Im Gefilde der Seligen

Weintransport in Bockshäuten

Wie ein Dornröschenschloß liegt fern im Süden inmitten des gewaltig an seine steilen Küsten brandenden Ozeans Madeira, die einsame Insel, umfächelt von lauen Lüften, erwärmt von den Strahlen einer lachenden Frühlingssonne.

Im Norden, im Bezirk Sankt Anna, wird dies gesegnete Eiland noch bekleidet von üppigen Wäldern einheimischer edler Bäume, die auch im Tal des Ribeiro Frio und einigen andern anzutreffen sind. Im Süden hat menschlicher Unverstand den herrlichen Waldschmuck zum großen Teil vernichtet, so daß nur einzelne Gruppen schöner Eichen und Kastanien Zeugnis ablegen von einstiger Pracht. In der Umgebung der Hauptstadt Funchal schmücken sie den „Monte“, der mit seiner reizvoll von grünem Rahmen umgebenen Kirche die terrassenförmig sich bis an das Meer hinunterdehnende Stadt beherrscht. Der Eingeborene wohnt hier noch in strohgedeckten Steinhütten, lebt noch von geröstetem Korn und gemahlenem Mais und von Früchten, die ihm jeder Baum auf Schritt und Tritt entgegenreift. Mispeln, Guavas, Bananen, Aepfel, Perumelonen und die köstlichen Anonen bieten Nahrung in Hülle und Fülle. Diei den Eingeborenen zur Kleidung nötigen Lumpen erfordern geringe Mittel. Die verschaffen sie sich in erster Jugend und im Alter durch Betteln. In späterer Kindheit finden die Mädchen durch die als Hausindustrie betriebene Stickerei einen Verdienst, der, in unsern Augen lächerlich gering, doch das zum Leben Notwendige gewährt. Sind die Arbeiten auch meist schablonenmäßig, nach gelieferten Zeichnungen ausgeführt, so ist immerhin die Zahl der nach eigenen Ideen kleine Kunstwerke hervorbringenden Stickerinnen nicht gering.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

In zweifacher Hinsicht ist auch dem Nordeuropäer Madeira ein Name von wohlbekanntem Klang: durch sein unvergleichliches Klima und seinen Wein. Von diesem sei zunächst hier einiges gesagt. Keller gibt es leider in Madeira nicht, und das raubt dem Wein etwas von der Poesie, die dem deutschen Trunk doppelte Würze und Weihe schafft; auch zu seßhaftem Umtrunk auf deutsche Art eignet sich der schwere Madeira mit seinen 20 Prozent Alkohol nicht. Ein Gläschen aber zum Frühstück ist der erlesensten Genüsse einer.

Weintransport in Bockshäuten
Weintransport in Bockshäuten
Volkstrachten von Madeira
Volkstrachten von Madeira

Da muß vor allem Sercial genannt werden, sherryartig, trocken durchgegoren, mit großer, wunderbarer Blueme an die deutsche Heimat gemahnend; und dann der süße Malvasier aus Paul do Mar und Fayal, an Feuer den Frauen seiner Muttererde gleich. Keinem der beiden ähnelt der stolze Verdelho mit ganz eigenem Charakter, noch der an Malaga erinnernde zarte Bual, oder der aus Kalifornien eingeführte Herbemont und der Tinto, der in der Jugend rot und im Alter gelb ist und aus Burgund stammt. Im allgemeinen wird die Traube mit Füßen gepreßt – es gibt in ganz Madeira nur eine oder zwei maschinelle Pressen – und nach Beendigung der Gärung durch Alkoholzusatz reift der Wein in den „Estufas“, den Warmhäusern, bei einer Temperatur von 40-50 Grad (früher ließ man die Fässer eine Reise über den Aequator und zurück machen) bis zur völligen Ausreife. Einen Teil des Weins läßt man a cantairo, d. h. ohne Kunsthilfe, sich runden; diese Art nimmt erheblich längere Zeit in Anspruch, ergibt aber weitaus bessere Resultate. Ein Teil des guten Mostes wird durch Alkohol vor der Gärung bewahrt und hierdurch zum Surdo. Der Surdo ist ein sehr süß schmeckendes Getränk, das infolge des vollen Zuckergehalts aber ein Bukett besitzt, wie man es bei den ältesten und vornehmsten Bordeauxmarken nicht schöner finden kann. Während nun die obengenannten edlen Trauben in den besten Lagen Madeiras gehegt und geerntet werden, wird viel Most unkontrollierter Herkunft von den Bauern nach Funchal gebracht, dort in Fässern von 10 bis 20 000 Litern gemischt und in den Estufas entwickelt. Durch Zusatz von Surdo wird diesem Wein jeweilig ein bestimmter Grad von Süße und Bukett verliehen. Das ist der Dry Madeira, der als gewöhnliche Handelsware auf unsere Tafel gelangt.

