Im Berliner Asyl für Obdachlose

Heimatlos in Berlin, ohne Obdach in der großen, glänzenden, von rauschendem Leben erfüllten Stadt, ohne Zufluchtsort, ohne Schutz gegen Sturm und Schnee, Kälte und Regen, wenn die Nacht sich herniedersenkt auf das gewaltige Häusermeer, allein, ausgestoßen, ohne Ziel umherirrend, hungrig und abgehetzt, ohne Antwort auf die quälend bange Frage: wo kann ich das müde Haupt zur Ruhe niederlegen, wo die ermatteten Glieder ausstrecken, wo Nahrung finden, damit ich neue Kräfte sammle, um von neuem den Kampf um das Dasein aufzunehmen ?

Das Herz krampft sich zusammen, wenn wir diese Unglücklichsten der Unglücklichen sehen, Verzweiflung in den steifen Mienen, vor ihrem Elend selbst erschreckend und scheu entlegene Teile der Stadt aufsuchend, der reichen, lustigen, lebensfrohen Stadt, die für sie kein Fleckchen zu haben scheint zu kurzer Nachtruhe und ihnen nicht spenden will von ihrem Ueberschuß und ihrer Fülle!

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Wenden wir uns nach einer entfernteren Gegend Berlins, nach dem Norden, dort, wo tagsüber in weiten Fabrikanlagen emsige Thätigkeit herrscht, wo in zahllosen Werkstätten von früh bis spät fleißig geschafft wird und der Lärm drängender Arbeit in den langen Straßenzügen unruhiges Echo findet. Frühzeitig ist die Dämmerung hereingebrochen, bleigrau spannt sich der Winterhimmel aus, scharf pfeift der und dichtes Schneegestöber beginnt, so daß durch den immer festeren weißen Schleier die Laternen nur trübe ihr Licht verbreiten und ziemlich undeutlich vor uns ein in rotem Backstein ausgeführtes Gebäude mit mächtigem Schornstein zur Seite und langgestreckten, niedrigen Nebenbauten aufragt. Es bildet das Ziel von Männern jedes Alters und Aussehens, von allen Richtungen nahen sie, viele beschleunigten Schrittes, andere wieder matt und gebrechlich, die meisten erbärmlich gekleidet, in fadenscheinigen, oft geflickten Röcken, vor Kälte zitternd, jetzt aber freudig aufatmend, während die abgehärmten Gesichter einen befriedigten Ausdruck annehmen, denn sie sind nun geborgen für die Nacht, geschützt vor Schnee und Frost: sie haben das Asyl für Obdachlose erreicht!

Im Asyl für Obdachlose in Berlin – Sammelhalle im Männerasyl

Die Aermsten haben nirgends in der Millionenstadt ein anderes Unterkommen und sind glücklich, daß sie dieses Asyl gefunden, begründet und erhalten durch wärmste Menschenliebe und ein stets reges Mitgefühl für die vom Schicksal Verfolgten und Bedrängten. Eine 500 Quadratmeter große Sammelhalle, die durch elektrisches Licht erleuchtet und mittels Dampfheizung gut erwärmt ist, während Ventilatoren für stete Zuführung reiner Luft sorgen, nimmt die Asylisten auf und bietet Platz für 700 Personen – genau die Zahl, denen das Asyl Obdach gewähren kann. Niemand wird nach seinem Namen, seiner Herkunft gefragt, niemand braucht Rechenschaft abzulegen, warum er die Hilfe des Asyls in Anspruch nimmt; er ist obdachlos, ist unglücklich, also ist er hier willkommen, ihm wird das ersehnte Heim gewährt!

