Alte Stadtanlagen

Die rechtsgeschichtlichen Forschungen der jüngsten Zeit über den Ursprung des deutschen Städtewesens sucht Dr. Joh. Fritz zu Strassburg in einer kürzlich erschienenen, bemerkenswerthen Schrift über „Deutsche Stadtanlagen“ durch eine Untersuchung über die körperliche Entstehung unserer alten Städte, über die Entstehung ihrer Grundpläne, zu ergänzen.

Deutsche Stadtanlagen von Dr. Joh, Fritz, Beilage zum Programm No.520 des Lyceums zu Strassburg i. E. Universitätsdruckerel von J. H. Ed. Heitz, Strassburg 1894.

Da es eine Sammlung deutscher Stadtpläne, ein „Deutsches Stadtplanbuch“ bis jetzt nicht giebt, so war der Verfasser hauptsächlich auf die Benutzung von Reisehandbüchern und Generalstabskarten angewiesen, förderte aber auch aufgrund dieses unvollkommenen Materials Erscheinungen von solcher Bedeutung zutage, dass eine kurze Inhaltangabe des Werkes, ergänzt durch persönliche Beobachtungen und Ansichten des Berichterstatters, für die Leser der D. Bztg. von Werth sein dürfte.

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In den alten Reichs- und Bischofsstädten des südlichen und westlichen Deutschland hat Dr. Joh. Fritz irgend ein System oder Prinzip in der Anlage des Strassennetzes nicht gefunden; es sei denn, dass man die Unregelmässigkeit und Krummheit an sich als ein System bezeichnen will. Auch ein Unterschied zwischen Stadt und Dorf ist im Grundplan nicht vorhanden. Würde man die krummen Strassenzüge irgend eines alten Dorfplanes mit geschlossenen Reihen hoher Stadthäuser bebauen, so erhielte man das getreue Abbild eines alten Reichsstädtchens, und umgekehrt würde die Umsäumung der Gassen und Gässchen eines derartigen Stadtplanes mit niedrigen bäuerlichen Behausungen und Nebengebäuden von der reizvollen Stadtanlage nichts mehr übrig lassen. Manche alten Städte sind in der That auf solche Art nachträglich aus einem oder mehren Dörfern hervorgegangen. Die Freiheit, unmittelbar auf die Strassengrenze zu bauen oder beliebig hinter derselben zurückzubleiben, zugleich die Freiheit, mit den oberen Geschossen über die Strassengrenze hinauszugehen, brachte jene charakteristische Unregelmässigkeit hervor. Nur das Vortreten der Erdgeschosse in die Allmende (die Strassen- oder Platzfläche) hinein, wurde oft streng geahndet. Sowohl die Dorf- als die Stadtanlagen haben durchweg in der Gestalt eines unregelmässigen Platzes einen gewissen Mittelpunkt. Besonders deutlich tritt dies hervor bei kirchlichen Metropolen wie Würzburg, Aachen, Münster, wo die Abtei oder der Bischofssitz, ohne eine ältere Ansiedelung oder neben einer solchen errichtet, die Bürger auch örtlich in zentralem aber regellosem Anbau um sich schaarte, der sich ringförmig im Laufe der Jahrhunderte ausdehnte. „Auch in diesem Falle ist die Stadtanlage festgewordene Geschichte und der Stadtplan eine geschichtliche Urkunde, welche redet von dem gerade Deutschland eigenthümlichen Zusammenhang von kirchlicher und wirthschaftlicher Entwicklung.“ Ausnahmen bilden diejenigen Städte, welche durch Wiederbesiedelung römischer Kulturstätten sich gebildet haben, so Konstanz, Strassburg, Köln. Hier hat sich die geradlinige Regelmässigkeit der römischen Stadtanlage trotz des willkürlichen Bauwesens vieler späterer Jahrhunderte noch erkennbar erhalten und geht erst ausserhalb der Römergrenze in das gewohnte Gassengewirr über, welches den Mangel eines bewussten Systems sich vollziehender städtischer Ansiedelung deutlich vorführt. Kirchliche Baugruppen haben Theile der römischen Stadtanlage oft vollständig zerstört.

