Die dritte evangelische Kirche (Ringkirche) in Wiesbaden

Architekt: Johannes Otzen in Berlin. Als wir vor 4 Jahren (in No. 43, Jhrg. 91) d. Bl. den zur Ausführung bestimmten Entwurf des Geh. Reg.-Raths Prof. Joh. Otzen für die dritte evangelische Kirche Wiesbadens veröffentlichten, glaubten wir auf die aussergewöhnliche Bedeutung hinweisen zu müssen, welche dem Werke sowohl infolge des ihm zugrunde gelegten, von den z. Z. in Deutschland herrschenden kirchlichen Ueberlieferungen abweichenden Bauprogramms, als auch infolge der selbstständigen, künstlerischen Durchführung dieses Programms zukommt.

Wir äusserten die Vermuthung, dass es in Zukunft als vor Augen stehender Ausgangspunkt einer neuen Bewegung auf dem Gebiete evangelischer Kirchenbaukunst eine ähnliche Stellung einnehmen dürfte, wie sie die Hamburger Nicolai-Kirche Scott’s als vornehmster Ausgangspunkt der im letztvergangenen halben Jahrhundert maasgebend gewesenen Bestrebungen beanspruchen darf.

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Und die bisherige Entwicklung der Dinge scheint uns Recht zu geben. Von der einen Seite mit lebhaftester Theilnahme begrüsst, von der anderen nicht minder lebhaft angegriffen und in seiner Berechtigung wie in seinen Erfolgen angezweifelt, hat sich der Otzen’sche Bau, noch ehe er vollendet war, in dem weiten Umkreise aller Derer, die an den Fragen des protestantischen Kirchenbaues Interesse nehmen, bekannt gemacht. In dem Kampfe, der wider den Zwang der bisherigen Kirchenschablone geführt wird, ist sein Vorbild zum Panier der angreifenden Partei geworden. „Wiesbadener Programm“ und „Eisenacher Regulativ“, so lauteten die Schlagworte, unter denen auf dem vorjährigen ersten Kongresse für den Kirchenbau des Protestantismus die beiden zutage tretenden, grundsätzlich verschiedenen Auffassungen zusammengefasst wurden. Sollte, wie es den Anschein hat, der für das nächste Jahr einzuberufende, zweite Kongress in Wiesbaden und zwar innerhalb der inrede stehenden Kirche tagen, so wird diese Stellung derselben natürlich noch weiter verstärkt werden.

Ringkirche in Wiesbaden – Ansicht von Südwesten

Unter solchen Umständen wird es unseren Lesern erwünscht sein, wenn wir ihnen in einer abermaligen Veröffentlichung über den Bau kurze Rechenschaft darüber geben, wie sich die Ausführung des Entwurfes gestaltet hat und inwieweit die Erwartungen, die man von demselben hegte, sich in Wirklichkeit erfüllt haben. Die in grösserem Maasstabe gehaltenen Grundrisse und der Längsschnitt der Kirche, sowie einige nach der Natur aufgenommene Ansichten vom Aeusseren und Inneren, die wir dem Entgegenkommen des Wasmuth’schen Verlages verdanken, dürften, im Verein mit den bereits früher mitgetheilten Abbildungen, völlig ausreichen, um auch demjenigen, der das Bauwerk selbst noch nicht gesehen hat, ein Urtheil über dasselbe zu erlauben.

