Schutzfärbungen bei Insekten

Der Kampf um das Dasein herrscht auf dem ganzen, großen Gebiet der Natur. Jedes Tier hat seine Feinde denen es auf alle mögliche Art zu entgehen sucht, sei es durch eine Schutzfärbung, sei es durch Anpassung an Gegenstände, denen es in Gestalt, Färbung, Zeichnung und Bewegungsweise bis zum Verwechseln ähnlich wird. Manche Insekten kopieren andere Arten, die ihres üblen Geschmacks, Geruchs oder ihrer harten Flügeldecken wegen von insektenfressenden Tieren unbehelligt bleiben, also Doppelgänger dieser Geschöpfe sind.

Aber auch tote Gegenstände werden von dem Insekt nachgebildet. Es giebt Schmetterlinge und Heuschrecken, die Baumblätter so natürlich nachäffen, daß sie, im Laub sitzend, von diesem nicht zu unterscheiden sind. Diese Tiere versäumen es auch nie, bei Nachstellungen mit größter Regelmäßigkeit sich im Laub zu verbergen, und hier sind sie vollständig gesichert. Unter den Schmetterlingen haben es am raffiniertesten in der Anpassung an Laub einige indische Blattschmetterlinge (Kallima) gebracht, die in sitzender Stellung mit zusammengeschlagenen Flügeln überhaupt nicht von einem welken, durchfressenen Baumblatt zu unterscheiden sind. Sie täuschen ein solches verdorrtes Blatt so peinlich genau vor, daß sogar die nachahmende Blattrippenzeichnung der Schmetterlingsflügel Schatten zu werfen scheint. Die Vortäuschung eines Blattes wird beim ruhenden Schmetterling noch dadurch vermehrt, daß die Hinterflügel in eine längere Spitze ausgezogen sind, die vom Tier gegen den Zweig gestemmt werden und so den Blattstiel vorstellen, während die Fühler zwischen den Flügeln verborgen ruhen. so täuscht das Tier ein dürres, welkes Blatt vor, das durch Raupenfraß und Schimmelpilze gelitten hat während der Farbenschmelz auf der in ruhender Stellung nicht sichtbaren Oberseite des Schmetterlings wahrhaft prachtvoll ist.

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Eine ähnliche Anpassung zeigt die bei uns heimische Flechtenmotte (Moma orion), deren Vorderflügel grell schwarz weiß und hellblaugrün gezeichnet sind. Trotz dieser so auffälligen Zeichnung ist das an einer Flechte ruhende Tier kaum zu sehen. Aeffen einige Tiere in dieser Weise Blätter und Laub nach, so werden wieder andere zu Zweigen, um sich zu schützen. Viele Spannerraupen wissen den Beobachter in ganz seltsamer Weise zu täuschen. Sie stützen sich zuweilen auf ihre hintersten Beine, strecken sich in gerader Richtung unter einem gewissen Winkel zum Zweig, auf dem sie sitzen, verbleiben längere seit in dieser Stellung und ahmen so ein Zweigstück nach.

Flechtenmotte, die zu ihrem Ruheplatz fliegt

Ganz bizarr dagegen sind die Stab- oder Gespenstheuschrecken geformt. Ihr langgezogener, wie Rohr gegliederter Körper, der vollständig flügellos ist, die unsymmetrisch abstehenden dünnen Beine und die ganz eigentümliche Gewohnheit dieser kleinen Tiere in der Ruhe, das erste Beinpaar dem Kopf eng und fest anzulegen und in gerader Richtung auszustrecken, täuschen ganz genau Aeste und Zweige vor. Während der Tagesstunden ruhen diese Heuschrecken, und zwar dort mit besonderer Vorliebe, wo sie in der Nacht vorher das Laub bis auf die Blattrippen verzehrt haben.

Das hierdurch verursachte vollständige Fehlen größerer Blattgruppen gestaltet das Auffinden dieser Tiere ganz besonders schwierig.

Indischer Blattschmetterling, links sitzend, rechts fliegend

Das Nachäffen von Blättern und Zweigen ist der denkbar günstigste Schutz für alle Insektenarten. Daß solche Eigentümlichkeiten erst im Kampf um das Dasein erworben und dann vererbt worden sind ist zweifellos; sind die Resultate der natürlichen Züchtung. Das Verständnis der Faktoren, durch die diese oft bis auf die geringsten Einzelheiten eingehende und bis zur vollendetsten Täuschung führende Nachahmungen zuwege kommen, wurde erst durch die bekannte Theorie Darwins von der natürlichen Auslese möglich. Vorher hatte man über die Ursachen dieser Nachahmungen und Anpassungen die seltsamsten und abenteuerlichsten Vermutungen aufgestellt.

Dieser Artikel von Dr. E. Bade erschien zuerst am 09.08.1902 in Die Woche.