Während wir so im Süden und Westen Deutschlands nach Ansicht des Dr. Fritz mit den genannten Ausnahmen die krumme Linie herrschen sehen, verändert sich der allgemeine Eindruck, sobald wir die ehemaligen deutschen Kolonisationsgebiete jenseits der Saale und Elbe betreten. Hier befinden wir uns offenbar im Reiche der geraden Linie, nicht bei den Dörfern, wohl aber bei den Stadtanlagen. Die Dörfer erscheinen entweder in der birnenartigen Gestalt des altslavischen Rundlings mit der Kirche in der Mitte, oder als zwei die Landstrasse begleitende Häuserreihen. Den Städten dagegen ist die Geradlinigkeit und Regelmässigkeit der Bauart, wie der Verfasser an 200 ostelbischen Orten feststellte, ebenso eigenthümlich wie den älteren Orten im Westen und Süden die Unregelmässigkeit; ja die Aehnlichkeit der östlichen Stadtgrundgrisse ist so gross, dass sich unschwer ein städtischer Normalplan für jene die spätere Zeit des Mittelalters ausfüllende Kolonisationsperiode herausfinden lässt. Es ist die Figur eines Kreises oder einer Ellipse, welche durch mehre sich rechtwinklig kreuzende geradlinige Strassen unter Aussparung eines oder einiger regelmässiger Plätze in Bebauungsfelder zerlegt ist. Die Strassen laufen fast ausnahmslos ziemlich genau in westöstlicher und südnördlicher Richtung. Die in den Abbildungen 1 und 2 dargestellten Schemata sind der Fritz’schen Schrift entnommen, Der Durchmesser des Kreises pflegt 500-600 m, die kleine Axe der Ellipse 300-500, die grosse Axe 400-600 m zu betragen. Auch kleinere und grössere Maasse kommen vor. Als Beispiele werden von heutigen Grosstädten Leipzig, Dresden, Berlin, Breslau, Posen, Warschau und Krakau, von kleineren Orten Neubrandenburg, Waren, Anklam, Wittstock, Stralsund, Greifswald, Demmin, Köslin, Münsterberg u. a. angeführt. Eine Wiederholung des Systems findet sich beispielsweise in Tangermünde, Rostock und Thorn; anderswo sind unvollendete Systeme oder Systemtheile zu beobachten. Der Mittelplatz diente als Markt. Auf demselben erhebt sich oder erhob sich ursprünglich frei das Rathhaus, das zugleich als Kaufhaus mit Waage und Verkaufshallen ausgestattet war. Die Haupt-Pfarrkirche fand entweder seitwärts auf demselben Platze oder auf einem zweiten gleich regelmässigen, von dem ersteren nur durch einen ganzen oder halben Häuserblock getrennten Platze Aufstellung.

