Politische Verbrecher

Von Professor C. Lombroso (Mailand). Das politische Verbrechen ist schon durch seine Natur vom gemeinen Verbrechen verschieden.

In meinem Werk „Der politische Verbrecher und die Revolutionen“ habe ich eingehend nachgewiesen, daß das politische Verbrechen im Gegensatz zu den meisten gemeinen Verbrechen, die ihren Ursprung in einem wesentlich egoistischen Motiv haben, aus einem übertrieben altruistischen Beweggrund hervorgeht.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Gerade deshalb stehen die politischen Verbrecher allein für sich. Unter den gemeinen Verbrechern giebt es verhältnissmäßig nur wenige, die sich vom Augenblick hinreißen lassen; die überwiegende Mehrzahl besteht aus geborenen Verbrechern, aus Individuen, die – einem organischen, angeborenen Bedürfnis folgend – das Böse um des Bösen willen begehen; einen sehr großen Teil bilden auch die Zufallsverbrecher, während die Wahnsinnigen fast verschwinden. Unter den politischen Verbrechern sind indessen die geborenen wie die Zufallsverbrecher in unbedeutender Minderzahl, Fanatiker und Irre dagegen in der Mehrzahl.

Abb. 1-4

Man braucht gar nicht die überaus traurige Geschichte der Königsmörder Hödel, Nobiling, Reinsdorff, Stellmacher, Kammerer, Fieschi und der Fenier Brady, Hanlon und Fitzharris (Abb. 1-9) zu kennen. Schon ihre abstoßende Gesichtsbildung läßt ersehen, daß es unter den politischen Mördern geborene Verbrecher giebt. Auch andere Momente weisen auf diese Zugehörigkeit hin. So finden wir bei ihnen z. B. die so häufig wiederkehrenden Tätowierungen, die auf politische Vorgänge Bezug haben, ferner auch den eigentümlichen Jargon, den sie in ihren Zeitungen gebrauchen. Ein letzter Beweis ist schließlich, daß ihnen jedes moralische Gefühl fehlt. Der Tod und die Ermordung eines Menschen, auch ohne politischen Grund, erschüttern sie meist so wenig, daß sie ihnen fast ein Lächeln abgewinnen.

Abb. 5-8

Nach den Beziehungen, die ich zwischen Epilepsie und angeborenem Verbrechertum nachgewiesen habe, fehlen unter den politischen Verbrechern auch nicht die Epileptiker Monzes z. B., der einen Attentatsversuch auf den Präsidenten Roca beging, war epileptisch. Wahrscheinlich auch Marat (Fig. 10); wenigstens weisen die Unregelmäßigkeit seiner Gesichtszüge, sein ganzer Typus und seine Grausamkeit darauf hin.

Der größte Teil der politischen Verbrecher wird aber aus Leidenschaft oder Fanatismus zum Verbrecher.

Wie ich schon wiederholt nachgewiesen habe, zeigt der Verbrecher aus Leidenschaft in seiner Gesichtsbildung sowie in seiner geistigen und körperlichen Entwicklung nicht jene traurige Erscheinung, die das zum Verbrecher geborene Individuum kennzeichnet. Sein Gesicht hat einen menschlichen Ausdruck. Die kräftigen und weichen Züge stimmen zusammen, es fehlt nicht an reichlichem Bartwuchs, und die Stirn erreicht die durchschnittliche Höhe.

Abb. 9-12

Zu diesen eigentümlichen Mördern sind auch die mittelbaren Selbstmörder zu rechnen. Sie töten das Oberhaupt eines Staates, oder besser gesagt, sie versuchen es mit der größtmöglichen Ungeschicklichkeit zu töten, um auf diese Weise ihrem eigenen Leben ein Ende zu machen; es selbst zu thun, dazu besitzen sie nicht den genügenden Mut.

Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit bietet uns dafür der Spanier Oliva y Manenso (Abb. 11), der gegen das Leben des Königs Alfons ein Attentat versuchte. Widerspenstig von Charakter und nur mäßig begabt, hatte er sich dem Studium der Mathematik gewidmet, während seine Familie ihm eine schöngeistige Erziehung geben wollte. Da er jedoch weder hierin noch darin Erfolge aufzuweisen hatte, gab er das Studium auf und wurde nacheinander Bildhauergehilfe, Typograph, Landarbeiter, Böttcher und Soldat. Als solcher legte er sogar eine gewisse Tapferkeit an den Tag. Schließlich wurde er Apotheker. Genährt durch die Lektüre ultraliberaler Bücher und Zeitungen war seine politische Leidenschaft inzwischen jedoch so gewachsen, daß er wenig und schlecht arbeitete. Da er die Widerwärtigkeiten eines Lebens, das seinem Geschmack so wenig entsprach, nicht ertragen konnte, äußerte er wiederholt die Absicht, sich zu töten. Endlich erhielt er von seinem Vater eine kleine Unterstützung, um sich in Algerien eine neue Existenz zu gründen. Statt dessen ging er jedoch nach Madrid und beging das Attentat gegen den König.

Ein andrer Verbrecher, Passanante (Abb. 12), erklärte gleich nach seiner Verhaftung, er habe das Attentat auf den König im Bewußtsein begangen, daß es ihm das Leben kosten würde, das ihm unter der Behandlung seines Meisters zum Ekel geworden sei. In der That beschäftigte ihn noch zwei Tage vor dem Attentat seine Entlassung mehr als der Königsmord. Bei seiner Verhaftung gab er sich deshalb auch alle Mühe, seine Lage zu erschweren. Er selbst bedeutete den Beamten, das revolutionäre Plakat nicht zu übersehen, auf das er , Tod dem König, hoch die Republik!“ geschrieben hatte. Wenn man seine Eitelkeit hinzurechnet, so ist es wohl erklärlich, warum er es verschmähte, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Bei der Verkündigung der Begnadigung dachte er nicht an das gerettete Leben, sondern In die Beurteilung, die diese Maßnahme finden würde.

Aber den sichersten Beweis dieser verborgenen Triebfeder des mittelbaren Selbstmordes bietet folgendes merkwürdige psychologische Dokument, das ich der Liebenswürdigkeit der Königin von Rumänien verdanke. Königin Elisabeth. ist ja nicht nur als Carmen Sylva eine bekannte Dichterin, sondern auch gleichzeitig eine wohlbekannte Gelehrte, die fähig ist, neue wissenschaftliche Gesichtspunkte zu erfassen.

Abb. 13-16

Ein dreißigjähriger Rumäne, der, wegen Mordes zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt worden war, griff unerwartet das Leben des Königs an. Von der Straße aus schoß er in das beleuchtete Fenster, jedoch so, daß kaum die Scheiben getroffen wurden. Eine Hausdurchsuchung bei ihm förderte mehrere Photographien von ihm zu Tage, auf denen er wie ein Räuber bewaffnet erschien.

Abb. 17-20

Auf einer andern (Abb. 20) stand er in der Pose des Selbstmörders, den die Geliebte an der Ausführung seines Vorhabens verhindert. Augenscheinlich handelt es sich hier um eine schwächliche Anwandlung, um ein eitles Spielen mit dem Selbstmord, und zwar zu einer Zeit, die der That voranging. So kennzeichnet sich auch dieses Verbrechen als ein mittelbarer Selbstmord.

Auch Vaillant und Henry sind für mich mittelbare Selbstmörder, vielleicht auch Sega, der es beklagte, daß auf solche Verbrechen in Italien nicht die Todesstrafe stehe, und Caserio, der vor Ausführung der That äußerte, Enthauptung sei ja schließlich nicht so schmerzhaft. Henry verbat sich auch den Hinweis seines Verteidigers und seiner Mutter auf den Wahnsinn des Vaters und machte die Geschworenen darauf aufmerksam, daß es das Geschäft des Advokaten sei, ihn zu verteidigen; er wolle aber sterben.

