Am 18. April, in der Frühstunde des jungen Tages, als die ersten Strahlen des werdenden Morgens die Nachtwolken bleichten, hat nach langer und qualvoller Krankheit und nach schwerem Kampfe mit dem Tode in Ulm ein trefflicher Mann sein Leben ausgehaucht.
Was August von Beyer, der in dem verhältnissmässig nicht hohen Alter von nahezu 65 Jahren von uns gehen musste, der Mitwelt war und der Nachwelt sein wird, das wird sich angesichts des frischen Grabes nicht mit jener sicheren Abgrenzung feststellen lassen, welche die Geschichte für die in ihrem ewigen Buche verzeichneten Verdienste fordert. Dass er uns aber mehr war als ein berühmter Mann im landläufigen Sinne des Wortes, ja, dass er das letztere in dem beregten Sinne vielleicht nicht einmal war, das ist das, welches uns seinen Verlust als einen so schweren, so unersetzlichen erscheinen lässt. Ein banges Gefühl könnte uns beschleichen, wüssten wir nicht, dass ein gnädiges Geschick dem Meister die Gunst gewährte, sein Lebenswerk nahezu zu Ende zu führen.
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Wer das Glück hatte, August von Beyer persönlich zu kennen, wem es vergönnt war, mit im wenn auch nur vorübergehend zu verkehren, der lernte in ihm einen treuen deutschen Mann schätzen von jener rührenden Bescheidenheit, die bei allem Bewusstsein des inneren Werthes es nie zu einer ehrgeizigen Regung oder gar Ausschreitung kommen liess und die nur durch seine äusserste Gewissenhaftigkeit, mit der er seinen grossen Werken oblag, übertroffen wurde. Er war kein blendender Mann. Welch’ ein Gegensatz zwischen dem Ehrenbürger von Ulm, dem Doctor honoris causa der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, dem ausserordentlichen Mitgliede der königlich preussischen Akademie für Bauwesen, dem „Ritter hoher Orden“ August von Beyer und dem schlichten Steinmetzen August Beyer, dessen einfaches Herz mit nie versiegender Liebe nur an seinem grossen Werke hing, der keinen anderen Ehrgeiz kannte als nur den, ein gutes Werk zu schaffen, aus dessen blauen Augen glücklicher Sonnenschein strahlte, wenn er auf seine Lebensarbeit zurückblickte! Und was ist das für ein unvergleichliches Werk, welches er in deutscher Weise in deutschen Landen errichtete! Es versetzt ihn in die erhabene Reihe jener Baukünstler der deutschen Vergangenheit, von denen wir freilich wenig wissen, deren Kunst aber unsere Seele mit einem überwältigenden Zauber erfüllt und in stummer Ehrfurcht bannt vor dem göttlichen Gnadengeschenk künstlerischer Kraft, kühner Phantasie, frischen Muthes und reiner Schönheit.
Professor Dr. August von Beyer wurde am 30. April 1834 in Künzelsau geboren. Im Alter von 17 Jahren ging er an die Baugewerkschule in Stuttgart, wo er bis zum Jahre 1854 als Schüler des Hofbaudirektors von Egle, des Meisters der Marienkirche in Stuttgart, eifrig seinen Studien oblag. Egle erkannte bald die schon früh sich regende Befähigung des jungen Architekten und nahm ihn in sein Atelier auf. In diese Zeit fällt Beyers erste Beschäftigung am Ulmer Münster durch Aufnahmen dieses Bauwerkes für ein Heideloff’sches Werk. Im Alter von 24 Jahren wurde Beyer im Jahre 1858 als Lehrer an die Baugewerkschule in Stuttgart berufen und damit schliesst eine harte, arbeitsreiche Jugendperiode ab, in welcher er mit Mühe bestrebt war, seine Ausbildung nach allen Richtungen zu fördern und in welcher er jene Stählung seines Charakters und seiner Kraft gewann, die sein späteres Leben und Schaffen prägten. Die Lehrtbätigkeit wurde abgelöst durch längere
Studienreisen, die der Verstorbene in den Jahren 1861und 1864 und später durch Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland und Italien unternahm. Der klassische Boden der apenninischen Halbinsel zog ihn in der gleichen Weise an, wie die gothischen Denkmäler des nördlichen Frankreich und Belgien, wenn die letzteren auch für sein Lebenswerk von grösserem Einfluss wurden und ihn zu wiederholten Studien veranlassten. Um die Wende der 60er und 70er Jahre tritt Beyer in die Privatbauthätigkeit ein und führt nacheinander den ersten Theil des Hotel Marquardt in Stuttgart, das Königin-Olga-Stift, das Reichsbankgebaüde die Bauten des Pragfriedhofes, den 36,5 m hohen Aussichtsthurm auf dem Hasenberg bei Stuttgart und andere Werke, insbesondere Wiederherstellungen von Schlössern, wie des Oettingen’schen Schlosses Baldern, des gräfl.