Alte Stadtanlagen

J. Fritz sieht in dieser Regelmässigkeit der Anlage, welche gegenüber der Unregelmässigkeit westdeutscher Städte besonders auffällt, ein deutliches Zeichen davon, dass hier nicht ein allmähliches, zufälliges Entstehen, sondern eine Gründung auf einen Wurf nach wohlüberlegtem Plane vorliege, wobei Reissbrett, Zirkel und Messkette die maassgebende Rolle spielten. Der Ausbau erfolgte erst nach und nach. Dabei weist die Uebereinstimmung des Planschemas auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass die Gründer und die Gründungszeiten für alle diese Orte annähernd dieselben gewesen sind. Die Deutschen thaten dasselbe, was ein Jahrtausend früher die Römer und anderthalb Jahrtausend früher die Griechen thaten und was heute die Amerikaner thun. Sie gründeten in den zu besiedelnden Kolonialländern neue, ganze Städte als Sammelpunkte des Verkehrs, des Handels, der Kriegsmacht; sie übertrugen das links der Elbe in grösster Blüthe stehende deutsche Städtewesen ins Wendenland und verliehen den neu gegründeten Orten unmittelbar oder mittelbar Magdeburger oder Lübecker Stadtrechte. Ein reiches Urkundenmaterial belehrt uns über diese Vorgänge. Es war nicht bloss eine rechtliche Stadtgründung aus bereits bestehenden Gemeinwesen, sondern in den meisten Fällen eine wirkliche Neuerbauung. Man gewinnt eine bewundernde Vorstellung von jener schaffensfreudigen, besonders im XIII. und XIV. Jahrhundert sich lebhaft entwickelnden deutschen Städtebauthätigkeit, wenn man mit dem Verfasser die Zahl der damals im heutigen Ostdeutschland erbauten Städte auf beiläufig 300 und der damals errichteten grösseren Stadtkirchen, meist im gothischen Backsteinbau, auf etwa 500 schätzt! In jenen altslavischen Gebieten finden sich indess auch manche höchst unregelmässige Stadtanlagen, welche in rechtlichem Sinne gleichfalls als deutsche, d. h. bewidmete deutsche Städte anzuerkennen sind. Ihre Entstehung fällt entweder in eine der Kolonisationsperiode voraufgehende, oder in eine viel spätere Zeit. Die slavischen Namen stammen von älteren, zumeist verschwundenen slavischen Dörfern, selten von städtischen Niederlassungen; aber die deutsche Stadt desselben Namens wurde von Grund aus neu erbaut. Oft auch erinnern Flurnamen wie Alt-Waren oder Dorfnamen mit dem Vorworte „Wendisch“ an solche ältere Niederlassungen der Slaven, oder der slavische Ort ist noch heute in einem unregelmässigen Äusseren Stadttheil erhalten, so in Posen, Dresden, Rostock. Der altslavische Stadttheil pflegte die Kirche zu umschliessen, für welche deshalb in der deutschen Neugründung kein Raum vorgesehen zu werden brauchte. Anderwärts, so in Stettin, wurde ein regelmässiger deutscher Stadttheil mitten in dem slavischen Orte angelegt. J. Fritz erkennt in diesen regelmässigen Neuanlagen und dem rechtlichen Vorgange, der Bewidmung mit deutschem Stadtrecht, einen den Anschauungen des Mittelalters entsprechenden geschichtlichen Zusammenhang.

Die rundliche Form des Stadtkörpers und die Wahl der Oertlichkeit, welche von keinem Fluss oder Bach durchflossen ist, sind dem Slaventhum entlehnt, ebenso die Art der Befestigung; alles andere ist deutsch. Wurde eine Stadterweiterung vorgenommen, so vollzog sie sich nicht wie heute durch strahlenförmige Fortsetzung des ursprünglichen Grundplanes, sondern durch Wiederholung des nämlichen in sich abgeschlossenen Systems, und so wurde oft eine Stadt aus 2, 3, ja 7 selbständigen Gemeinwesen zusammengesetzt: eine der heutigen Städte-Erweiterung, den heutigen Bedürfnissen gerade entgegengesetzte Art des Vorgehens.

Das Vorbild des ostdeutschen Stadtschemas erkennt J. Fritz in den etwa im XII. Jahrhundert auch in den deutschen Städten Niedersachsens, so in Braunschweig, Hildesheim und Hamburg angelegten regelmässigen Stadttheilen, deren Form vermuthlich ebenso wie die gleichzeitigen oder früheren regelmässigen Anlagen im südlichen Deutschland auf römische Städte am Rhein und in Italien zurückzuführen ist.

