Die Kinder des Präsidenten Roosevelt

Als zu Beginn dieses Jahres die offizielle Trauerperiode um den ermordeten Präsidenten Mc Kinley abgelaufen war, galt die erste festliche Veranstaltung im „Weißen Hause“ zu Washington der ältesten Tochter des neuen Staatsoberhaupts.

Miß Alice Roosevelt, die seit ihrer Patenschaft bei der Taufe der deutschen Kaiserjacht „Meteor“ die interessanteste junge Dame in den Vereinigten Staaten geworden ist, wurde kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstage in die Gesellschaft eingeführt. seit den Zeiten der reizenden Dolly Madison hat wohl kaum eine holdere Mädchenblüte im Weißen Hause die ihr dargebrachten Huldigungen entgegengenommen. Wenigstens beherbergt die Residenz des Oberhauptes der Union zum erstenmal seit einem halben Jahrhundert wieder eine Tochter, die soeben die Grenze des Backfischalters überschritten hat und als lebensfrohe Debütantin häufig der Mittelpunkt einer Schar heiterer junger Menschen sein wird. Auch silberhelles Lachen und frohes Geplauder aus Kindermund haben die Mauern des Hauses am Lafayette-Square lange nicht vernommen.

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Drei Buben von fünf, sieben und elf und ein dunkellockiges Mädel von neun Jahren – der vierzehnjährige älteste Knabe besucht die Schule zu Groton, Massachusetts – helfen der erwachsenen Schwester die letzten Schatten jener etwas schwermutsvollen Stille verscheuchen, die in den Räumen des „White House“ herrschte, als Mc Kinley mit seiner leidenden Gemahlin dort weilte.

Theodore Roosevelt
Alice Roosevelt

Und über all der Fröhlichkeit, von der jetzt die wände des Präsidentensitzes wiederhallen, schwingt mit graziöser Hand eine Frau das Zepter, die wie kaum eine andere geschaffen ist, eine solche Stellung auszufüllen. Die zweite Gattin Theodor Roosevelts, geborene Edith Kermit Carow, eine schlanke, mittelgroße Gestalt mit schwarzen Augen, dunklem Haar und elfenbeinweißem Teint, besitzt in hohem Maß das Talent, sich in jeder Lebenslage sofort zurechtzufinden. Jahre hindurch hat sie in der Neuyorker Gesellschaft eine hervorragende Rolle gespielt. Mit bestem Resultat leitete sie gleichzeitig verschiedene Hauswesen, und was die Erziehung ihrer Kinder – der Stieftochter und fünf eigener Sprößlinge – anbetrifft, so kann man ihr nur seine Bewunderung aussprechen. Frau Roosevelt vereinigt in ihrer liebenswürdigen, äußerst sympathischen Person in der That alle Eigenschaften, die von der Herrin des Weißen Hauses nur verlangt werden können. Dank ihres feinen Taktgefühls, ihres Kunstverständnisses und ihrer Belesenheit verfügt sie über so viel Anmut und Gewandtheit in der Unterhaltung, daß die gelehrtesten Männer ein Vergnügen daran haben, stundenlang mit ihr zu plaudern. Obwohl Bescheidenheit und Zurückhaltung die Grundzüge ihres Wesens bilden, versteht sie es doch, sobald die Situation es erfordert, die wirkliche „große Dame“ herauszukehren. sie besitzt die Gabe der wahrhaft vornehmen Frau, auf der Straße nicht die mindeste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und doch, sowie es notwendig wird, der großen Menge gegenüberzutreten, dies mit Sicherheit und Eleganz zu thun. Niemand würde geahnt haben, daß die schwarz; gekleidete, dicht verschleierte Dame, die mit einem kleinen Knaben an der Hand am Tage nach dem Hinscheiden Mc Kinleys den Extrazug bestieg, der sie von Jersey City nach Washington bringen sollte, die gleiche war, die in exquisiter Pariser Gesellschaftstoilette in hoheitsvoller Haltung an der Seite ihres Gatten die Gäste empfing, die an dem ersten formellen Diner teilnahmen, das der neue Präsident im Kapitol zu Albany veranstaltete.

Archibald Roosevelt
Kermit Roosevelt

Als Edith Roosevelt noch Mädchen war, pflegte man von ihr im Scherz zu sagen, daß sie wahrscheinlich nie heiraten dürfte, da sie unter ihren zahlreichen Freundinnen die einzige sei, die eine wirklich ideale Gattin und Mutter werden würde. Und sie heiratete auch nicht eher, bis sie bei fast allen Jugendgefährtinnen Brautjungfer gewesen war. Dann erst lernte sie den jungen Witwer kennen, der bald die Ueberzeugung gewann, in ihr sein verlorenes Glück wiederzufinden. Er hat sich nicht getäuscht. Nach beendeter Hochzeitsreise installierte Theodor Roosevelt seine Gattin zuerst als Herrin seines idyllisch gelegenen Landsitzes in Oyster Bay unweit Neuvork. Und hier erwartete die Neuvermählten ein blondlockiges, zierliches Mädchen, die dreijährige Alice Roosevelt. Dies Kind nahm die neue Mrs. Roosevelt im wahrsten Sinn des Worts an ihr Herz. Ihre eigenen Kleinen haben keineswegs mehr Liebe und Sorgfalt empfangen als dies Kind, das es nie zu fühlen brauchte, die rechte Mutter verloren zu haben.

