat wahrscheinlich Gretry in seinen „Essais sur la musique“ 1776 angespielt, in denen es heisst: „Ich wünschte, dass es überall nur eine Art von Plätzen gäbe…. Ich wünschte, dass das Orchester verhüllt werde und dass man weder die Musiker, noch die Rampenlichter aus der Mitte der Zuschauer sehen könnte“. – Unbekannter als diese Forderung Gretrys dürfte ein im Jahre 1841 in Turin unter dem Namen des Grafen Cesare della Chiesa di Benevello erschienenes kleines Buch sein, das unter dem Titel „Azioni coreographiche“ eine Anzahl Balletlibretti enthält und in dessen Vorrede der Verfasser seine Ideen über Neuerungen entwickelte, die in der inneren Einrichtung der Theater durchgeführt werden sollten. Hinsichtlich des Orchesters verlangte Graf di Benevello, dass es „in seiner ganzen erforderlichen Höhe unter dem Boden der Bühne in Schatten gestellt würde; diesem für das Orchester bestimmten ausgehöhlten Raume, der durch Eisensäulen zu stützen sei, müsse eine elliptische Form gegeben und er müsse mit Metall ausgeschlagen werden“. Durch diesen Bau, meinte der Verfasser, würde der gesammte Raum, den das Orchester in Anspruch nimmt, für den Zuschauerraum gewonnen und, was noch viel wichtiger sei, man würde durch die Zurückwerfung der Harmonie in die Mitte des Saales dieselbe viel kompakter und homogener erhalten. „Ich glaube nicht“, ruft der Verfasser aus, „dass irgend Jemand, der nur irgend etwas von der Akustik versteht, nicht mit mir über die grossen Vortheile einverstanden sein könnte, die für die Harmonie aus dieser Homogenität der Tonwellen erwachsen müssten“. Hat vielleicht Wagner, der um das Jahr 1841 Mitarbeiter der Musikzeitung war, von diesen „Azione coreographiche“ Kenntniss erhalten, wenn nicht gar sie gelesen? Vielleicht haben auch die, übrigens fruchtlosen, Versuche in der Pariser Grossen Oper, den Boden des Orchesters zu senken, seine Aufmerksamkeit erregt. Jedenfalls lag die Idee in der Luft, als er sie in der Vorrede zum „Nibelungenringe“ auseinandersetzte. –

Jedenfalls bildet das Richard Wagner-Theater mit seinem der Antike nachgebildeten amphitheatralischen Zuschauerraum, wenn dieser auch nur ein Kreisausschnitt ist, mit seinem versenkten Orchester, welches in seinem Sinne eine Trennung zwischen Bühne und Zuschauer, in unserem Sinne eine Verbindung zwischen beiden ermöglicht, einen grossen Schritt zur Gestaltung eines Volkstheaters. Andererseits ist ein solcher Schritt in der Anordnung der Shakespearebühne insofern zu erkennen, als sie die Möglichkeit giebt, die Trennung zwischen Bühne und Zuschauer aufzuheben und das moderne Theater dem antiken zu nähern, Beide weisen daher die Richtung für die Volksbühne.

Richard Wagner erklärte einmal, im Theater lägen die Keime und Kerne aller national-poetischen und national-sittlichen Geistesrichtung und kein anderer Kunstzweig könne je zu wahrer Blüthe und volksbildender Wirksamkeit gelangen, ehe nicht dem Theater sein allmächtiges Antheil hieran vollständig zugesichert sei. In diesem Sinne möchte ich im Theaterwesen in derselben Weise mit veralteten Anschauungen brechen, in welcher in Amerika mit der Tradition der Kirche, die, wie es in der Natur der Sache liegt, noch viel fester eingewurzelt war, gebrochen wurde. Solange die Kirche nicht für sich eine lebendige Volkskirche sein kann, soll das von national-sittlichen Gesichtspunkten geleitete Volkstheater die Kirche ersetzen oder es soll das Volkstheater zur Theaterkirche werden. Es handelt sich hierbei nur darum, die natürlichen Instinkte und Regungen des Volkes nicht in eine bestehende Schablone zu zwängen, in welcher sie nur widerwillig ausharren, sondern diesen Instinkten nachzugeben und die sittliche Erziehung von den Gesichtspunkten aus zu leiten, welche die Eigenart der Menschen selbst an die Hand geben. Wer die freiwillige sittliche Erhebung nicht in der Kirche suchen will, soll sie im Theater finden können.