Den Schluss der höchst anziehenden Schrift, deren historisch wissenschaftlichen Werth zu würdigen nicht Aufgabe dieser Zeilen ist, bildet der Versuch einer Eintheilung der deutschen Städte nach ihren Grundplänen, In Süd- und Westdeutschland (links der Elbe) unterscheidet der Verfasser hiernach:

  1. Unregelmässige (dorfähnliche) Anlagen, entweder mit einem deutlich ausgesprochenen Zentrum (Würzburg, Frankfurt, Aachen, Münster) oder ohne solches (Mülhausen ?, Erfurt, Kolmar).
  2. Unregelmässige Anlagen mit regelmässigen Theilen und zwar letztere von römischer Herkunft (Strassburg, Köln), von frühmittelalterlicher Herkunft (Bremen, Magdeburg) oder durch planmässige Gründung nach 1200 entstanden (Braunschweig, Hildesheim).
  3. Regelmässige mittelalterliche Gründungen, und zwar in Nordwestdeutschland durch einfache Gründung (Hülchrath, Zons, Lechenich) oder durch mehrfache, d. h. zeitlich verschiedene Gründung (Saalfeld, Gotha, Göttingen) und in Südwestdeutschland (Freiburg, Lahr, Oppenau).
  4. Regelmässige Anlagen aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Mannheim, Karlsruhe, Freudenstadt).

Ferner in Nordostdeutschland (rechts der Elbe):

  1. Regelmässige Anlagen nach dem ostdeutschen Normalplan, kreisrund oder oval, nach ein- oder mehrfachem Schema (Malchin, Greifswald, Köslin, Krakau, Thorn, Königsberg, Posen, Breslau, Rostock).
  2. Regelmässige Anlagen, umgeben von unregelmässigen krummlinigen Stadttheilen, theils slavischer, theils spätmittelalterlich-deutscher Herkunft (Posen, Breslau, Schwerin).
  3. Regelmässige Anlagen mit dörflichen Nachbarorten gleichen Namens, unvollständige regelmässige Anlagen mit oder ohne unregelmässige dorfartige Theile.
  4. Unregelmässige krummlinige Anlagen meist slavischer Herkunft.

Zur Veranschaulichung des Gesagten geben wir in den Abbildg. 3-11 neun Grundrissbilder der westdeutschen Orte Hülchrath, Zons und Lechenich, der östlichen Städte Neubrandenburg, Demmin, Posen, Köslin und Krakau, sowie der südfranzös. Stadt Aigues-Mortes. Die Abbildg. 1, 2, 6, 7 u. 8 sind der hier besprochenen Schrift von J. Fritz, die Abb. 3, 4, 9, 10 u. 11 dem Werke des Unterzeichneten über Städtebau entnommen [J. Stübben. Der Städtebau. Darmstadt bei A. Bergsträsser 1890.], die Abb. 5 stammt aus den Katasterkarten der königl. Regierung zu Köln.

Von den kurkölnischen, im späteren Mittelalter angelegten Orten Hülchrath, Zons und Lechenich ist übrigens auch im Texte der Fritz’schen Schrift nicht die Rede; sie sind in der vorstehenden Uebersicht seitens des Unterzeichneten als Beispiele hinzugefügt worden. Es liegt ja nahe, die Untersuchungen des Historikers Fritz zu vervollständigen durch den Hinweis auf die ihm weniger bekannt gewordene technische Literatur, so auf Essenweins Erörterungen über mittelalterliche Städteanlagen [A. Essenwein. Die Kriegsbaukunst, Theil des „Handbuch der Architektur“. Darmstadt 1889], auf Baumeisters „Buch über Stadterweiterungen“ [R. Baumeister. Stadt-Erweiterungen. Berlin 1876.] und auf die gelegentlichen Aeusserungen des Unterzeichneten in der D. Bztg. über Fragen der Städtebaukunst. [J. Stübben. Ueber einige Fragen der Städtebaukunst, Deutsche Bztg, 1891, S. 122, ferner: Gerade oder krumme Strassen? Deutsche Bztg. 1877, S. 132. Ueber die Anlage Öffentlicher Plätze, Deutsche Bztg. 1877, S. 292]

