Berliner Neubauten 80 – Das neue Männerasyl des Berliner Asylvereins für Obdachlose in der Wiesenstrasse 55-59 zu Berlin

Architekt: Georg Töbelmann in Berlin. Als eine bemerkenswerthe Schöpfung der umsichtigen Thätigkeit des Berliner Asylvereins für Obdachlose ist im Dezember vorigen Jahres das neue Männerasyl für Obdachlose auf einem Gelände im Norden der Stadt, an der Ringbahn, zwischen den Stationen Wedding und Gesundbrunnen, auf dem Grundstück Wiesenstrasse 55-59 (Abbildung 1), nach den Plänen des Hrn. Bmstr. Georg Töbelmann in Berlin errichtet, der Benutzung übergeben worden.

Lange schon reichte das alte Haus des Vereins gegenüber dem neuen Hause für die grosse Anzahl Obdachloser, welche namentlich in strengen Wintern dort ein schützendes Dach für die Nacht suchten, nicht aus, sodass Tausende abgewiesen werden mussten. Wenn aber auch das neue Asyl nicht alle die beherbergen kann, die Aufnahme suchen, so kann es doch in einer Nacht 700 Personen die Wohlthaten einer ordnungsmässigen Nachtruhe mit Bad und Speisung usw. gewähren. Und „wie das alte Asyl hervorgegangen ist nicht aus einer eitlen, sich selbst bespiegelnden Wohlthätigkeit, sondern aus einem starken sozialen Pflichtbewusstsein, so haben wir auch das neue Haus hergestellt in dem Gefühl der Verantwortung, dass wir in dem Hilfesuchenden, der uns naht, den Menschen ehren; habe ihn das Schicksal oder die eigene Schuld im Wirbel unserer gesellschaftlichen Verhältnisse noch so tief sinken lassen, so werden wir diesen Grundsatz der Achtung vor menschlichem Leid und Elend auch im neuen Hause hochhalten“.

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Alle 8 Tage kann ein und derselbe Obdachlose im Asyl Unterkunft suchen, er wird nicht nach Namen und Herkunft, nicht nach seiner Vergangenheit, nicht nach seinen gegenwärtigen Verhältnissen gefragt. Die Obdachlosen werden als Gäste behandelt, „die wenigstens während der karg bemessenen Zeit, die sie bei uns weilen, in dem Gefühl ihrer menschlichen Würde durch polizeiliche Nachforschungen nicht gekränkt werden sollen“.

Abbildg. 1 – Lageplan
Abbildg. 2 – Erdgeschoss-Grundriss

Das Gebäude, das einen Flächenraum von rd. 4500 qm bedeckt, liegt am Ende einer 12 m breiten Privatstrasse, welche die Asylbesucher aufnehmen kann, sodass Ansammlungen auf der öffentlichen Strasse vermieden werden.

Eine rd. 25 m lange und 12 m breite, also 300 qm messende Sammelhalle mit 400 Sitzplätzen, durch hohes Seitenoberlicht erhellt, im Winter geheizt und ventilirt, nimmt die Besucher auf (Abbildg. 4). Hier werden sie nach ihren Wünschen in Gruppen getheilt. Diejenigen der Besucher, welche zu baden wünschen, gelangen in Gruppen von 80 Mann in den Auskleideraum, wo sie sich ihrer Kleider entledigen und dieselben durch einen Schalter zur Desinfektion geben. Nach Abgabe der Kleider gehen die Besucher in den Badesaal, welcher etwa 275 qm Grundfläche und 20 Wannen- und 60 Brausebäder enthält (Abbildg. 5).

Während des Bades erfolgt die Desinfektion der Kleider, die an einem zweiten Schalter wieder in Empfang genommen werden können. Da ein Badezwang nicht besteht, so begnügen sich viele Besucher mit einfachem Waschen.

