Die Kunst des Pflanzensammelns

Zu den schönsten Reiseerinnerungen, die uns an langen, Winterabenden jene köstlichen Bilder, die uns auf unsern Wanderungen über Berg und Thal, durch Wald und Feld, durch Heide und Moor entgegentraten, wieder lebhaft vor Augen rufen, gehören unstreitig sachgemäß gesammelte Pflanzen. Die Photographien, die man selbst anfertigt oder kauft, rufen wohl das Bild im ganzen ins Gedächtnis zurück; aber das Lokalkolorit fehlt ihnen, das nur die Pflanzen, die wir selbst geschaut und die wir mit heimgebracht haben, uns wieder klar zum Bewußtsein zu bringen vermögen.

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Der Alpenwanderer vergegenwärtige sich nur einmal so genau wie möglich das Bild des in voller Pracht erblühten Alpenrosenbusches. Wie wenige sind imstande, aus dem Gedächtnis wirklich genau anzugeben, wie das Blatt, wie die Blüte aussieht. Nicht anders geht’s dem Wanderer, der die schonen Heidelandschaften auf seine Nerven einwirken ließ, mit den Heidekräutern, dem Sommerfrischler im schattigen Thüringer Wald mit Akelei und Türkenbund, mit Farnkraut und Bartflechte! Man sieht heutzutage im allgemeinen zu leicht über die einzelnen Komponenten des Landschaftsbildes hinweg, vernachlässigt die Einzelheiten und begnügt sich mit Totaleindrücken. Wer aber die kleine Mühe nicht scheut, sich auf seinen Wanderungen eine Pflanzensammlung anzulegen, der wird von dieser doppelten Genuß haben. Nicht nur, daß die Erinnerung wieder lebhaft durch die getrockneten Pflanzen geweckt wird! Das Auge gewohnt sich auch bei wiederholtem Beschauen der gesammelten Pflanzen an die Unterscheidung der Formen, der Blick wird geschärft, und das Bild der Pflanzen selbst prägt sich fest ein. Wer dies dann erst einmal erreicht hat, der hat auf seinen Wanderungen eine Fülle neuer Anregungen zu gewärtigen. Er unterscheidet unschwer nahe Verwandte, die der Ungeübte für identisch hält, er wird durch das Erscheinen der einen Pflanze, durch das Verschwinden der andern auf Aenderungen des Bodens aufmerksam, die ihm sonst entgehn; die Beziehungen zwischen Pflanzen- und Tierwelt treten ihm deutlich vor Augen, die tieferen Ursachen für den verschieden artigen Landbau werden ihm verständlich; und nicht der geringst anzuschlagende Gewinn ist der, daß das Auge selbst für die Erkenntnis der Formenwelt geschärft wird.

Pflanzen zu sammeln, ist eine Kunst, die nicht schwer zu lernen ist.