Das Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Das Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Das Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio
Das Teatro Olimpico in Vincenza. Architekt Andrea Palladio

Deshalb fordere ich ein Theater mit folgenden Eigenschaften:

  1. Der Zuschauerraum ist nach dem Vorbilde des antiken Theaters zu gestalten. Seine Fassungskraft,nicht unter etwa 4-5000 Personen, ist abhängig zu machen von der wirthschaftlichen Selbsterhaltung des Theaters und von den örtlichen Bedingungen. Das Eintrittsgeld ist möglichst niedrig zu bemessen, nicht aber ganz zu erlassen, damit der Besucher sich in einem Rechte fühlt und nicht das drückende Gefühl einer genossenen Wohlthat hat. An einem Tage der Woche nur ist das Eintrittsgeld für die Aermsten der Armen zu erlassen.
  2. Alle Plätze sind möglichst einander gleich, mit Ausnahme einer Reihe Vorderplätze für Besucher, die schlecht sehen oder hören.
  3. Die prunkvollen Vestibüle und Foyers sind in behagliche Lesehallen und Räume für vorübergehende Kunstausstellungen umzuwandeln.
  4. Sämmtliche Logen, insbesondere die Prosceniumslogen und das Proscenium selbst fallen fort. Der Zuschauerraum bildet grundsätzlich die Fortsetzung der Bühne. Es liegt kein Grund vor, die Unmittelbarkeit des Bühnenbildes durch einen „mystischen Abgrund“, der augenscheinlich nur ein Verlegenheitsmittel war, zu schwächen. Wie in der Wirklichkeit erlebt der Zuschauer die Vorgänge der Bühnen-Darstellung mit. Wie in der protestantischen Kirche der Priester ein Glied der Gemeinde, so soll der Schauspieler ein Mitglied der Volksmenge sein. Es liegt kein Grund vor, vor dem Vorhang eine andere Welt anzunehmen, wie hinter dem Vorhang.
  5. Der Vorhang soll nicht trennen, sondern lediglich vorübergehend verdecken. Er bedeutet keine grundsätzliche Scheidung zwischen Zuschauer und Bühne, sondern lediglich ein bühnentechnisches Requisit.
  6. Die Bühne schiebt sich nach Art der antiken Orchestra möglichst weit in den Zuschauerraum vor, um die Entfernung zwischen Schauspieler und äusserstem Zuschauer auf ein Mindestmaass zu verringern. Für die Requisiten und Bühnenaufbauten ist nach Möglichkeit die natürliche vollrunde Gestaltung zu wählen, um dem Zuschauer von allen Seiten ein ansemessenes Bild darbieten zu können.
  7. Der Scenencharakter der Bühne setzt sich in gemalten Darstellungen fort, welche sich oberhalb der Sitze an den Wänden des Zuschauerraumes hinziehen. Die Decke des letzteren ist dem scenischen Bilde jeweils anzupassen. Der Zuschauer muss das Gefühl haben, inmitten der Oertlichkeit und der Handlung des Dramas sich zu befinden. Auf S. 405 ist ein künstlerischer Einbau in das Amphitheater des Krystallpalastes in Leipzig, vom Architekten Prof. Carl Weichardt in Dresden, wiedergegeben, welcher ungefähr die Absichten des Verfassers darstellt. Hier finden sich auch die malerischen Darstellungen an den Wänden über den Zuschauersitzen.
  8. Aus ökonomischen und künstlerischen Gründen der Aufführung ist für die Dichtung die alte Einheit von Zeit und Ort wieder anzustreben.
  9. Die Ausstattung des Hauses sei schlicht, aber zweckmässig.

Soweit meine Vorschläge. Es wird ihnen nicht an Gegnern fehlen, an Gegnern aus künstlerischen und theatertechnischen Gründen. Erstere kann ich nicht überzeugen, denn Kunstempfindung ist Gefühlssache. Letztere weise ich auf die werthvollen scenischen Errungenschaften im Zirkus hin. Wenn mit Bezug auf diesen vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist, so kann umgekehrt vom Lächerlichen zum Erhabenen auch nur ein Schritt sein, d. h. es können die oft sehr scharfsinnigen Errungenschaften des Zirkus sehr wohl den Zwecken des Volkstheaters dienstbar gemacht werden. Wenn man das Wirken desjenigen, der den ersten praktischen Schritt zur Gewinnung einer Volksbühne unternahm, wenn man das Wirken Richard Wagners vergleicht mit dem Ziele, welches für die Volksbühne anzustreben ist, so ergeben sich eine Reihe tiefbegründeter Verwandschaften. Mit Recht hat Hans von Wolzogen das Wirken Richard Wagners als eine organische Einheit aus drei Faktoren bezeichnet: als eine Einheit aus seinen Kunstwerken, aus dem von ihm begründeten „idealen“ Theater und aus dem zu beiden gehörigen „idealen“ Publikum.

