Heiratsaussichten in Deutschland

1905, von Dr. Robert Hessen. Die sehr dankenswerte Tabelle des jüngst erschienenen statistischen Jahrbuchs über “Die Eheschließenden nach dem Alter im Jahr 1902” ist geeignet, mehrere nicht ungefährliche Irrtümer zu zerstreuen, die sich infolge falscher Ausdeutung der bloßen Personenstandsregister gebildet hatten.

Um gleich vorwegzunehmen: man begegnete der Meinung, daß die Deutschen ein spät heiratendes Volk seien, weil nämlich bei der letzten Zählung (am 1. Dezember 1900) auf 1 456 886 verheiratete Männer von 35 bis 40 Jahren nur 275 195 ledige gleichen Alters kamen, auf 1 320 905 verheiratete Männer von 40 bis 45 Jahren nur 155 380 ledige, während die größte Ziffer verheirateter Frauen (1 661 010) auf die Rubrik von 30 bis unter 35 entfiel. Die hieraus gezogenen Schlüsse lauteten etwa: die Männer fangen in den dreißiger und vierziger Jahren erst recht an, sich umzuschauen; auf diese älteren Herren muß man also rechnen und die jungen Leute laufen lassen, die es doch “nicht ernstlich meinen”; ihr ledigen Mädchen aber verzagt nicht, denn mit 30 Jahren setzen eure besten Aussichten ein.

Bei dieser verkehrten Rechnung ist eins übersehen worden: daß nämlich die absoluten Eheziffern das Produkt von etwa 26 Jahrgängen sind. Zählt man sämtliche im Jahr 1900 vorhanden gewesene Ehefrauen und Witwen (einschließlich der Geschiedenen) zusammen (9 794 955 + 2 4153 659), so erhält man die Ziffer 12 208 614, und eine ähnliche Zahl (12 374 616) ergibt sich, wenn man die 457 208 Eheschließungen des Jahrs 1902 mit 26 multipliziert. Es befinden sich also unter der stattlichen Menge der Verheirateten in späteren Jahren hauptsächlich solche, die aus früheren Jahrgängen aufgerückt sind, und zwar bei Männern sowohl wie bei Frauen, außerdem viele, die bereits zum zweiten · oder drittenmal die Ehe eingingen. Dagegen ist die Zahl der deutschen Mädchen, die 1902 mit 30 bis 35 Jahren noch heirateten, außerordentlich gering. Beim Beginn des Zähljahrs standen in jenem Lebensalter etwa 420 000; von diesen heirateten im ganzen 36 062, so daß etwa 380 000 übrigbleiben mußten (375 566 am 1. Dezember 1900). Mit 30 heirateten 10 553, mit 34 nur noch 4652.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Die Tabelle für 1902 ergibt zur Evidenz, daß die Deutschen ein zwar nicht übermäßig früh, doch keinesfalls ein spät heiratendes Volk sind. Der begehrteste Mädchenjahrgang mit der höchsten Heiratsziffer (49 264) war der von 23 Jahren.

Auch die Jahrgänge von 21, 22 und 24 bewegten sich über 40 000. In fünfstelligen Ziffern heiraten unsere Mädchen zurzeit überhaupt nur vom 18. bis 30. Jahr (d. h. unter 31).

Vorher und nachher handelt es sich um einzelne Tausende mit vom 25. Jahr ab – stetig sinkender Tendenz. Mit 6o Jahren und darüber heirateten nur noch 769, denen etwa 250 000 ledige Mädchen des gleichen vorgerückten Lebensalters gegenüberstanden; hier waren die Heiratsaussichten also durchschnittlich auf 1 : 300 im Jahr eingeschrumpft, wenn nicht noch ungünstiger, weil sich unter jenen 769 doch meist wohl wiederheiratende Witwen befunden haben dürften.

Die vorzüglichsten Heiratsjahrgänge bei Männern waren 1902 die von 24 und 25 mit 53 178 und 54 201; auch die von 23 und 26 hielten sich noch über 40 000. Von 34 jährigen Männern heirateten aber nur noch 8376, von 38 jährigen nur noch 4585 im Berichtsjahr.

Was ist nun aus diesen Ziffern für die Frauenfrage zu lernen? Da müssen wir zuvor noch einen andern Irrtum berichtigen, der leider ebenfalls im Schwang ist: die weiblichen Heiratsaussichten nämlich zu berechnen nach der absoluten Bevölkerungsziffer und, weil es bei der Zählung vom 1. Dezember 1900 etwa 900 000 weibliche Wesen mehr als männliche in Deutschland gab, zu sagen; diese 900 000 seien die Ueberzähligen, die das Unglück anrichteten. In Wirklichkeit liegen die Dinge ganz anders und leider zum Teil noch schlimmer. Ja jene Ziffer ist für unseren Zweck so gut wie gar nicht verwertbar, da zum Beispiel im entscheidenden Lebensalter von 21 bis unter 26 die Zahl der Männlein und Weiblein in Deutschland mit 2 026 096 zu 2 050 280 ungefähr gleichstand, der Unterschied auch von 25 bis 30 nur gering war und erst in vorgerückten Jahren nach der weiblichen Seite hin stark überwiegt, weil die Ehemänner infolge von Strapazen und Sorgen des Berufs wie auch durch sonstige Mißhandlung ihrer Gesundheit im Durchschnitt viel früher als die Frauen sterben. Im Alter von 50 bis 55 (einschließlich der Ledigen und Witwen), aber in diesen Jahrgängen betrug 1902 die Gesamtzahl der weiblichen Eheschließungen nur noch 2638, so daß man von einem nennenswerten Einfluß jenes Unterschiedes der Lebensdauer auf die Heiratsaussichten kaum reden kann.

