Birschgänge im hohen Norden

Niemand, der die gespenstige Einsamkeit der Eisgefilde, ihre wunderbare, einförmige und doch so schillernde Farbenpracht, den Glanz der immerwährenden Sonne nicht genossen hat, kann sich ein Bild von der Majestät in der allgewaltigen Größe der arktischen Natur machen.

Wer im Norden von Spitzbergen Versteinerungen gefunden hat, die davon Kunde geben, daß hier vor Jahrmillionen Palmenwälder rauschten, den wird ein Gefühl der Nichtigkeit von allem Menschlichen überkommen, der menschliche Verstand versagt in der Abschätzung solcher Zeiträume, und wir empfinden etwas von der grandios erhabenen Poesie des Psalmisten: „Tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, und weniger denn eine Nachtwache.“ Aber damals, als wir dort waren, jagten wir den Eisbären, wir birschten auf das Renntier und erbeuteten Jagdtrophäen, die für alle Zeiten den Stolz des Jägers ausmachen werden.

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Freiligrath singt: „Wüstenkönig ist der Löwe“ – in das Arktische übersetzt, heißt es: „König ist der Eisbär.“ sorglos und unbekümmert zieht er über die Eiskante dahin, er kennt keine Gefahr, niemals ist ihm in seinem Leben Widerstand entgegengetreten, höchstens wenn er im Liebesdrang einen unbequemen Rivalen niederkämpfen mußte. Dazu aber hat ihn die Natur mit einer Muskulatur ausgerüstet, die ihn befähigt, sein Recht in jeder Beziehung geltend zu machen. Es giebt in unserer ganzen Fauna kaum ein stärkeres Tier, wie den Eisbären, und es ist für den Eisbärenjäger immerhin ein Glück, daß sich der Bär seiner Stärke und Gefährlichkeit nicht bewußt ist, sonst würde jeder Fehlschuß verhängnisvoll werden. Die moderne Jagd mit den Präzisionswaffen hat der Jägerei vieles – vielleicht das beste von ihrer Ritterlichkeit genommen. Wer eine ruhige Hand und ein sicheres Auge hat und einen Sieben- oder Achtmillimeter führt, der braucht sich vor einem Eisbären im allgemeinen nicht zu fürchten, und ich muß offen gestehen, daß selbst der umgelegte, kapitale Bock in unsern Wäldern mehr rein weidmännische Freude macht, wie der mehr oder weniger harmlose Bär, der den gefährlichen Schützen gar nicht zu würdigen weiß.

Eins aber ist rührend und erhebend in dem Leben dieser kolossalen Bestien, und das ist die Mutterliebe der Bärin, die dieses Tier bis zum letzten Atemzug hegt und die erst mit dem rinnenden Herzblut schwindet.

Kreuz in der Wijde Bay, Nordspitzwegen, errichtet i. J. 1827 zum Andenken an 30 verunglückte Russen
Eisbärenjagt auf der Jenainsel

Nichts ist possierlicher zu beobachten, als eine spielende Bärenfamilie, nichts aber ergreifender, als eine todkranke Bärin, deren letzte Bewegung noch instinktiv ihren Jungen gilt. Im halb aufgetauten Sonnenschnee macht die Bärin mit ihren Jungen vollständige Rutschpartien von steilen Abhängen hinab, sie lassen sich auf dem Gesäß hinabgleiten und spielen dann im Schnee, wie die Katzen. Doch niemals dürfte man einem Jäger anraten, einer Bärin ein Junges wegzuschießen. Die Wut eines solchen Tieres kennt dann keine Grenzen. Andrerseits verlassen die Jungen auch die tote Mutter nicht, und ich habe selbst gesehen, daß zwei junge Bären, von denen einer noch sehr schwer krank geschossen war, bei der toten Mutter, die im Nebel nicht gefunden werden konnte, eine ganze Nacht lang aushielten, bis sie schließlich von ihren Leiden erlöst werden konnten.

Verhältnismäßig wenig aufregend ist die Jagd auf wilde Renntiere, die sich vielfach in den Schluchten von Ostspitzbergen finden. Man kann sie wirklich niederschießen, wie die Kühe, weil diese harmlosen Tiere auch nur wenig Kenntnis von der Gefahr haben, die ihnen vom Jäger droht. Nur eine einzige aufregende Jagd blühte uns auf der Martensinsel im Norden von Spitzbergen Meilenweit ist dieses kleine Eiland von jeder andern Küste entfernt, einige Steine mit spärlichem Moos, ein kleiner Süßwasserteich, einiges Treibholz, das ist alles, was auf dieser Insel gedeiht. Und doch lebte ein einzelnes Renntier an diesem Gestade. Bei der Annäherung von Menschen nahm es das Wasser – das unendliche Polarmeer – an, es schwamm gewandt, aber so hoch, daß sein Spiegel aus dem Wasser hervorragte. Es wurde im Wasser photographiert, dann geschossen und schließlich gegessen – Renntierschicksal!

Seltene Jagtbeute – Ein auf Skarrö erlegter Seeadler
Schwimmendes Renntier bei der Martensinsel

Eine der schönsten Ausbeuten jagdlicher Natur hatte der heutige wohlbestallte mecklenburgische Oberförster Herrn von Stralendorff. Wir hatten die rein arktischen Gegenden schon hinter uns und lagerten auf der norwegischen Walfischstation Skarrö. In der kleinen Villa des Besitzers befand sich ein ausgestopfter Seeadler von mächtiger Spannweite. Rede gab Gegenrede: diese Adler kamen hier vor, wie man uns erzählte. Draußen aber entdeckte Herr von Stralendorffs geübtes Jägerauge einen winzigen Punkt über den blauen Bergen, er hatte sich nicht getäuscht: es war ein Seeadler. Und wacker ging er mit dem braven Bund, der unsere ganze Expedition begleitet hatte, auf den fernen Punkt zu, und als der Adler auf den Grund stieß, gelang es dem treffsicheren Schützen, das Prachtexemplar, das zwei Meter dreißig Flügelbreite hatte, herabzuholen. Heute schmückt der Adler nun schon lange sein trautes Jägerheim – eine köstliche Trophäe, die dem unermüdlichen Weidmann wohl von Herzen zu gönnen ist.

Nimmermehr aber vergißt man den Zauber und die machtvolle Poesie der arktischen Gegenden. Ich habe die Tropen auch gesehen, dort, wo sie am wunderbarsten sind, in ihrer Fülle und Ueppigkeit, aber auch in ihrem Gift und ihrer schleichenden Gefahr: Reinheit, Köstlichkeit und Gesundheit sind aber nur dort oben, wo der ewige Schnee in unbefleckter Reinheit glänzt.

Dieser Artikel von Reinhold Cronheim erschien zuerst am 30.08.1902 in Die Woche.