Abbildg. 4 – Sammelhalle
Abbildg. 5 – Baderaum für 80 Personen

Diese werden in Gruppen von 60 Köpfen in den Waschraum eingelassen, wo 60 Waschbecken für Kalt- und Warmwasser vorhanden sind (Abbildg. 6). Für die Fussreinigung ist eine besondere Spülungsvorrichtung vorgesehen. Vom Bade- wie vom Waschsaal treten die Asylisten an einem Aufnahmeschalter vorbei in die 5 m breite, in der Längsaxe des Gebäudes liegende Speisehalle von 50 m Länge, die mit Tischen und Bänken für 300 Personen versehen ist. In einem Vorraum ist links der Küchenschalter; er vermittelt die Verbindung der Speisehalle mit der Küche, in welcher Dampf-Kochkessel für 400 l Suppe, 200 l Kaffee und 50 l Milch eingerichtet sind. Im Speiseraum wird abwechselnd gespeist; diejenigen, welche ihre Kleider auszubessern wünschen, können länger verweilen und erhalten das Material hierzu von der Hausverwaltung.

Nachdem die Besucher die Abendsuppe genossen haben, erhalten sie Zutritt zu den 14 Schlafsälen, die sich fischgrätenartig an die Speisehalle anschliessen und je 50 Betten enthalten (Abbildg. 7). Am Ende des Speiseraumes liegen, breit vor die Hinterfassade gelagert, ausreichende Klosetanlagen; gleiche Einrichtungen befinden sich vor der Sammelhalle zu beiden Seiten des Einganges.

Auf der rechten Seite der Sammelhalle liegen ausser den Wasch- und Baderäumen die Dampfwaschküche mit zwei Geschossen für Wasserbehälter und Filteranlage, welche durch eine Dampfpumpe gespeist werden und den gesammten Wasserbedarf des Asyls liefern. Neben der Dampfwaschküche befinden sich ein Dampftrocken-Appparat und eine Wäschemangel mit Dampfbetrieb. Hieran schliessen die sich das Maschinenhaus mit den Dampfmaschinen für die Pumpen- und Waschanlagen, für die elektrische Beleuchtung, die Ventilation und die Kesselspeisepumpen, und das Kesselhaus mit zwei doppelten Cornwall-Kesseln für Heizung, Desinfektion und Maschinenbetrieb. Sämmtliche Räume der Anlage sind durch Dampfheizung (umkleidete Rippenheizkörper) erwärmt; die Ventilation ist eine künstliche derart, dass ein Ventilator die frische Aussenluft in unterirdische Kanäle presst, die alle Räume des Asyls durchziehen. Alle Räume sind elektrisch durch 160 Glüh- (Schlafsäle) und 14 Bogenlampen (sämmtliche übrigen Räume) beleuchtet,

Links vom Haupteingang liegt das Verwaltungshaus mit Beamtenwohnungen (Abb. 2). Dieser Theil besteht abweichend von den übrigen Theilen des Gebäudes, die lediglich aus Erdgeschoss (Shedbauten) bestehen, aus Erdgeschoss, 2 Obergeschossen und Dachboden. Das Erdgeschoss enthält die Wohnung des Hausvaters, des Pförtners und ein Konferenzzimmer. Es steht mit der Sammelhalle in unmittelbarer Verbindung. Vom Konferenzzimmer aus ist auch eine Verbindung nach einem an der Sammelhalle liegenden Krankenzimmer ermöglicht. In den Obergeschossen befinden sich 8 Beamtenwohnungen von je 2 Stuben, Küche und Kloset.

Die Konstruktion aller Gebäudetheile ist dauerhaft und zweckentsprechend durchgeführt. Sämmtliche Dachkonstruktionen sind eiserne; die Fussböden bestehen aus Terrazzo; die Wände sind mit geglättetem Zementputz versehen worden. In fast alle Räume ist Trinkwasser geleitet.

Die Waschtische bestehen aus Schieferplatten auf Eisen, in sie sind Waschbecken aus Porzellan eingelassen. Die Betten der Schlafräume sind eiserne Betten mit Drahtgeflechtboden; sie werden mit den Kleidern benutzt. Bei einer Erwärmung der Räume auf 15° C. genügt eine einfache Decke als Unterlage und eine gleiche Zudecke. Im Winter wird um 6, in Sommer um 5 Uhr aufgestanden, gewaschen und ein bescheidenes Frühstück eingenommen.