Die westlichen Stadtanlagen des Mittelalters scheinen sich von denjenigen des Ostens allgemein durch eine viereckige (oder polygonale) Umfangslinie zu unterscheiden. Ob und inwiefern das seinen Grund in der Art der Vertheidigung hat, mag dahingestellt sein. Uebereinstimmung aber herrscht zwischen den Stadtanlagen im eigenen Lande und den Stadtgründungen im Kolonialgebiete hinsichtlich der vorwiegend geradlinigen Strassenführung und rechtwinklig-schematischen Eintheilung, welche von J. Fritz rühmend anerkannt wird, die aber unseren heutigen Ansprüchen weder in praktischer noch in künstlerischer Beziehung entspricht.

Diese Regelmässigkeit der Anlage beschränkt sich übrigens nicht auf Deutschland; sie zeigt sich in gleicher Weise bei allen Stadtgründungen im Orient zurzeit der Kreuzzüge (Giblet, Cäsarea), sie zeigt sich in den Niederlanden (Nieuwpoort, Veurne) und in Frankreich (Aigues-Mortes, Rennes). Alle planmässig neu angelegten mittelalterlichen Städte zeigen, wie Essenwein sagt, „eine Regelmässigkeit der Anlage, die Jeden, überrascht, der keine anderen mittelalterlichen Städte gesehen hat als nach und nach entstandene, die, meist noch durch Bodeneigenthümlichkeiten in der Entwicklung behindert, jene unregelmässige Erscheinung im Innern und Aeussern erhielten, die uns so oft romantisch anmuthet, die aber nur eine Folge des Zwanges der Umstände ist, den man nur trug, weil er eben sein musste“. Mit der letzten Wendung dürfte Essenwein doch zu weit gegangen sein. Die Leute des kunstentwickelten Mittelalters hatten die ungeregelten Grundrisse ihrer Städte aus einer früheren Zeit geerbt, aber, obwohl sie bei Neuanlagen des Zirkels Maass und Gerechtigkeit walten liessen, fühlten sie schwerlich die krummlinige Unregelmässigkeit ihrer Strassen und Plätze als lästigen Zwang. Sie suchten zwar später den persönlichen Willkürlichkeiten beim Einbau in die Allmende Einhalt zu thun, aber sie freuten sich, wie Sitte sagt [C. Sitte. Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 1880, S. 119 u. 139.], in kindlicher Heiterkeit des Bestehenden und folgten unbewusst mit ihren Neubauten der künstlerischen Tradition ihrer Zeit, welche eine so sichere war, dass zuletzt immer alles zum besten einschlug. Noch klarer sagt der Bürgermeister von Brüssel, Ch. Buls, in seiner schönen Schrift über die Aesthetik der Städte [Ch. Buls, Esthetique des villes, Brüssel bei Emil Bruylant 1894, besprochen von J. Stübben in der Köln. Ztg. 1894, No. 361.]: Auch wenn die alten Strassen nicht schön sind, gefallen sie durch jene zwanglose Unordnung, die nicht als einheitliches Ergebniss künstlerischer Erwägungen, sondern entstanden ist durch die natürliche Zunahme und jahrhundertelange Umgestaltung der Baulichkeiten entlang eines krummen Weges, der allmählich in den Rang einer städtischen Strasse hineinwuchs. Krummlinig und systemlos sind alle Dorf- und Stadtanlagen, welche vom Verfall des römischen Reiches bis in die zweite Hälfte des Mittelalters entstanden; sie wuchsen ohne allgemeinen Plan nach des Tages Bedürfniss. So war es in Italien, Spanien, Gallien, Deutschland und im Orient. Vorwiegend der geraden Linie bedienten sich alle Kulturvölker, sobald sie ihre Strassen, ihre Lager, ihre Städte planmässig anlegten, im Alterthum, im Mittelalter und in der Neuzeit. Der Gedanke, als ob es in der Vergangenheit jemals Städtebaumeister gegeben habe, welche durch Krummziehungen und Versetzungen der Baulinie, durch absichtliche Unregelmässigkeiten in Strassen- und Platzgrenzen aufgrund künstlerischer Erwägungen malerische Pläne neuer Städte oder Stadttheile entworfen hätten, damit die Krümmungen und Unregelmässigkeiten dieser Entwürfe beim Bau zukünftiger Strassen und Häuser dauernd beobachtet werden sollten (Bebauungspläne in unserem Sinne), und als ob wir heute die Verwirklichung solcher Entwürfe vor uns sähen: dieser Gedanke ist schön, aber unbegründet. Die malerische Erscheinung so vieler alter Städte, der krummlinigen wie mancher geradlinigen, ist das allmähliche Werk der Jahrhunderte. Die Unregelmässigkeiten im Plan kommen der malerischen Wirkung zugute, aber sie sind nicht das eigentlich erzeugende Moment, wie zahllose krumme Strassen in Städten und Dörfern aus alter und neuer Zeit beweisen, denen es an malerischer Wirkung durchaus gebricht, weil die zu dieser Wirkung erforderlichen Gebäude fehlen.