Grundriss

Dass die Gesammt-Anordnung der Anlage, die nach allem voraus Gegangenen wohl keiner Erläuterung mehr bedarf, dem zugrunde gelegten Programm aufs strengste entspricht und dass sich in ihr ein ebenso zweckmässiger wie eigenartiger Typus für das kirchliche Versammlungshaus einer evangelischen Gemeinde darstellt, kann von einem Unbefangenen unmöglich geleugnet werden – mag er für seine Person auch ein anderes kirchliches Ideal bevorzugen und daher jenes Programm grundsätzlich verwerfen. Allerdings ist der betreffende Typus nicht ganz rein ausgeprägt, sondern mit einigen, aus örtlichen Rücksichten hervorgegangenen Besonderheiten verschmolzen. Der aus der Lage der Kirche am westlichen Schlusspunkte der bis zu ihr ansteigenden Rheinstrasse entspringende Wunsch einer östlichen Thurmstellung einerseits, das – nach unserem Ermessen gerade in diesem Falle unberechtigte – Festhalten an einer östlichen Altarstellung andererseits haben zu der ungewöhnlichen Vorhallen-Anlage hinter der Sakristei und damit zu einem äusseren Aufbau der Kirche geführt, der mit dem Innern in gewissem Widerspruche steht. Jeder, der das Bauwerk sieht, wird zunächst vermuthen, dass sich der Haupteingang im Osten, der Altar im Westen befinde und dass die westliche Vorhalle die Sakristei enthalte. Aber dieser Widerspruch ist ein zufälliger und hat mit dem System, das der Ge taltung des eigentlichen Kirchenraumes zugrunde liegt, nicht das Geringste zu thun; wenn daher ein im anderen Parteilager stehender Kritiker lebhaft Protest dagegen eingelegt hat, dass man einen solche „Lügenbau“ (wie er sich geschmackvoll ausdrückt) als Vorbild kirchlicher Anordnung empfehlen wolle, so hat ihm entweder Beschränktheit oder böser Wille die Feder geführt. – Nicht viel mehr Gewicht wird man dem Einspruche derjenigen beimessen können, welche die auch in diesem Falle angewendete, für einen zur Raumerweiterung dienenden Ausbau natürliche Form der als Polygon-Abschnitt gestalteten Abside für eine protestantische Kirche um deshalb verwerten, weil sie an den Chor einer katholischen Kirche erinnere. Ernstere Beachtung verdient dagegen wohl der Einwand, dass es unorganisch sei, die konzentrisch um den Altarplatz geordneten Sitze von den seitlichen Emporen schräg überschneiden zu lassen. Es ist indessen hierauf zu bemerken, dass dieser Umstand in der Grundriss-Zeichnung mehr und störender auffällt, als in Wirklichkeit, und dass jene konzentrische Anlage der Sitze an sich keine unbedingte Nothwendigkeit ist.

Die Hauptfrage, um die es bei einem Urtheil über die neue, in Wiesbaden zuerst mit bewusster Absicht der Gemeinde angewendete Kirchenform sich handelt, ist und bleibt jedenfalls diejenige, ob ein Bau nach dieser Anordnung thatsächlich einen kirchlichen Eindruck machen kann, ob er imstande ist, die Gemüther in eine der Feier des Gottesdienstes entsprechende, weihevolle Stimmung zu erheben oder ob seine Erscheinung nothwendig so weltlich ausfallen muss, dass von ihr eine Beeinträchtigung dieser Stimmung zu erwarten ist. Selbstverständlich kann diese Frage, welche auf dem Gebiete der Empfindungen sich bewegt, nur individuell beantwortet werden. Aber es ist uns nicht zweifelhaft, dass viele, wenn nicht die meisten unter den bisherigen Gegnern der in diesem Bauwerk zum Ausdruck gelangten Bestrebungen angesichts der vollendeten Schöpfung sich eingestehen werden, dass ihre ungünstige Meinung von der Sache auf einem Vorurtheil beruhte und dass sie die Macht eines zielbewussten künstlerischen Gestaltungs-Vermögens unterschätzt haben. Wer könnte noch im Ernste versichern wollen, dass ein Kirchenraum, wie er in der von uns mitgetheilten Ansicht sich darstellt, an ein Theater oder an einen Zirkus erinnere? Wer dürfte behaupten, dass die Art der Beziehung zwischen Kanzel und Altar, die beide von dem an erster Stelle hervortretenden Kreuzesbilde überragt werden, eine unwürdige sei und dem christlichen Bewusstsein widerspreche? Wer möchte die Ueberzeugung aufrecht erhalten, dass bei einer Anordnung der Orgelempore hinter dem Altar die Erscheinung der Orgel aufdringlich in den Vordergrund treten müsse?

Westliche Eingangshalle

Freilich lässt sich niemand wider seinen Willen bekehren, und so wird es unter Vertretern derjenigen Partei, denen eine Kirche ohne Chor überhaupt keine Kirche ist, auch an solchen nicht fehlen, für welche der durch diese Otzen’sche Schöpfung erzielte Erfolg kein Erfolg oder doch wenigstens kein vollständiges Beweismittel für die Gleichberechtigung einer derartigen Kirchenanordnung ist. Mag es immerhin sein. Die der neueren Bestrebungen werden sich gern mit der Thatsache begnügen, dass ein erster und wichtigster Schritt Erkämpfung dieser Gleichberechtigung vollzogen ist und dass es nur eines rüstigen Weiterschreitens auf demselben Wege bedarf, um das Ziel binnen kurzer Zeit zu erreichen.