Die meisten Besucher verlassen das Asyl nicht ohne einen dankbaren Blick zurückgeworfen zu haben auf das schmucke Gebäude, welches ihnen in edler Gastfreundschaft für eine Nacht die schützenden Pforten öffnete. In gefälliger Gruppirung, beherrscht von dem Beamtenwohnhause und dem Wasserthurm, welche die stattliche Sammelhalle einschliessen, liegt es da, nicht der Kunst baar, sondern im Gegentheil in liebevoller künstlerischer Durchbildung in ächtem Material in uneigennütziger Bethätigung mitfühlender Nächstenliebe geschaffen.

Dem Vorsitzenden des Asylvereins, Hrn. Banquier Thölde, und seinem ausgezeichneten Architekten, Hrn. Bmstr. Georg Töbelmann, gebührt in erster Linie der Dank für die Errichtung dieses „Tempels der Barmherzigkeit.“

Abbildg. 6 – Waschsaal für 60 Personen
Abbildg. 7 – Schlafsaal für 50 Personen

An den Bauarbeiten für die Anstalt sind als betheiligt gewesen zu nennen: Hr. Arch. Otto Schnock in Charottenburg für die Maurer- und Zimmerarbeiten; Tischler Sommer in Charlottenburg für die Tischlerarbeiten; für die Eisenkonstruktionen die Firma Belter & Schneevogel in Berlin; für die Schlosserarbeiten Schlossermstr. Eisert in Berlin; für die Klempnerarbeiten Klempnermstr.

Kunitz in Berlin: die Töferarbeiten hatte Otto Greinel in Berlin übernommen. In die Maler- und Anstreicherarbeiten theilten sich die Firmen Dornbusch und Aulich; die Glaserarbeiten besorgte Dieterle. Die Einrichtungen für Heizung, Ventilation und für Desinfektion besorgte die Firma Rietschel & Henneberg, die Wasch- und Badeeinrichtungen, sowie die Be- und Entwässerungs- Anlagen die Firma Börner & Herzberg, die Einrichtung der elektrischen Beleuchtung und der damit verbundenen Anlagen Gebrüder Naglo, sämmtlich in Berlin.

Die gesammten Unkosten für das Asyl betrugen etwa 730 000 M., von welcher Summe etwa 465 000 M. auf die Baukosten, der übrige Theil für Erwerb der Baustelle, innere Einrichtung usw. zu rechnen sind. Die jährlichen Unterhaltungskosten betragen etwa 50 000 M. Diese wie auch die Bausumme bestehen durchaus aus milden Beiträgen; namentlich sind es die Cuvry- und die Gerson-Stiftung, auf welche sich der Asyl-Verein bei seinen humanitären Bestrebungen stützt.

Abbildg. 3 – Perspektive von der Privatstrasse aus

Das neue Männerasyl wurde in den ersten 3 Monaten seines Bestehens von 62 374 oder täglich durchschnittlich 693 Personen besucht, die insgesammt 7437 Wannen- und 16 714 Brausebäder nahmen. Der Desinfektion unterwarfen 6810 Besucher ihre Kleider. – Das von demselben Verein begründete neue Frauenasyl in der Füsilierstrasse, welches am 20. Nov. 1870 seiner Bestimmung übergeben wurde, war in den ersten 3 Monaten des Jahres 1897 von 2156 Personen oder täglich 24 Frauen besucht; von diesen badeten in der genannten Zeit nur 168 Frauen. Beide Asyle beherbergten bis heute gegen 4 Millionen Personen, welchen ein hartes, verdientes oder unverdientes Schicksal eine ständige Heimathsstätte versagte. Zahlen überzeugen und diese gewaltige Zahl spricht beredter für die so segensreiche Wirksamkeit des humanitären Vereins, dessen Anregung auch das grosse städtische Asyl in der Fröbelstrasse, das in den Jahren 1883-1886 nach den Entwürfen des Stdtbrths. Geh. Brth. Blankenstein errichtet wurde, und welches 3000 Männern und Frauen Obdach zu bieten vermag, zu verdanken ist, als die lebhaftesten Worte es vermögen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 22.05.1897 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-H.-“.