Reischach’schen Schlosses Nussdorf, des Berlichingen’schen Schlosses Jagdhausen usw. aus. Eine ungemein anziehende Arbeit war für ihn die Wiederherstellung und die Einrichtung der Räume des berühmten Klosters Bebenhausen, dessen Kreuzgang und Refektorium in ihrer verjüngten Gestalt ein sprechendes Beispiel für das feinsinnige Eingehen des Künstlers auf die besonderen Eigenschaften der Aufgabe darbieten.
Am 7. November 1880 starb der Münster-Baumeister in Ulm Scheu, kurz nach Vollendung des zweiten Chorthurmes. Als sein Nachfolger wurde im Jahre 1881 Beyer berufen und nun tritt in dessen Leben jene Wendung ein, welche ihn aus einem Künstler von Lokalruf zu einem Künstler von Weltruf machte. Wir haben die Geschichte des Ulmer Münsterbaues seit der Berufung Beyers im Jahrg. 1890 und an verschiedenen dort genannten vorhergegangenen Stellen ausführlicher gegeben, sodass wir hier darauf verweisen können. 18 Jahre hat Beyer in Ulm geschaffen und gewirkt, unermüdlich auf- und ausgebaut, dabei schöne und reiche Erfolge gehabt, aber auch herbe Enttäuschungen erlebt. Als er sich in der Neuthorstrasse das einfache Giebelhaus erbaut hatte, da war Ulm zu seiner zweiten Heimath geworden. Nach Vollendung des grossen Westthurmes „unter sinnreicher Verbesserung des Böbliner’schen Planes“, nachdem er dadurch schon der schönen Donaustadt Münster „zum vornehmsten Kunstdenkmal Schwabens“ erhoben hatte, schritt er an die Ausgestaltung des Inneren, die seine ganze Kraft bis gegen Ende des vorigen Jahres in Anspruch nahm. Seine letzte Arbeit dafür war die Anlage jener sinnreichen Heizvorrichtung, die vermuthlich mustergiltig für die Anlage von Heizungen für grosse Kirchenräume werden dürfte. Des nach seinen Plänen errichteten Verwaltungs-Gebäudes an der Nordseite des Münsters, welches zugleich die Kesselanlage für die Heizung enthält, haben wir schon gedacht. Einen interessanten Plan hatte Beyer noch für das Aeussere. Er hatte die Absicht, vor dem Münster eine neue Bauhütte zu errichten, welche dem Münsterplatz zugleich einen harmonischen Abschluss in mittelalterlichem Sinne geben sollte. Trotzdem alle Sachverständigen seinem Plane zustimmten, fand er dafür keine Stimmung bei den Ulmer Stadtvätern, welche, um eine „Schändung“ des herrlichen Münsters zu vermeiden, den schönen Plan zu Fall brachten. Den tiefen Schmerz, den Beyer über diese kunstunverständige Ablehnung erfuhr, konnte seine Ernennung zum Ehrenbürger von Ulm wohl mindern, doch hat diese ihn seinen Plan nicht vergessen machen können. –
Neben der Vollendung des Ulmer Münsters war die hervorragendste Arbeit Beyers der Ausbau des Münsters in Bern. Dieses ist eine hochbedeutende dreischiffige basilikale Anlage, deren Ursprung bis auf das Jahr 1191 zurückgeht, wenn man eine bescheidene Kapelle, die bei der Gründung der Stadt Bern errichtet wurde, als Ursprung des Münsters bezeichnen will. Ihr folgte im Jahre 1276 die romanische dreischiffige Leutkirche mit Thurm und Vorhalle, die stehen blieb, bis 1420 Meister Matthäus Ensinger von Strassburg nach Bern herüberkam, um das heutige Münster zu errichten. Matthäus Ensinger erwies sich nicht nur als ein berühmter Meister gothischer Baukunst, sondern, wie u. a. auch der 1448 vollendete, auf das reichste mit Figuren