Die Kinder aus zweiter Ehe: Theodore, Kermit, Archibald, Ethel und Quentin hängen mit ebenso inniger Zuneigung an der Stiefschwester wie an ihrem lieben, kleinen Mütterchen – „dear little mother“ wird Frau Roosevelt fast stets von den Ihrigen genannt. Wer sich von dem reizenden Familienleben der Roosevelts einen Begriff machen will, der muß sie in Oyster Bay, wo sie, wie alljährlich, auch jetzt den Sommer verbringen, beobachtet haben. Da sieht man oft eine kleinere oder größere Gruppe auf dem Rasen im Schatten einer mächtigen Buche gemütlich gelagert.

Ethel Roosevelt
Quentin Roosevelt

Den Mittelpunkt bildet Frau Roosevelt, und auf ihrer Hand oder ihrem Schoß erblickt man irgendein wunderbares Etwas, über das sich die blonden und braunen Kinderköpfe in erwartungsvoller Spannung beugen.

Manchmal ist es ein ihnen noch unbekannter Käfer, der bald seine farbenschillernden Flügeldecken hebt, die fein darunter gefalteten transparenten Flügel ausbreitet und unversehrt summend davonfliegt. Häufig ist es nur ein Stein, ein bißchen Moos, etwas Harz oder eine zartgrüne Flechte, die man zum erstenmal an einer Baumrinde entdeckt, auch eine Blume, von der man noch nichts weiß, die bunte Feder eines seltenen Vogels und dergleichen an und für sich wenig wunderbare Dinge mehr. Für die Präsidentenkinder aber besitzen diese Fundobjekte, die sie in freudiger Erregung der Mutter bringen, das tiefste Interesse. Denn Mrs. Roosevelt ist eine poetische, phantasievolle Natur und weiß ihren atemlos lauschenden Kleinen in Bezug auf jede neue „Entdeckung“ ein wunderhübsches Geschichtchen zu erzählen. Dann müssen die Kinder selbst ein kleines Märchen, in dem der Fund die wichtigste Rolle spielt, erfinden und zum besten geben. Auf diese Weise weckt und stimuliert die Mutter in ihren Sprößlingen die Einbildungskraft, den Sinn für alles schöne und Poetische in der Natur und impft ihnen somit die ihr selbst in so hohem Maß verliehene unschätzbare Fähigkeit ein, das ganze Leben, die ganze Welt durch rosenfarbene, goldumränderte Gläser zu sehen. Nur so kann nach Frau Roosevelts Ansicht ein Mensch wahrhaft glücklich sein.

Vater und Mutter thun alles, um in den Kindern die Liebe zur Natur, zu den Tieren und vor allen Dingen zu ihren Mitmenschen recht fest Wurzel fassen zu lassen.

Nach Herzenslust dürfen die Knaben wie die Mädchen sich im Freien tummeln und jede Art Sport betreiben, zu der sie Lust bezeigen. Mit erstaunlicher Gewandtheit klettern die Jungen in dem üppigen Blätterdach der Bäume umher. Archibalds Lieblingsaufenthalt ist in der Krone einer Sykomore, auf deren einem Ast er oft viele Stunden, mit Lektüre beschäftigt, zubringt. Nebenbei sei bemerkt, daß Frau Roosevelt sehr wählerisch ist betreffs der Bücher, die sie ihren heranwachsenden Kindern zu lesen erlaubt. Von den üblichen Jugendschriften hält sie nicht viel. Am liebsten sieht sie es, wenn die beiden älteren Knaben und Esthel sich in naturgeschichtliche Werke, von denen eine reichhaltige Sammlung im Hause ist, vertiefen. Miß Alices Lieblingsautoren sind Meredith, Scott und Thackerey, und ihr wie ihrer Mutter Lieblingsdichter ist Browning. „Teddy“ interessiert sich am meisten für Thoreau und Hurley.

In Oyster Bay dürfen die Kinder sich eine Unmenge von vierbeinigen und gefiederten „Pets“ halten. Da giebt es eine ganze Menagerie von Kaninchen, Meerschweinchen, Hunden, Katzen und allem möglichen Geflügel. Jedes der Geschöpfe hat seinen speziellen Namen, und sobald eine Nachkommenschaft eintrifft, wird gewissenhaft Taufe gehalten. Frau Roosevelt und ihre Stieftochter reiten viel zusammen aus. Sie wirken beide sehr distinguiert im Sattel.

Präsident Roosevelt im Sattel

Der ehemalige kühne Anführer der berühmten „Rough Riders“, des aus Sportsmännern der besten Kreise und Cowboys von den Prairien Neumexikos und Arizonas gebildeten Freiwilligenkorps, läßt seinen ältesten Sohn, der schon jetzt ein perfekter Reiter und trotz seiner vom Vater geerbten Kurzsichtigkeit ein sicherer Schütze ist, an allen Sportspielen teilnehmen und sogar im – regelrechten Faustkampf unterrichten.

Er hegt die Meinung, daß ein Mann nicht nur mit sämtlichen Waffen umzugehn wissen müsse, sondern auch, wenn er unbewaffnet ist, fähig sein soll, einen Angreifer abzuschütteln. seine jüngern Knaben lehrt er selbst, wie man von seinen Fäusten den besten Gebrauch macht.

Er hat es als Kind an seinem eignen, nur schwächlich gewesenen Körper erfahren müssen, daß es recht schmerzhaft und deprimierend wirkt, wenn man von seinen Schulkumpanen windelweich geprügelt wird und sich nicht revanchieren kann. Als liebevoll besorgter Vater will er seinen Sprößlingen ersparen, ähnlich trübe Erfahrungen zu machen. sie sollen in der Lage sein, jede während der Schuljahre an sie ergehende Aufforderung zum Faustkampf mit Vergnügen anzunehmen und zu zeigen, daß sie echte Söhne des unerschrockenen Generals der „Rauhen Reiter“ sind.

Dieser Artikel von Mary Oberberg erschien zuerst am 30.08.1902 in Die Woche.