Die Strassenlinien und Platzbilder unserer schönen alten Städte sind keineswegs Schöpfungen aus einem Guss, sondern hervorgegangen aus wiederholten Aenderungen im Laufe der Jahrhunderte; Baumeister und Bauherren von ausgeprägtem Kunstsinn und natürlichem Kunstgefühl haben abgebrochen und wieder aufgebaut, sind vorgerückt und wieder zurückgetreten, haben angebaut, vergrössert, verschönert, freigelegt, erweitert, geschmückt, ganz wie es ihrem jeweiligen Bedürfnisse und ihrem Geschmacke entsprach. Gerade die vollständige Uebereinstimmung mit damaligen Bedürfnissen ruft die charakteristisch schönen Bilder einer hinter uns liegenden Zeit hervor und muthet unseren Geist so wohlthuend an.

Die mittelalterlichen Städtebaumeister waren an sich Schematiker, sie haben bei ihren Neuanlagen künstlerische Ziele kaum verfolgt. Erst die Renaissance, besonders die Spätrenaissance schuf wieder künstlerische Stadtanlagen. Dennoch aber können wir aus den reizvollen Strassen- und Platzbildern mittelalterlicher Städte, die den Niederschlag jahrhundertelanger Kunstthätigkeit bilden, sehr vieles für unsere modernen Aufgaben lernen. Nicht als ob wir auf einen geordneten Stadtplan verzichten sollten, weil viele alte Städte unter anderen Existenzbedingungen ohne einen solchen gross und schön geworden sind; nicht als ob wir die vom modernen Stadtverkehr geforderten grossen Züge, die sich unter anderem in Diagonal- und Ringstrassen, in offenen Verkehrsplätzen und freien Durchsichten ausprägen, verwerfen sollten, weil sie der Anschauung des Mittelalters nicht entsprechen; denn die Erfüllung des Bedürfnisses ist die Grundlage aller Baukunst! Auch lässt sich eine moderne Stadt nicht entwerfen durch Nachbildung und Zusammenfügung frühmittelalterlicher oder vormittelalterlicher Ortsgrundrisse, Mit dem Wesen muss sich die Form ändern; denn die Uebereinstimmung zwischen Wesen und Form ist eine zweite Grundbedingung der Baukunst. Landhausviertel, Fabrikviertel, Pflanzenschmuck auf Strassen und Plätzen, Parkanlagen, Promenaden, Eisenbahnen, Strassenbahnen, Droschken und viele andere Dinge waren dem Mittelalter ganz oder fast unbekannt; für uns sind das Lebensbedürfnisse. Unser Schaffen wird deshalb grundverschieden sein sowohl von den schematischen Neuanlagen des Mittelalters, als von dem damals zwanglos Gewordenen.