Hierher gehören auch Bruti, Orsini (Abb. 13), Pisacone, Karl Sand, Straps, Michailoff (Abb. 14) und die Frauen Perowskaja (Abb 15), Charlotte Corday (Abb. 16) und Wjera Sassulitsch (Abb. 17). Fast alle sind jung, zwischen 18 und 26 Jahren. Vater oder Großvater der meisten waren politische Fanatiker, so die von Charlotte Corday, Orsini, Padelewski, Booth und Nobiling. Vor allem unter-scheiden sie sich vom gemeinen Verbrecher sowohl wie vom normalen Menschen durch übertriebene Gutherzigkeit, Rechtlichkeit und krankhaften Altruismus.

Sand lebte und starb wie ein Heiliger, so daß der Ort seiner Hinrichtung vom Volk „Sands Himmelfahrtswiese“ getauft wurde. Vom Nihilisten Lisagub schreibt Stepniak, daß er – obwohl Millionär – wie ein Bettler lebte, um aus seiner Tasche die Kasse seiner Gesinnungsgenossen zu füllen. Seine Freunde mußten ihn mit Gewalt daran hindern, sich durch Entbehrungen krank zu machen. Dasselbe gilt vom Italiener Caserio.

Bei diesen Charakteren muß außerdem das Bedürfnis und das Verlangen in Betracht gezogen werden, das sie erfüllt, Schmerz zu fühlen und zu erdulden.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

„Um das Leiden ist es eine schöne Sache,“ sagt ein politischer Held Dostojewskijs. „Gut ist das Gefühl danach; noch besser und stärker leiden wir, wenn es sich um eine große Idee handelt, manchmal fehlt auch diese, wie wir z. B. gern von Bitterem essen, ohne andern Zweck, als um Bitteres zu leiden.“ Dies läßt sich besonders bei Fanatikern beobachten, die sich geißeln lassen und stechende Büßerhemden zu Ehren eines Heiligen oder einer Liebe tragen. So erklärt sich auch die erhabene Unklugheit der Nihilisten und der christlichen Märtyrer.

Eine der Angeklagten im Prozeß der Fünfzig in Petersburg, die infolge der Leiden und der Tuberkulose dem Tode nahe stand, hielt vor ihren Richtern eine begeisterte Rede, deren Schwung schon zur Genüge zeigt, wie hoch in ihrer Brust das Gefühl der Opferfreudigkeit entflammt war.

„Beschleunigt mein Ende, Richter, verurteilt mich ohne weiteres! Schwer und schrecklich ist mein Verbrechen. In graue, grobe Wolle gekleidet, verrucht genug, um barfüßig zu gehen, habe ich mich auf den Weg dahin gemacht, wo unsere Brüder seufzen, wo des Elends und der Arbeit kein Ende ist. Wozu Phrasen und Reden! Bin ich nicht ohne weiteres der Schuld überführt? Bin ich nicht das Verbrechen selbst? Die Schulter noch bedeckt mit Bauernkleidern, mit bloßen Füßen und schwieligen Händen, stehe ich vor euch, gebrochen von mühseliger Arbeit. Aber den schwersten Beweis gegen mich rage ich in mir: die Liebe zu meinem Vaterland. So schuldig ich aber auch bin, ihr Richter seid machtlos gegen mich. Jawohl, ich bin unzugänglich für jede Strafe, weil ich einen Glauben besitze, der euch fehlt, den Glauben an den Sieg meiner Gedanken. Ihr könnt mich zum Leben verdammen, aber mein Leiden, wie ihr seht, wird mir die Strafzeit kürzen. Ich werde sterben, das Herz von einer großen Liebe erfüllt, und die Henker selbst werden die Kerkerschlüssel zur Erde werfen, in Thränen ausbrechen und an meinem Sterbekissen beten.“

Renan schreibt gerade das Anwachsen des Christentum – abgesehen vom Genie Christi und seiner Vorläufer der Essäer – der wahrhaft leidenschaftlichen Opferfreudigkeit seiner Nachfolger zu. Diese Leidenschaft war so mächtig daß z. B. Justinus und Tertullian durch den bloßen Anblick der Märtyrer in ihrem unbeugsamen Mut bekehrt wurden.