Im Asyl für Obdachlose in Berlin – Sammelhalle des Frauenasyl

Und nicht nur das Heim allein. Denn neben der Sammelhalle liegen zwei Säle, der eine zum Waschen, der andere zum Baden eingerichtet, und in kleineren Trupps betreten die Asylisten diese Räume. In dem Waschsaal sind 60 Waschbecken vorhanden für Kalt. und Warmwasser, in dem geräumigen Badesaal 20 Wannen und 56 Brausebäder. Alles ist ungemein praktisch und sauber, und die Angestellten sorgen dafür, daß sich das Waschen und Baden schnell und in Ordnung vollzieht. Die Personen, die baden wollen; entledigen sich im Auskleideraum ihrer Kleidung, die während des Badens desinfiziert wird, und erhalten sie dann in einem besonderen Gemach zurück Welch seltene Wohlthat, dieses Bad für die Aermsten, die tagsüber in den Straßen umhergeirrt sind, vergeblich nach Arbeit forschend, und die mit dem körperlichen Behagen neue Hoffnung gewinnen, daß sie doch noch nicht völlig ausgestoßen sind von der menschlichen Gesellschaft, daß es ihnen vielleicht doch noch gelingen wird, nach vielen Entmutigungen und Entbehrungen, nach trüben, sorgenschweren Wochen und Monden ein Plätzchen an der Sonne zu gewinnen!

Im Wasch- und Baderaum des Männerasyls

Aus dem Wasch- und Badesaal gelangen die Asylisten am Aufnahmeschalter vorüber – ein Beamter weist hier die gewohnheitsmäßigen Bettler und Herumtreiber, die am liebsten jeden Abend das Asyl aufsuchen möchten und dadurch wirklich Bedrängten und Notleidenden die Plätze fortnehmen würden, zurück – in die weite Speisehalle, die 500 Personen Sitzgelegenheit bietet. Von der benachbarten Küche aus, deren Kochkessel für 400 Liter Suppe, 200 Liter Kaffee und 50 Liter Milch eingerichtet sind, werden die Speisen (kräftige Suppe, Brot u. s. w) verabreicht, ferner können die Asylisten hier ihre Kleidung in Ordnung bringen, wozu sie unentgeltlich das Material erhalten. Dann geht’s in die Schlafsäle, 14 an der Zahl, jeder mit 50 Betten, mit Heiz- und Lüftungsvorrichtungen wie elektrischer Beleuchtung versehen. Auch hier fällt die große Sauberkeit angenehm auf; die Fußböden sind aus Terrazzo, die Wände mit geglättetem Zementputz versehen, so daß eine gründliche tägliche Reinigung mittels Wasserspülung erfolgen kann, die Bettstellen bestehen aus Eisen, und die Decken werden häufig desinfiziert.

Im Waschraum des Frauenasyls

Bis zur zehnten Abendstunde dürfen sich die Besucher unterhalten, um diese Zeit müssen sie ihre Lager aufsuchen, und kurz danach erlischt das Licht. Viele sind schon vorher zur Ruhe gegangen und, übermüdet, sofort in einen tiefen Schlaf verfallen; andere flieht der Schlummer, sehnsüchtig gedenken sie vielleicht früherer, besserer Zeiten.

David Hirschfeld, Schatzmeister des Vereins für Obdachlose
Gustav Thölde, Vorsitzender des Vereins für Obdachlose

Zur siebenten Morgenstunde (im Sommer zur sechsten) erheben sich die Asylisten, waschen sich erhalten Kaffee und Brot und können die Arbeitsnachweise einsehen, um darauf in kleineren Trupps aus dem Asyl entlassen zu werden Hinaus geht’s wieder in das erwachende Berlin, von neuem steuert jeder sein Lebensschiffchen in die unruhigen Wellen des flutenden Weltstadttreibens vielleicht, daß es doch bald in einen gegen die Daseinsstürme geschützten Hafen einläuft und einen sicheren Ankerplatz findet.