geschmückte Priesterdreisitz im Münster beweist, auch als ein Meister dekorativer Ausstattung. Als daher August von Beyer sich entschloss, den Thurmausbau in Bern vorzunehmen, befand er sich, ebenso wie in Ulm, einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe sowohl in konstruktiver wie in künstlerischer Beziehung gegenüber. In letzterer Hinsicht um so mehr, als er sich nicht wie in Ulm auf einen vorhandenen Plan stützen konnte, wenn auch, wie sich das Doktordiplom der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen ausdrückt, „unter sinnreicher Verbesserung des geistvollen Böblinger’schen Plans“, sondern, da Ensinger einen Entwurf nicht hinterlassen hatte, einen neuen Plan erfinden musste. Die Darstellung des Entwurfes auf S. 91 der Schweiz. Bauzeitung vom 7. April 1894 und die Ausführung legen dar, in wie ausgezeichneter Weise dem Meister dies gelungen ist. Die in den Schlusstein eingefügte Urkunde über die Vollendung des 100 m hohen Thurmbaues sagt: „Was wir seit langen Jahren erstrebt, der Ausbau des Achtecks und des Helmes, steht in herrlicher Vollendung vor uns. Professor A. Beyer aus Ulm und sein Stellvertreter, Architekt A. Müller, mit der trefflich geschulten Bauhütte, haben die Ehrenschuld Berns an seine alte, ruhmreiche Vergangenheit eingelöst. Der opferwilligen Thatkraft und dem Kunstsinn des heutigen Bern blieb es vorbehalten, den seit vier Jahrhunderten unvollendet gebliebenen Thurm im Sinne und Geiste seines ursprünglichen Erbauers, Matthäus Ensinger, zur Zierde und Ehre Berns zu vollenden“, Kein Wort ist zuviel gesagt, was das Verdienst Beyers anbelangt. Freilich, mit dem Abtragen der Ehrenschuld sollte es nicht so schnell gehen und es ist nicht zum geringsten Theil der zähen Ausdauer Beyers zu verdanken, dass das Werk schliesslich doch vollendet wurde. Eine bernische Kommission gewann in einem Gutachten vom Jahre 1881 so ungünstige Ansichten von der Vollendung des Thurmes, dass man das Gutachten als eine Abrathung auffasste. Der Gegensatz blieb auch noch bestehen, als Egle im Jahre 1884 darlegte, dass bei entsprechenden Verstärkungen der Unterbauten der Thurm wohl bis auf 100 m Höhe ausgebaut werden könne. Da man sich nicht einigen konnte, so berief man als dritten Gutachter Beyer, der sich in allen wesentlichen Punkten der Ansicht Egle’s anschloss, ohne aber dass es nunmehr zu einer schnelleren Entwicklung der Dinge gekommen wäre, Denn noch im Jahre 1887 verhielt sich das städtische Bauamt in Bern, obwohl es den Vorschlägen von Egle und Beyer beitrat, über die Ausführung ablehnend. Doch Beyer und der inzwischen begründete Münsterbauverein verzagten nicht; am 24. Nov. 1887 beschloss letzter: „Der Ausbau des Münsterthurmes hat auf Grundlage der von Hrn. v. Beyer, Münsterbaumeister in Ulm, erstellten Pläne nach den Regeln der Ensingerschen Spätgothik zu geschehen. Als erstes zu erstrebendes Ziel wird der Ausbau des Achteckes bezeichnet.“ Am 26. April 1889 übernahm Beyer die Fertigung sämmtlicher Pläne und die Leitung der Ausführung; in Bern vertrat ihn Hr. Arch. August Müller. Am 25. Nov. 1893 fand dıe feierliche Versetzung des Schlussteines des Helmes statt, in „herrlicher Vollendung“ steht das Münster seitdem da und wetteifert mit den hochragenden Bergen.