Alle drei Faktoren kommen auch bei der Volksbühne, wenn auch in anderer Weise, in Betracht. Ueber die sorgfältige Wahl der Werke soll hier nicht weiter gesprochen werden; sie bildet ein sehr wichtiges Kapitel für sich. Das „ideale“ Theater ist an anderer Stelle erörtert. Zu dem „idealen“ Publikum werden die Kreise nicht gehören, welche für die Schauspielkunst nur die „intime“ Wirkung gelten lassen. Hier wird eine scharfe und auch sachgemässe Trennung umsomehr stattfinden, als eine solche Trennung den thatsächlichen Verhältnissen entsprechen würde. Ebenso wenig, wie man bei dem augenblicklichen Stand der Volksbildung dazu schreiten würde, auf einer Volksbühne das Wagner’sche Musikdrama ständig aufzuführen, obwohl es nach der Macht seines Ausdruckes wohl geeignet hierzu wäre, ebenso wenig wird man das feine Konversationsstück auf die Bühne des Volkstheaters bringen können, auch wenn diese wirklich in der Lage wäre, den Innenraum des Wohnhauses wieder zu geben. Es wird also fast die gesammte sogenannte moderne Dichtung sich in gleicher Weise einen eher kleineren als mittelgrossen Raum suchen müssen, wie ihn August Strindberg suchen müsste, wenn er die Forderungen seines programmatischen Vorwortes zu „Fräulein Julie“ erfüllen wollte. Hier heisst es: „Mit einem modernen psychologischen Drama, wo die feinsten seelischen Empfindungen sich mehr in den Gesichtszügen als in den Bewegungen und im Geschrei widerspiegeln sollen, thäte man wohl am besten, es mit starkem Seitenlicht auf einer kleinen Bühne und mit Schauspielern ohne Schminke oder zum mindesten einem Minimum davon zu versuchen. – – Könnten wir das sichtbare Orchester mit seinem störenden Lampenlicht und den gegen das Publikum gewandten Gesichtern los werden, würde das Parkett so erhöht. Dass die Augen des Zuschauers höher träfen, als auf die Kniee des Schauspielers; schafften wir die Prosceniumslogen ab und dazu vollständige Dunkelheit im Theater während der Vorstellung, sowie zuerst und vor allem eine kleine Bühne und einen kleinen Zuschauerraum, dann könnte vielleicht eine neue dramatische Kunst erstehen und das Theater wieder eine Institution zur Freude der Intelligenteren werden.“ Dieser Vorschlag Strindbergs nun wird von Maximilian Harden besprochen und dieser feine Theaterkenner meint dazu: „Strindberg will hier durch äussere Bühnenreformen einem vermeintlichen Uebelstande abhelfen, der tief im Wesen aller theatralischen Kunst wurzelt; sein Gedanke ist nur logisch und gewiss geistreich; die Ausführung aber würde höchstens ein Theater für Feinschmecker schaffen, statt einer Schau-Bühne für alle empfindenden Menschen.“ Man wird dazu sagen können, dass, wer in der Lage und Willens ist, z. B. Ibsens „Rosmersholm“ oder Hauptmanns „Einsamen Menschen“ zu folgen, in der That ein Feinschmecker sein muss. Psychologische Dramen dieser Art, oder, um noch einen Schritt weiter zu gehen, die dramatische Vivisektion, welche August Strindberg in seinen „Gläubigern“ dem Zuschauer darbietet, sind thatsächlich „caviar for the general“, und wie sie überhaupt nur eine kleine Gemeinde haben können, so können sie nur vor einer kleinen Zuhörerschaft von 500-600 Personen zur Darstellung gelangen, wenn ihre Feinheiten erkannt und gewürdigt werden sollen. Es liegt nun aber auch etwas von den Grundzügen der Shakespeare-Bühne darin, wenn August Strindberg in seinem programmatischen Vorworte erklärt: „Was die Dekorationen anbetrifft, so habe ich von der impressionistischen Malerei das Unsymmetrische und Abgeschnittene entlehnt und glaube dadurch die Illusion zu erhöhen; denn dadurch, dass man nicht die ganze Scene und das ganze Möblement sieht, ist es einem möglich gemacht, den Raum zu ahnen: die Phantasie wird erregt und ersetzt das Fehlende.“ Trotzdem aber wird man die Shakespeare-Bühne vom künstlerischen Standpunkte aus nur als einen antiquarischen Irrthum bezeichnen können, den man vielleicht schon längst eingesehen hat, aber nunmehr nach und nach auch zuzugestehen beginnt. Bei den Aufführungen auf der Shakespeare-Bühne in München hat man im Laufe der verflossenen 10 Jahre manche Konzession an den modernen Geschmack gemacht. Das Bestehen der kleinen und kleinsten Bühnen neben der Volksbühne wäre demnach keine vorübergehende Modeerscheinung, als welche dieses vielfach dargestellt wurde, sondern wenn man nach kleineren Theatern verlangt, so ist dieses Verlangen, welches bestehen wird, so lange die Dichtung lebt, ein dauerndes und es gründet sich auf das Behagen eines fein organisirten Zuschauers in gleicher Weise, wie auf die Forderungen des Darstellers, welcher den nicht unberechtigten Anspruch erhebt, dass zwischen ihm und dem Zuschauer jener lebendige Funke hin- und herspringe, welcher den seelischen Inhalt des Dramas auf den Zuschauer überträgt und in diesem verwandte Empfindungen entzündet. Und es gründet sich nicht zuletzt auf die Forderungen, welche die so ausserordentlich feinen Ausdrucksformen des intimen Dramas erheben können. Man denke an eine Aufführung der Dichtungen von Maurice Maeterlinck. Keinesfalls wird derjenige, welcher gewöhnt ist, den Regungen der Litteratur mit unbefangenem künstlerischen Verlangen zu folgen, diese Dichtungen, so absonderlich sie sich manchmal darstellen mögen, missen wollen. In einem aber auch nur mittelgrossen Theater sind sie wirkungslos. Für Stücke wie „Les Aveugles“, „l’Intruse“, „Intérieur“, „La mort de Tintagiles“, in welchen „man musizirt in Worten, denkt in Tönen, sucht durch Wortklänge Bilder hervorzurufen, durch Farben Empfindungen auszudrücken“, sind Theater von höchstens 800 Sitzplätzen die gegebenen Räume. Hier kann das Unsagbare nur angedeutet werden, hier können von symbolischen Bildern überströmende Verse gesprochen werden, „die sehnsuchtsvoll, tief melancholisch, wie Schemen zerfliessen“. Hier befindet sich der Zuschauer in der Stimmung, „der feierlichen, ununterbrochenen Zwiesprache eines Wesens mit seinem Schicksal“ zu lauschen; hier kann er, wie beim „Eindringling“, in die Lage kommen, „nicht zu wissen, wo man ist, nicht zu wissen, woher man kommt, nicht zu wissen, wohin man geht.“ In solchen Räumen ist auch die Schicksalstragödie Ibsens mit ihrer unendlich feinen Seelenmalerei zu Hause. Hier wird auch die Ranganordnung ihre Berechtigung haben, denn es gilt, den Zuschauer in einen intimen Kontakt mit dem Schauspieler zu bringen, die Entfernung zwischen Beiden möglichst zu verkleinern. Dass die Forderung nach kleinen Theatern eine alte, ja eine sehr alte ist, beweist, wenn man über die Bewegung, welche in Wien nach der Eröffnung des neuen Burgtheaters sich erhob und welche zum Ziel hatte, neben dem neuen Hause ein zweites wesentlich kleineres zu haben, hinweg gehen will, ein Vorfall aus der Theatergeschichte Berlins aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts. Als nach dem Brande des alten Schauspielhauses am 29. Juli 1817 Schinkel den Auftrag zur Verfassung von Entwürfen zu einem neuen Gebäude erhielt, schrieb er an den König unter anderem: „Was die Grösse des Raumes für das Theater anbetrifft, so glaube ich, dass es gerade das mittlere Verhältniss zwischen dem Operntheater, welches rd. dreitausend Menschen fasst, und einem dritten noch zu bauenden Theater halten wird, indem es zu rd. 1600 Menschen berechnet worden ist.“ Man wird nicht fehl gehen, wenn man die Besucherzahl dieses dritten Theaters auf 700-800 Personen ansetzt.