Abb. 1 – Was ist’s ?
Abb. 2 – Bequemes Botanisieren

Am leichtesten ist’s natürlich unter kundiger Führung, wenn man auf die Pflanzen aufmerksam gemacht wird (Abb. 3). An Ort und Stelle hält der Professor seinen Vortrag über die Pflanze, erzählt uns ihre Lebensgeschichte die uns das Gewächs innerlich näherbringt. Dann wird das Kraut aus der Erde gehoben, mitsamt seinen Wurzeln und seinen sonstigen unterirdischen Teilen. da kann’s dann freilich im Anfang leicht einmal passieren, daß in blindem Eifer der horizontal kriechende Wurzelstock hartnäckig in der Erde bleibt und der Sammler trotz tiefen Grabens nur ein wurzelloses Stück herauszieht (Abb. 4). Bequemer hat man’s bei Sträuchern und Bäumen von denen man einen Zweig mit Blüten und Blättern und, wenn’s geht, mit Früchten abschneidet (Abb. 2). Ehe nun die Pflanze in die mitgeführte Blechtrommel, oder, was noch empfehlenswerter ist, in die mit Zeitungsbogen gefüllte Mappe wandert, versucht man, nach einem guten Werk, das die Lokalflora beschreibt, der Pflanze Art und Namen festzustellen. Die Frage: was ist’s ? macht manchem im Anfang viel Kopfzerbrechen, wird aber mit jeder Art, die man mehr kennen lernt, leichter, weil die Zahl der Unbekannten immer kleiner wird. Gerade dieses „Bestimmen“ schärft den Blick ganz unglaublich, weil man durch die Beschreibung auf die einzelnen Teile hingewiesen wird. In den meisten Fällen sieht man, was man sehen muß, mit bloßem Auge; wer aber ein schwach vergrößerndes Linsenglas, eine Lupe, hat, dem wird das Bestimmen häufig viel leichter, namentlich dann, wenn die Augen sich noch nicht folgsam auf einen Punkt richten wollen. Ist die Pflanze bestimmt, so wird sie am besten sofort in der Mappe auf einem halben Zeitungsbogen ausgebreitet, nachdem man einen kleinen Zettel mit Namen, Standort, Fundort und Datum beigelegt hat, mit einem zweiten Bogen bedeckt und zu Haus getrocknet. das Trocknen geschieht unter mäßigem Druck ein oder zwei Ziegelsteine auf einem Brett genügen meist. Damit das Trocknen schneller geht, legt man zwischen je zwei mit Pflanzen gefüllte Bogen ein Dutzend leerer Bogen, die täglich einmal erneuert werden, weil sie die Feuchtigkeit der zu trocknenden Pflanze aufsaugen. Die Pflanze ist trocken, wenn sie sich nicht mehr kalt anfühlt, und hält sich dann jahrhundertelang. Je schneller man trocknet, desto besser erhalten sich die Farben, weshalb manche auch stark angewärmtes Löschpapier zwischen die Pflanzen legen und in Drahtgitterpressen trocknen. Wer darüber mehr wissen will der sei auf meine kleine praktische „Anleitung für Pflanzensammler“ verwiesen.

Abb. 3 – Unter fachkundiger Leitung
Abb. 4 – Ohne Wurzel

Der Reisende, der ferne Länder besucht und abseits von der großen Heerstraße wandert kann durch solche Pflanzensammlungen, die wenig Mühe bereiten, der Wissenschaft viel nutzen, indem er seine Sammlung der deutschen Zentralstelle für die Botanik dem Königlichen Botanischen Museum zu Berlin, überweist. Engländer und Franzosen, Russen und Italiener thun dies seit langer Zeit. Deutsche fast gar nicht. Damen, wie Frau Hauptmann Prince, die aus Uhehe schon so viele Neuheiten sandte, gehören zu den seltensten Ausnahmen. Möge sie recht viele Nachahmerinnen finden. Und möge vor allem das kleine Herbarium, das unter der Anleitung des Lehrers in den unteren Gymnasialklassen – leider nur in den unteren! von jedem Schüler angelegt wird, im späteren Leben nicht ganz vergessen werden. Die Schule glaubt, mit ihrer botanischen Erziehung beim Eintritt in die Tertia fertig zu sein. Und doch ist dann erst die dürftige Grundlage gelegt, und kaum ist die Freude über die Beschäftigung mit der bunten Pflanzenwelt und über ihre Erhaltung leise aufgedämmert. Eine wirklich innere Anteilnahme und dankbare Genugthuung wird der Schüler meist erst empfinden, wenn er das schöne Gebiet der Botanik verlassen muß. Das ist schade. Was aber der Schüler als Pflicht nicht mehr thun muß, das sollte er sich freiwillig erhalten. Dann wird ihn sein Herbarium noch ins Leben hinaus nicht umsonst begleiten!

Dieser Artikel von Dr. Udo Dammer erschien zuerst am 06.09.1902 in Die Woche.