Bemerken wir noch, dass auch die – auf die Anordnung der Kanzel in einer Schallnische gestützten – Erwartungen auf eine gute Hörsamkeit der Kirche in vollem Maasse bestätigt worden sind, so haben wir inbetreff allgemeinen Gesichtspunkte, welche auf die Stellung der neuen Wiesbadener Kirche unter den Werken protestantischer Kirchenbaukunst sich beziehen nichts mehr hinzuzufügen. Es erübrigen lediglich einige Angaben technischer und persönlicher Art über die Ausführung des Baues,

Schnitt

Mit den Arbeiten an der Kirche, welcher ursprünglich der Name „Reformations-Kirche* zugedacht worden war, die jedoch von den städtischen Behörden wegen ihrer Lage an der westlichen Ringstrasse „Ringkirche“ genannt worden ist, weil auch die Bezeichnungen der beiden älteren evangelischen Kirchen der Stadt (Marktkirche und Bergkirche) von deren Lage abgeleitet sind, wurde im März 1892 unter der Leitung des Arch. J. J. Lieblein aus Frankfurt a. M. begonnen. Als dieser zurücktrat, nachdem das Mauerwerk etwa bis zur Emporenhöhe geführt war, übernahm Hr. Reg.-Bauführer Grün die Leitung des Baues, dessen Einweihung am 31. Oktober 1894 erfolgt ist.

Für das Aeussere der Kirche, deren eigenartige Detailbehandlung die mitgetheilte Ansicht der westlichen Eingangshalle ersichtlich macht, ist hellgelber Königsbacher Sandstein aus Pfälzer Brüchen, für das Innere heller graugrünlicher Sandstein aus der Pfalz zur Anwendung gelangt.

Dritte evangelische Kirche (Ringkirche) in Wiesbaden

Die polirten dunklen Säulenschäfte bestehen aus Rogenstein und Marmor. Die dekorative Malerei des Innenraums beschränkt sich unter sparsamer Farbenverwendung in der Hauptsache auf vergoldetes, dem Sandstein unmittelbar aufgemaltes Ornament; die Gewölbe sind geputzt und im Goldton gehalten. An selbständigen bildnerischen Arbeiten enthält die Kirche im Aeusseren (neben dem Eingange zur Osthalle) die Standbilder Gustav Adolfs und Wilhelms des Oraniers von Bildhauer Ernst Rittweger in Frankfurt a.M., im Innern die Figuren der 4 Evangelisten an der Orgelchorwand und ein in Holz geschnitztes Bild Johannes des Täufers unter der Kanzel von Bildhauer Haverkamp in Berlin. Die 4 biblischen Bilder in der Kanzelnische und an den seitlichen Schildwänden der Orgelempore sind von den Historienmalern Ehrich und Döringer in Düsselorf, die Glasmalereien der Fenster von den Firmen Victor v. d. Forst-München, Auerbach-Berlin und Katz-Wiesbaden ausgeführt.

Bei dem Baue waren ferner betheiligt: für die Maurerarbeiten Mrmstr. Böhles-Wiesbaden (mit dem Maurerpolier Roth), f. d. Steinmetzarbeiten Ph. Holzmann & Co.-Frankfurt a. M., f. d. Zimmer- und Tischlerarbeiten Gayl-Wiesbaden, f. d. Schieferdecker-Arbeiten Meier-Berlin, f. d. Kupferschmiede-Arbeiten Kleidt und Knodt-Bockenheim, f. d. Heizanlage und die Eisenarbeiten Philippi-Wiesbaden. Das Orgelwerk ist von Walcker-Ludwigsburg, der Orgel-Prospekt von Gebr. Neugebauer-Wiesbaden, die Glocken sind von Ulrich-Apolda, die Beleuchtungskörper von Paul Ferd. Krüger-Berlin geliefert. Bildhauer Hasenohr-Dresden hat die Modelle für sämmtliche architektonischen Einzelheiten, Maler Berg-Berlin, dem schon die Arbeiten in der Kirche zu Dessau, der Lutherkirche in Berlin sowie in den Kirchen zu Apolda und Ludwigshafen anvertraut waren, die Dekorationsmalereien ausgeführt.

Die Gesammtkosten der Kirche einschl. des Terrassenbaues im Aeusseren und der inneren Ausstattung haben einen Betrag von 583 216 M. ergeben.

Dieser Artikel erschien zuerst am 16.11.1895 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit “-F.-“