Dachgärten der Grossstadt

Wenn der Ruf von der Rückkehr zur Natur auch nicht immer berechtigt erscheint, auf dem Gebiet des Gefühlslebens, das in der Großstadt so oft vernachlässigt wird, kann nur die Natur helfen.

Denn ihr gegenüber schweigt jedes Denken und alles rein intellektuelle Leben; es herrscht nur das Gefühl, dessen Wichtigkeit besonders im Leben und in der Entwicklung des Kindes noch immer zu viel übersehen wird.

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Das Großstadtkind vor allem leidet an zu viel Kultur und zu wenig Natur. Man zeige einer kleinen Großstadtpflanze einen leuchtenden Sonnenuntergang, eine prächtige Blüte, man lasse das Kind einer Nachtigall lauschen und frage es dann, was es fühlt. Das Resultat solcher Fragen und Beobachtungen wird gewiß oft negativ und beschämend sein. Es ist darum die vornehmste Aufgabe aller derer, die es angeht, das Gefühlsleben der Großstadtkinder durch freien Verkehr mit der Natur planmäßig zu bilden und zu heben. Die Schule kann dafür nicht alles thun, die Erholungszeit nach der Schule, die freien Stunden nach der Arbeit müssen unmittelbare Naturfreuden geben. Das Nützlichste, schönste und Angenehmste zu solchem direkten Naturumgang ist selbstverständlich ein Garten. Wo aber findet das Kind unserer modernen Riesenstädte, das eingemauert ist in die trostlose, nackte Steinöde der turmhohen Mietshäuser, dies allernotwendigste Stückchen freier Naturentfaltung?

Sommerabend auf dem Dach
Auf dem Dach – Kinder im Sande

In den engen Höfen sicherlich nicht und auch nicht in den meist prunkvollen Vorgärtchen, die kein Mensch betreten darf, die nur da sind zum kümmerlichen Schmuck meist unschöner Stuckfassaden. Es schien für das arme Kind keine Hilfe zu geben. Und doch fand man in einzelnen Städten, zunächst besonders in Amerika, ein einfaches und praktisches Mittel, den Kindern der Weltstadt Rückkehr zur Natur und Anschluß an die Allmutter zu ermöglichen. Man schuf auf den flachen Dächern der hohen Häuser Gärten. Es wurden nicht nur kleine, bescheidene Gärtchen mit traurigen Topfpflanzen und einem staubigen Oleanderbaum im Kübel angelegt. Nein, das ganze Dachviereck eines großen Häuserblocks wurde vereinigt, Erde wurde hinaufgeschafft, kleine Bäume wurden gepflanzt, Rasen gesät, schöne Kieswege und wo es möglich war, große Kiesplätze hergestellt – kurz es wurde in möglichst vollkommener Art hoch droben in luftiger Höhe ein natürliches Kinderparadies geschaffen, das von allen kleinen Bewohnern des Hauses mit Jubel erstiegen und benutzt wird. Zunächst will ein Spielen und Toben so hoch auf diesen vielstöckigen Häusern gefährlich und wenig vertrauenerweckend erscheinen. Die Höhe erschreckt manchen. Aber ein handfestes, engspaltiges, sehr hohes Holzgitter schließt die Gärten ringsum ab, die Furcht vor der Gefahr selbst tötet den Wagemut auch des wildesten Knaben, ein Sturz in die Tiefe ist nach menschlichen Sicherheitsvorkehrungen ausgeschlossen. Und demgegenüber ist der Wert solcher Spielplätze in freier Luft gerade für die Armen und Aermsten der Stadt auch in gesundheitlicher Beziehung unermeßlich. Die Reichen eilen nach Schluß der Geschäfte hinaus in ihre freien Villen und Wohnungen, der Mittelstand macht wenigstens seine Spaziergänge und Sonntags seine Ausflüge ins Freie. Aber die wirtschaftlich Schwachen und Kleinen sind in die dumpfen Kellerlöcher, in die kleinen Räume der engsten Gassen zusammengepreßt, sie sehen den Himmel kaum, atmen die schwere Asphaltluft und werden gleichgiltig und stumpf gegen Natur und gegen Hygiene. Da ist es denn eine Lust, alle armen Kinder hinaufzuschicken in luftige Höhen, eine Erholungs- und Bildungsstätte zu schaffen und denen, die die Zukunft unseres Volkes tragen, Seele und Leib zu stärken für den schweren Lebenskampf.

Säen und pflanzen im Dachgarten

Auf unsern Bildern, die solche Dachgärten in verschiedener Art und Verwendung zeigen, läßt sich deren Bedeutung für die Großstadtkinderwelt leicht erkennen. Hier ist ein Spielplatz, groß, weit, für alle Lauf- und Bewegungsspiele trefflich geeignet; dort ist ein kleines Gärtchen, das sich die Kinder selbst mit Matratze zum schlafen und einigen Bäumen und Pflanzen „wohnlich“ gemacht haben; und in dem dritten Garten sind die Kleinen mit ihrer liebsten Arbeit beschäftigt, mit säen und Pflanzen, das so viel stille Hoffnungen und lebhafte Phantasie entwickelt. Hier oben sieht wirklich das Auge den Himmel offen.

Die Kinder beim Spiel

Und die Luft ist gut und frisch, und der Blick weit. Das muß und wird für vieles entschädigen, das naturgemäß dem Dachgarten gegenüber den glücklicheren Brüdern drunten in der Tiefe fehlt. Auf jeden Fall ist die Idee glücklich und, wie wir sehen, wohl ausführbar.

Dieser Artikel erschien zuerst am 19.07.1902 in Die Woche.