Dadurch, daß diese sich widersprechenden Charakterzüge nebeneinander bestehen, erklärt sich eine der sonderbarsten psychischen Eigentümlichkeiten, die die politischen Verbrecher kennzeichnet. Seien sie nun Wahnsinnige, Narren oder bloß Fanatiker, sie haben zwei Seelen, ein doppeltes, sich widersprechendes „Ich,“ das sie nicht bloß als zwei verschiedene, sondern als vollständig einander entgegengesetzte Individuen erscheinen läßt.

Auch P. Desjardins führt diese Charaktere auf: „Es giebt verbrecherische Anarchisten. Aber viele, die gut sind, verwandeln sich durch allzugroße Empfindlichkeit in Empörer. Ich kannte einen, der sich dem Anarchismus zuwandte, weil er sah, wie ein Meister seinem Lehrling den Arm brach. E. Reclus ist bekannt durch seine übertriebene Güte.“ Alle sagen, daß Pini und Ravachol (Abb. 19) fast alles gestohlene Geld zum Nutzen ihrer Genossen oder ihrer Sache verschwendeten. Spies – so schrieb man mir aus Chicago – wurde wie ein Heiliger von seinen Genossen verehrt, denen er all das Seine hingab. Er verdiente neunzehn Franken die Woche und gab davon zwei einem kranken Freund. Er unterstützte sogar einen Menschen, der ihn beschimpft hatte, so daß seine Genossen sagten, man hätte ihn – wenn er davongekommen wäre – einsperren müssen, damit er der anarchistischen Revolution durch seine Sentimentalität nicht schaden könnte.

Von Caserio erzählt sein Bruder, er sei sanft, von seiner Mutter vergöttert und überaus fromm gewesen, so daß er leidenschaftlich gern bei der Messe ministrierte und jede Prozession des hl. Johannes mitmachte Seinen Freunden machte er zornige Vorwürfe, wenn sie auch nur einen Apfel auf den Feldern stahlen. „Tausendmal beim Schlafengehen,“ sagte er selbst, „denke ich an den Schmerz der Meinen,“ von denen er fern lebte und die ihn zurückriefen, „und beginne zu weinen. Dann aber sagt mir ein anderer Geist, der stärker ist als der erste; nicht du bist die Ursache der Leiden deiner Familie, es ist die gegenwärtige Gesellschaft.“ Und dennoch tötete dieser Mensch, der unfähig gewesen wäre, eine Fliege zu verletzen, einen Carnot, ohne darüber im geringsten Gewissensbisse oder Abscheu zu empfinden.

Santiago Salvador war, bevor er Anarchist wurde, Karlist und überaus bigott. „Der größte Teil der Anarchisten,“ schreibt Bordeau, gehört zur Gruppe der philanthropischen Mörder, die aus Liebe zum Menschen töten.“

Luccheni (Abb. 18) war nicht bloß sanftmütig und diensteifrig wie ein Mädchen, bevor er Königsmörder wurde sondern schwärmte sogar für den Militarismus und die Monarchie. Dieses doppelte Ich findet sich sogar in seiner Handschrift. Luccheni und Caserio vereinigen nicht nur in verschiedenen Briefen, sondern auch in ein und demselben Zeilen von Groß- und Kleinschrift, je nachdem sie erregt oder niedergedrückt sind. Caserio schreibt in seinen Briefen in gewöhnlichen Zügen, wenn es sich um ihn, um seine Familie u. dergl. handelt (Abb. 22).

