Wer einsam sein wollte, wer tagelang wandern wollte durch stille Thäler, durch endlose Tannenwälder, wer in blaue Bergseen blicken wollte, dunkel und tief wie ins Herz der Allmutter Natur, der ging vor Zeiten in die hohe Tatra.
Dieser höchste Teil der Karpathen giebt in seiner vom Süden unmittelbar aufsteigenden Schroffheit, in der wilden, ungebändigten Schönheit seiner Bergspitzen, in seinen Wäldern und in den unzähligen „Meeraugen“, den Bergseen, die fast auf jedem Gipfel den Wanderer überraschen, eigene, beinah individuelle Reize. Heute ist die Tatra „erschlossen“, Bahnen führen in die Wildnis hinein, beinah ins Herz des Gebirges, Hotels und Hütten sind allenthalben, und auf schwierigen Bergen winken schon Klammern und Seile, so dass die wilde Natur dieser Berge heute auch ungeübte Bergsteiger nicht mehr schreckt.
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In diesem Sommer hat die Tatra, die von Deutschen von Jahr zu Jahr mehr besucht und bewundert wird, ein fast aktuelles Interesse. Ein alter Kampf um die Grenze von Oesterreich und Ungarn, bezw. von Polen, später Galizien, d. h. Oesterreich, und Ungarn, die auf einem kleinen Gebiet von fünf Quadratkilometern hoch oben mitten im Gebirge, im „Meerauge“ und im „Fischseen“ strittig ist, hat zur Einsetzung eines „Meerauge“schiedsgerichts geführt das in Graz lange und eingehende Verhandlungen um den österreichischen oder ungarischen Besitzstand führt. Nicht die Größe, wohl aber die unvergleichliche Schönheit dieses „Meerauges“, die wilde Großartigkeit der Natur, die prachtvollen, steilragenden Felswände, die sich in beiden Seen spiegeln, rechtfertigen den erbitterten Streit beider Nationen um ihre Grenze. Wer einmal dort oben beinah 1600 Meter über dem Meeresspiegel stand, wird den düsteren, melancholischen Eindruck des stillen dunklen Wassers, das sich weithin ausdehnt. der großen Schutthalden und Schneemassen an seinen Ufern und der geraden Bergwände nie vergessen.
Das Meerauge und der Fischsee sind der wichtigste und interessantesse Punkt der nördlichen Tatra, in die der Wanderer, der meist von Süden, aus Deutschland über Oderberg-Csorba, aus Wien oder Budapest kommt, von Csorba aus über den lieblichen Csorbersee im wirkungsvollen Gegensatz zum finsteren Meerauge, oder von Poprad aus über die Lomnitzer Spitze und die drei Schmeckse in sehr lohnenden, aber oft anstrengenden mehrtägigen Touren gelangt.
Natürlich giebt es unzählige Variationen solcher acht- bis vierzehntägigen Fußwanderungen, und jeder Liebhaber der einen oder andern Spitze preist begeistert seine Route. Den Uebergang über die hohe Tatra von Norden nach Süden macht man als schönes Gegenstück zu den ebenerwähnten Märschen von Süden her am besten von Zacopane aus durch das Koscieliskerthal oder das langgestreckte Tychathal nach Pod Bansko, einer kleinen, schön gelegenen Försterei, von der man auf meist guten Pfaden zum Hauptausgangspunkt aller südlichen Wanderungen, zum Csorbersee, gelangen kann. Das im Norden der Tatra gelegene Zacopane ist bekannt als einziger Winterkurort des Gebirges, von dem aus man herrliche Einfälle in die nördlichen Tatrathäler machen kann. Durch das wundervolle Strazyskathal, vorbei an romantischen Felspartien und einem rauschenden Wasserfall, führt ein neu angelegter Weg in das Koscieliskerthal, das seit langem berühmt und bei allen Wanderern beliebt ist als Sammelplatz wundervollster Felsformationen und eigenartigster Gesteinbildungen, die oft Burg- und Stadtruinen dem entzückten Auge vortäuschen. Auch der direkt nördlich vom „Meerauge“ gelegene Kozy-Wierch, zu deutsch die Gemsenspitze, dessen Gipfel sich in dem prächtigen „Schwarzen Teich“ spiegelt, wird von Zacopane gern bestiegen.
Wem ginge das Herz nicht auf nur bei der Namennennung dieser Straßen, Ruhepunkte und kühnen Felsspitzen? Der September ist die schönste Jahreszeit für Bergbesteigungen. Das Wetter will beständig werden, die Luft ist frisch und klar, jeder Schritt ist eine Erleichterung, jeder Atemzug eine Erquickung. Wer möchte jetzt. sofern ihm noch goldene Ferienzeit winkt, nicht noch vor Winters Anfang einen Ausflug in die hohe Tatra, zu allen den trotzigen Bergen und wilden Seen und vor allem dem unvergleichlichen „Meerauge“ machen, mag es nun dem Galizier gehören oder dem feurigen Ungarn!?!
Dieser Artikel von Fritz Hallberg erschien zuerst am 13.09.1902 in Die Woche.