Blick auf
Blick auf
Funchai
Funchai

Der Preis für einen reinen unverfälschten Cama de Lobos Verdelho im Alter von zehn Jahren wird ohne Zoll mit zwei Mark berechnet; der teuerste Madeira Sercial, dessen Alter man auf nahezu hundert Jahre schätzt, steht im Preis von zehn bis zwölf Mark für die Flasche.

Das Klima von Madeira zeichnet sich durch seine auffallende Beständigkeit aus. Der mittlere Barometerstand beträgt 763,1 Millimeter. Die niedrigste Durchschnittstemperatur ist 6,50 Celsius, die höchste 32,70 Celsius. Die relative Feuchtigkeit ist maximal 69,7, minimal 64,1. Gerade der Feuchtigkeitsgehalt, der, wie man aus den angeführten Daten sieht, nur ganz geringen Schwankungen unterworfen ist und sich stets auf erheblicher Höhe hält, gibt dem Klima die Bedeutung eines wichtigen Heilfaktors für gewisse Krankheiten. Seit Jahren schon wird Madeira von Lungenkranken mit ausgezeichnetem Erfolg aufgesucht. Die Witterung ist gleichmäßig mild ohne schroffe Wechsel und stärkere Temperaturabfälle. Die Staubentwicklung ist so gut wie nicht vorhanden, mit Ausnahme der wenigen Fälle, in denen der sogenannte „Seste“, ein heißer, trockener Wüstenwind der Sahara, weht, der gelegentlich roten, feinen Sand mit sich führt. Besonders von England aus wird Madeira als Lungenkurort schon fleißig besucht. Neuerdings sind auch bei uns in Deutschland energische Schritte getan worden, um Madeira in dieser Beziehung bekannter zu machen und seine Frequenz zu heben. Jedoch neben der Lungentuberkulose sind es auch eine ganze Reihe von Rekonvaleszenzzuständen, die eine Reise nach Madeira erwünscht und aussichtsreich erscheinen lassen. Nicht darf dabei vergessen werden, daß die Seereise nach Madeira auch als wohltätiger und wichtiger Faktor mit in Betracht zu ziehen Wie verlautet, beabsichtigt man auf Madeira ein Sanatorium großen Stil zu errichten, das mit den neusten Erfindungen der Hygiene, Technik und des Komforts ausgestattet, die Möglichkeit gewähren würde, neben der Ausnützung des Klimas auch noch andere Heilfaktoren mit heranzuziehn.

Strandpartie auf Madeira
Strandpartie auf Madeira
Dame in Tragematte
Dame in Tragematte

Dieser Plan verdient das weitestgehende Interesse aller Kulturstaaten, da es fraglos eine der glücklichsten Lösungen der schwierigen Tuberkulosefrage ist, wenn die Patienten auf Inseln mit besonders geeignetem Klima untergebracht werden. Ganz abgesehen von den ausgezeichneten Luftverhältnissen wäre damit auch eine von den Patienten kaum empfundene, nicht unwichtige Isolierung gegenüber der dichten Bevölkerung des Heimatlandes gegeben. Man darf gespannt sein, wie die auf Grund der Okkularinspektion einiger deutscher Forscher entworfenen Pläne ausgefallen sind, und binnen welcher Zeit sie einer Verwirklichung entgegensehen.

Blick in eine Strasse von Funchai
Blick in eine Strasse von Funchai

Einer der herrlichsten landschaftlichen Punkte der Insel ist die Quita Vigia, das kleine Monaco Madeiras. Das Gesetz verbietet in Portugal zwar das öffentliche Spiel, hier aber beteiligen sich alle Behörden sans géne daran. Elektrische Bogenlampen und ein südlicher Mond wetteifern in der Beleuchtung der Gruppen üppiger Zypressen, Palmen und Eukalypten. Eine steinerne Brüstung schließt den Garten gegen das Meer ab, das in tausend Blitzen das prächtige Mondlicht wiederspiegelt.

Dieser Artikel von Ad. Fenchel erschien zuerst in Die Woche 43/1903.