Abb. 21

Wenn er aber von der Anarchie oder von politischen Verfolgungen wie in Spanien spricht, dann wachsen seine Schriftzüge ins Ungeheure. Das Wort Spanien nimmt die ganze mittlere Zeile ein. Großschrift ist aber bekanntlich ein Charakterzug der Hysteriker und namentlich der Epileptiker (vergl. Abb. 25).

Das merkwürdigste bezüglich der auffallenden Gesichtsähnlichkeit mit Ravachol aber von mir noch nicht bearbeitete Beispiel, das ich für dieses doppelte „Ich“ besitze, ist das eines gewissen Chierico Giacomo, eines zwanzigjährigen Arbeiters, der sich wenige Monate vorher der Behörde in Turin mit der Angabe selbst gestellt hatte, er sei von den Alexandriner Anarchisten ausgeschickt, König Humbert zu erdolchen. Obgleich er, abgesehen von einigen kleinen Diebstählen an Verwandten, kein wirklich verbrecherisches Leben hinter sich hatte, zeigte er doch den vollendeten Typus des geborenen Verbrechers, so daß er Ravachol wie ein Ei dem andern glich: die Vase platt, die Ohren abstehend, die Stirn schmal u. s. w. Ich fand sein Gesichtsfeld begrenzt und anormal, seinen Tastsinn und seine Empfindlichkeit gegen Schmerz auffällig abgestumpft und konnte Entartung in seiner Familie feststellen. Am sonderbarsten ist jeoch, daß er sowohl seiner Familie als auch uns gegenüber sich für einen fanatischen Anhänger der Monarchie erklärte, so daß er gerade deshalb den sonderbaren Schritt gethan hatte, sich selbst anzugeben. So sehr wir auch im Irrenhaus und im Gefängnis an das Sonderbarste gewöhnt sind, konnten wir uns doch den Grund seines Verhaltens nicht erklären. Wenn ihm seine Verwandten ins Gefängnis eine Flasche Wein brachten und er diese zu hastig austrank, begann er plötzlich anarchistische Lieder und Verse zu deklamieren, stieß unverschämte Todesdrohungen aus und schwang seinen Löffel wie einen Dolch gegen seine Genossen.

Da kam es mir in den Sinn, regelmäßige Versuche mit ihm anzustellen. Ich gab ihm nach und nach 40 bis 90 Gramm 96prozentigen Alkohols. Die erste Dosis rief in ihm teils heitere, teils schwermütige Wahnvorstellungen hervor. Er sah sich von eingebildeten Spionen und Genossen umgeben. Bei der zweiten Dosis aber verfiel er in einen förmlichen Paroxysmus von anarchistischer

Leidenschaft, der in Wutausbrüche ausartete, so daß er auf die Schildwache losging und Todesdrohungen gegen den König ausstieß. In diesem Zustand verfeinerte sich gleichzeitig sein Tastgefühl um das Doppelte, und sein Gesichtsfeld erweiterte sich auf das Dreifache des nüchternen Zustandes (vergl. Abb. 21). Es war merkwürdig, daß er sich einige Stunden später nicht nur wieder in den sanften Menschen von früher verwandelte, sondern auch jede Drohung, jede anarchistische Tendenz vollständig in Abrede stellte, ja sie seinen Genossen zuschrieb. So gelangten wir zur Schlußfolgerung, seine falsche Selbstanzeige sei darauf zuruckzuführen, daß er am betreffenden Tag übermäßig getrunken habe.

Es liegt hier ganz offenbar ein Fall von doppeltem Ich vor, das im Tastsinn, im Gesichtsfeld wie auch in den impulsiven und politischen Neigungen zum Ausdruck kommt. Dieses Ich kann man deutlich in der Erweiterung der Gesichtsfelder (Abb. 21) bemerken, die in diesem Fall unter dem Einfluß des Alkohols, bei Luccheni, Vaillant oder Caserio unter dem Einfluß der Epilepsie oder der heftigen Erregung eintrat.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.