Und noch mit einem anderen Werke in deutschen Landen ist Beyers Name eng verknüpft. In den Jahren 1888 bis 1895 leitete er die Wiederherstellungs-Arbeiten an der Heilbronner Kilianskirche, einem reichen spätgothischen Bau mit 62 m hohem Thurm, an welchem die Renaissance umfangreiche Spuren ihrer sieghaften Einwirkung hinterlassen hat, Und was seine Hauptwerke auszeichnet, das tritt auch bei den Arbeiten an diesem Werke zutage: Unbedingte und ehrfürchtige Achtung vor dem Ueberkommenen und treues Schaffen im Geiste desselben. Diese Eigenschaften waren es auch, welche den Verstorbenen zu einem vielbegehrten Berather der Kommissionen für die Wiederherstellung alter Bauwerke machten. Als ihm die Stadt Ulm das Ehrenbürgerrecht verlieh, da wollte sie neben der Vollendung des Münsters ein Dankgefühl auch dafür bekunden, dass Beyer bei allen Fragen künstlerischer Natur seinen bewährten Rath freudig in den Dienst der Allgemeinheit stellte, Namentlich in der Frage der Wiederherstellung des Rathhauses von Ulm, eines stark mitgenommenen Bauwerkes aus der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts trug er durch seine Berathung viel dazu bei, dass die Wiederherstellung in Hände gelegt wurde, von welchen eine ebenso sorgfältige wie treue Verjüngung des interessanten Bauwerkes erwartet werden kann.
Um das Charakterbild des Meisters zu vervollständigen, sei noch einer besonderen und seltenen Seite seiner Gewissenhaftigkeit gedacht, die in einem Nachrufe mit den Worten erwähnt wird: „Niemals hatte ein Bauherr auch nur über die kleinste Ueberschreitung seiner Kostenvoranschläge zu klagen.“ Der Professor a. D. und Münsterbaumeister in Ulm August von Beyer war Dr. hon. causa der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, Ehrenbürger der Stadt Ulm, ausserordentliches Mitglied der Akademie für Bauwesen in Berlin, Ehrenritter des Ordens der württembergischen Krone, Ritter I. Klasse des Friedrichsordens, Ritter des kgl. bayerischen Verdienstordens vom heiligen Michael III. Klasse und des kgl. preuss. Kronenordens III. Klasse.
Ausserdem besass Beyer die fürstl. Hohenzollernsche goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft. Solche Ehren, die vielleicht noch nicht einmal vollständig aufgezählt sind, häuften sich auf das Haupt des „armen Steinmetzen“, wie ihn der württembergische Staatsanzeiger am Beginn seiner Laufbahn bezeichnet. Und ein deutscher Steinmetz ist er Zeitlebens geblieben; die grossen und zahlreichen Auszeichnungen haben sein Wesen nicht verändert und seinen Ruhm nur bestätigt, fördern konnten sie ihn nicht. –
Es ist ein reiches und gesegnetes Lebenswerk, welches uns der Verstorbene als grosses Erbe zurückgelassen hat. In den beiden Münsterthürmen von Ulm und von Bern hat er sich seine in die Wolken ragenden Denkmale geschaffen, die seinen Ruhm bis in die fernsten Jahrhunderte verkünden als den eines Mannes, der dem Göthe’schen Worte entsprach, nach welchem es das höchste Ziel der Erdenkinder ist, in der amorphen Masse des Millionentrosses das Gepräge einer Persönlichkeit besessen zu haben. Und eine Persönlichkeit war Beyer, eine Persönlichkeit, hervorgegangen aus eigener Kraft, aus ehrlichem Kampfe, aus Ueberzeugungstreue, aus künstlerischer Phantasie, aus stählernem Machtgefühl und aus frischem Wagemuth. In diesem verklärten Bilde lebt er in uns fort!
Dieser Artikel von Albert Hofmann. erschien zuerst am 29.04. & 06.05.1899 in der Deutsche Bauzeitung.