Aber lernen sollen wir von den Alten, dass wir, wie sie, unsere Entwürfe den Bedürfnissen der Zeit aufs engste anpassen sollen, dass wir krumme Linien und Unregelmässigkeiten nicht zu scheuen brauchen; dass es ein Fehler ist, geradlinige Strassen, rechtwinklige Blöcke und geometrische Platzfiguren vorzuschlagen, wenn man zu diesem Zwecke dem welligen oder unregelmässigen Gelände Zwang anthun muss; dass wir umgekehrt keine Unregelmässigkeiten willkürlich erfinden sollen, wo kein Anlass dazu vorliegt, weil auch die gerade Linie und der rechte Winkel in der Architektur berechtigte Elemente sind; dass die krumme Strassenlinie die malerische Wirkung von Bauwerken wesentlich steigern kann, dass aber auch geradlinige Anordnungen der malerischen Wirkung nicht zu entbehren brauchen, dass die geschlossenheit der Plätze und die Gruppirung von Monumentalbauten das Stadtbild in hervorragender Weise verschönern und veredeln. Ohne Schönheit keine Zweckmässigkeit, und umgekehrt. Die Förderungen der Schönheit sind mannichfaltig und wechselnd. Nicht unwesentlich ist auch die Vermeidung des Konvexen, die Bevorzugung des Konkaven in der wagrechten und senkrechten Ausbildung der Strassen und Plätze, K. Henrici hat Recht, wenn er in erfreulicher Uebereinstimmung mit meinem Werk über Städtebau (S. 78-80 und 208-210) in No. 81 u. 82 dieses Blattes (S. 501, 502, 506) hierauf wiederholt aufmerksam macht.

Freilich darf man nicht glauben, dass ein zugleich zweckmässiger und künstlerisch schöner Stadtbauplan an sich hinreichend sei, um die Entstehung einer schönen Stadt oder eines schönen Stadttheils zu sichern. Dazu bedarf es vor allem der Errichtung schöner Gebäude und der Wahrnehmung künstlerischer Grundsätze durch alle Betheiligten in allen Stadien der Ausführung, für welche die Strassenlinien des Grundplanes nicht unter allen Umständen unabänderlich maassgebend sind. Die hübschen Platzbilder und Gebäudegruppen, mit denen wir so gern nach eigener Lust unsere Bebauungspläne schmücken. sind nicht von entscheidendem Werthe, so sehr sie auch zu loben sind und so geschickt sie erfunden sein mögen. Denn das Bedüfniss schreitet, wenn es eintritt, über unsere Bilder hinweg. Setzt die Zukunft an oder auf den Platz, wo wir uns ein Posthaus und eine Markthalle gedacht haben, ein Museum und eine Kirche, oder wird auch nur die Gebäudehöhe oder der Raumbedarf anders als wir es uns vorgestellt haben, oder stellt sich das Bedürfniss eines Monumentalbaues an der vorgesehenen Stelle in Wirklichkeit nicht heraus; in allen solchen Fällen tritt der Entwurf eines neuen Bildes an die Stelle des unsrigen.

So ist der Entwurf und die Ausführung des Stadtplanes eine fortgesetzte Thätigkeit des Erfindens und Aenderns; nur die grossen Hauptlinien des Planes können ein für allemal festgelegt werden, das Detail ist Sache wiederholter Einzelarbeit zurzeit des wirklichen Baubedürfnisses. Geben uns für die grundlegende Anordnung der Hauptzüge moderner Stadtpläne weder die geradlinigen noch die unregelmässigen Städte des Mittelalters brauchbare Vorbilder in nennenswerthem Maasse an die Hand, so sind diese Städte doch in hervorragender Weise geeignet, bei der Planung und Ausführung im Einzelnen unsere Gestaltungskraft lehrend und helfend zu beeinflussen.

Köln, August 1894. J. Stübben.

Dieser Artikel erschien zuerst 1894 in der Deutschen Bauzeitung.