So wird denn das Volkstheater in der Welt der Bretter seine Stellung einnehmen können, ohne den bestehenden Zuständen einen anderen als nützlichen Eintrag zu thun. Der würdige Rahmen für die Schöpfungen der Antike, für die Werke Schiller’s, Goethe’s, Kleist’s und derer, welche den Versuch unternehmen wollen, in ihrem Sinne in unserer Gegenwart weiter zu schreiten, ist nicht das goldstrotzende Proscenium, sondern das ist der auf innerliche Theilnahme an einer ernsten Kunstübung gestimmte Zuschauerraum, der nichts anderes ist, als eine Fortsetzung der Bühne, in welchem sich die Zuschauer inmitten der Handlung wähnen und in ihrer Phantasie zu erhöhter mitschaffender Thätigkeit angeregt werden. In dem lebendigen Miterleben, nicht in der mystischen Absonderung Wagners, lag ein Hauptfaktor der sozialen Kraft der antiken Bühne. In München ist das Richard Wagner-Theater monumental erstanden, möge in Berlin bald ein wirkliches Volkstheater erstehen und in ihm die Alltrösterin Kunst der Menge die befreiende und befriedigende Illusion geben. –

Dieser Artikel erschien zuerst am 17., 24.08., 19., 25., 28.09.1901 in der Deutsche Bauzeitung.