Im Schlafraum des Männerasyls

Eine Ergänzung des in der Wiesenstraße gelegenen Berliner Männerasyls ist das Frauenasyl in der Füseliestraße, das nach gleichem Muster – nur in kleinerem Maßstab – wie das erste eingerichtet ist. Hier gelangt die düstere Seite der Weltstadt nicht so erschütternd zum Ausdruck. Zunächst ist der Andrang bei weitem nicht so stark, ferner scheinen die Frauen leichter die Fügungen ein ungünstigen Verhängnisses ertragen zu können und finden eher Trost in einem gegenseitigen engen Anschließen und Mitteilen. Ein Besuch dieses Frauenasyls hinterläßt denn auch freundlichere Eindrücke als jener des Männerasyls. Beide Asyle verdanken ihre Entstehung und ihre segenbringende Fortführung. dem Berliner Asylverein für Obdachlose, der bereits auf ein mehr denn dreißigjährige Bestehen zurückblicken kann. Gustav Thölde, der noch heute, hochbetagt zwar, aber rüstig und freudig dem Verein vorsteht, war es, der im Winter 1868 zuerst in weiteren Kreisen der Berliner Bürgerschaft den Gedanken anregte und immer kräftiger belebte, sich der Verlassenen anzunehmen, so daß schon am 3. Januar 1869 das Asyl für obdachlose Frauen und Mädchen eröffnet werden konnte dem kurz danach die Begründung eines Männerasyls folgte. Das gute Herz der Berliner Einwohnerschaft zeigte sich hier wieder einmal in hellstem Licht; kaum hatte man erkannt welch einem zwingenden Bedürfnis der obige Verein entsprach, da flossen reichlich die Beiträge sowie besondere Zuwendungen seitens mildthätiger Männer und Frauen, und im Frühling 1875 konnte in einem eigens dazu errichteten Haus in der Büschingstraße das Männerasyl untergebracht werden. Mit dem überraschenden Wachstum Berlins wuchsen aber auch Not und Unglück, und nach hunderten zählten häufig abends jene Aermsten, die zurückgewiesen werden mußten. Dank reicher Erbschaften und Schenkungen wurde es dem Verein, der in Herrn David Hirschfeld seit langem einen thätigen und umsichtigen Schatzmeister besitzt und dessen Vorstand aus Männern aller Parteirichtungen (Abg. Singer, Kurator des Männerasyls, Dr. Heinr. Braun u. a.) zusammengesetzt ist, ermöglicht, das neue, vor drei Jahren eingeweihte Asylgebäude zu errichten, so groß, so zweckmäßig, wie es keine andere Stadt der Welt besitzt. Neue Opfer und Aufgaben traten damit an den Asylverein heran, und dringend ist es zu wünschen, daß ihm auch neue Mittel zur Verfügung gestellt werden, um seinen hochherzigen Pflichten in immer weiterem Maßstab genügen zu können.

Im Schlafraum des Frauenasyls

Ein zweites Asyl ist das von der Stadt unterhaltene „Städtische Obdach“, das an der Prenzlauer Chaussee liegt und gleichfalls Obdachlosen ohne Entgütung Unterkunft gewährt, nur können sie hier mit der Polizei in Berührung geraten, was bei dem privaten Asyl nicht der Fall ist, da dort die Polizei keinen Zutritt findet. Das städtische Obdach nimmt auch Familien auf, die bestimmte Zeit dort verbleiben können.

Und wie unendlich viel Segen hat das Männer- wie das Frauenasyl schon gestiftet! Zahlen reden die überzeugendste Sprache: im letzten Jahr fanden an 250 000 Besucher gastfreundliche Aufnahme, seit dem Bestehen der Asyle aber im Ganzen 3 750 000 Personen! Wie unsagbar viel Unglück erzählen diese Ziffern, aber auch wie viel Menschenfreundlichkeit und Erbarmen, denn diesen Millionen Menschen wurde ohne jegliches Entgelt als ungenannte Gäste eines ungenannten Gastgebers das heißersehnte Obdach gewährt. Sie wurden gesättigt und fanden Trost in dem Bewußtsein, daß sie nicht hilflos in der ungeheuren Weltstadt seien und daß die herrliche Blume der Nächsten liebe segenspendend in Berlin blühe und stets neue hoffnungsfrohe Knospen treibe.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – unsichtbar steht es über dem hochgewölbten Eingang des Asylhauses, wie es der unsichtbare Leitspruch des Vereins ist, der so Großes geschaffen und erreicht hat. Ihr aber, die ihr in diesen Wintertagen eure Mitmenschen frierend und hungernd erblickt, erinnert euch des Spruches und befolgt die weihe volle Mahnung: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Paul Lindenberg

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.