Nein, das Mißverhältnis zwischen den beiden Geschlechtern beruht auf ganz andern Tatsachen, die zum Teil in der Natur begründet sind, besonders in der früheren Reife der Mädchen, die schon mit 16 Jahren heiratsfähig werden, während der Jüngling da noch gar nicht an Ehe denkt. In runden Ziffern, wenn man die Kinder unter 16 abrechnet, ergaben sich bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 nicht weniger als 6 Millionen lediger Mädchen, die mit fast 2 Millionen Witwen eine Armee von 8 1/2 Millionen Heiratskandidatinnen bildeten, während etwa 4,6 Millionen lediger Männer von 20 Jahren und darüber mit den 840 000 Witwern immer erst etwa 5 Millionen Bräutigame hätten abgeben können. Unter 20 Jahren heirateten 1902 nur 506 Männer, während im gleichen Alter schon 36 970 Mädchen zum Standesamt schritten. Relativ ist auch diese Ziffer freilich minimal. Denn die Zahl der 16-, 17-, 18-, 19jährigen Fräulein beträgt etwa 2 Millionen, und wenn auch auf sie, wie gesagt, fast 37 000 Verheiratete des gleichen Lebensalters im Zähljahr entfielen, so stellten sich doch die durchschnittlichen Heiratsaussichten eben nur wie 1:54. Tritt man unter sie, die in der Blüte der Jugend und Schönheit prangen, und blickt in ihre fragenden Gesichter, so muß man ihnen bekümmert antworten, daß im laufenden Jahr nur immer die 55ste einen Ring am Altar wechseln wird, die übrigen 54 höchstens Brautjungfern abgeben können. Dafür sind gerade jene jahre die zeit der Anknüpfung, der heimlichen Verlobungen, der ersten Liebe.

Merkt man jetzt, woher die große Unruhe i Mädchenheer stammt? Die sieben Jahrgänge von 20 bis 26 (einschließlich) wiesen ja wohl 1902 Heiratsziffern über je 30 000 auf, und aus diesen paar günstigeren Jahrgängen schreiben sich fast zwei Drittel aller Ehefrauen, die wir in späteren Jahrgängen antreffen, bis sie schließlich zwischen 30 und 35 die schon genannte Eheziffer von 1 561 010 herstellen. Aber was will diese Endresultat, diese Vertröstung viel besagen? Mag man immerhin bei den erwachsenen Mädchen unter 20 es unvernünftig nennen, wenn sie so jung schon auf den Eintritt in den weiblichen Hauptberuf der Gattin rechnen wollten, da doch eben erfahrungsgemäß die begehrtesten Jahrgänge erst kommen sollen. Dennoch heischen nähere Notwendigkeiten gar häufig den Verzicht auf jede Hoffnung, den Wechsel aller Gewohnheiten, und das stille Warten wird als unwürdig empfunden.

Nur scheinbar ein anderes Gesicht nimmt die Sache an, wenn wir folgendermaßen kalkulieren: aus den Reihen der Zwanzigjährigen (454 066 gab es im Jahr 1900) heirateten im Jahr 1902 nach der Tabelle etwa 33 000; sind die 420 000 ledig gebliebenen 21 geworden, so heiraten von ihnen weitere 44 000, sind sie 22, so weitere 48 000, sind sie 25, weitere 49 000 usw. wiederum abwärts. Aber diese Rechnung läßt sich rationell kaum bis zum 30. Jahr verfolgen, wo nur noch etwa l0 000 heiraten von l00 000 vorhandenen. Denn erstens haben bis zu diesem Jahr die meisten ledigen Mädchen eben resigniert und werden, selbst wenn sie noch heiraten, ihr Leben nicht mehr als normal, sondern eher wegen der verlorenen Jugend als verpfuscht betrachten, und zweitens verschieben in den älteren Jahrgängen die wiederheiratenden Witwen das Zahlenverhältnis. Auch nach dieser Aufstellung bleiben für jeden Jahrgang etwa 100 000 Ueberzählige, die nur durch den Tod allmählich verschwinden. Selbst in den sieben guten Erntejahren von 20 bis 26 (einschließlich) kommen doch immer nur auf etwa 2 Millionen in diesem günstigsten Lebensalter Stehende nicht ganz 300 000 Ehen jährlich, stellen sich die Heiratsaussichten wie 1: 7 auf das Jahr.

So suchen viele ihr Leben anderswie auszufüllen, wenn es irgend angeht, worin es freilich der Kleinstand leichter hat als “Bildung und Besitz”.

Gälte es, aus Vorstehendem ein praktisches Resultat zu ziehen, so könnte es nur lauten: etwa 200 000 weitere Junggesellen müssen jährlich heiraten. An Versuchen in dieser Richtung fehlt es auch scheinbar nicht. Aber auf seiten der Männer ist die Geschicklichkeit zur Eheschließung eben sehr ungleich verteilt. Das sieht man daran, wie heiratslustig jene bleiben, denen die Gründung eines Hausstandes bereits einmal gelungen war. Denn der große Unterschied zwischen den 840 517 Witwern und den 2 413 659 Witwen. Die am 1. Dezember 1900 gezählt wurden, wird durch die größere Sterblichkeit der Ehemänner aus den bereits angeführten Gründen nur bis zur Höhe von 900 000 erklärt, bei den restierenden 700 000 rührt er davon her, daß Witwer gern zum zweitenmal heiraten.

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.