In unserer sozialpolitisch durchwehten Zeit hat kaum eine der privaten Institutionen einen so tatkräftigen und unvermittelten Einfluß auf das öffentliche Leben ausgeübt wie die Heilsarmee.
Der große Gedanke, der diese Armee stark, wehrkräftig und erfolgreich gemacht hat, ist ein einfacher, durchsichtig klarer und eminent praktischer er besteht darin, daß man den Ausgestoßenen, Elenden, Verkommenden der menschlichen Gesellschaft, denen, „die am Weg sterben“, positive Hilfe bringt, daß man ihnen, ohne nach religiösem und politischem Glaubensbekenntnis zu fragen, Nahrung und Obdach gewährt, daß man ihnen Arbeitsgelegenheit und Arbeitsverdienst schafft und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit bietet, durch eigene Kraft wieder nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden.
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Die energische Durchführung dieses Gedankens hat es zustande gebracht, daß die Bestrebungen der Heilsarmee überall dort, wo sie überhaupt ihr Werk begonnen hat, heute schon mit großem Ernst betrachtet werden, daß man ihrer Uniform mit Achtung begegnet, und daß man jene Aeußerlichkeiten, die sie in ihrer Agitation nicht entbehren zu können glaubt, als etwas Selbstverständliches mit in den Kauf nimmt. Die Zeiten liegen ja noch nicht so fern hinter uns, wo es gewissermaßen zum guten Ton gehörte, männliche und weibliche Soldaten und Offiziere der Heilsarmee, wo sie sich öffentlich zeigten, mit einer gewissen ironischen Neugier zu betrachten, und wo es selbst sogenannte Gebildete für geboten erachteten, sie mit nicht immer sehr zarten Scherzen, Andeutungen und Zumutungen zu behelligen. Namentlich waren es die jungen Mädchen der Heilsarmee, die dieser übermütigen Laune des Publikums ausgesetzt waren; aber die sittliche und überzeugungstreue Würde dieser Frauen und Mädchen allein hat nicht den Umschwung in den allgemeinen Anschauungen hervorgerufen, sondern es ist das mehr, vielleicht ausschließlch der Kraft zu danken, die von den tiefernsten, eifrigen, liebevoll-praktischen Bestrebungen der ganzen Organisation ausstrahlt. Nicht nur bei uns in Berlin kann man diese Beobachtung machen, sondern überall, wo man Gelegenheit hat, die Heilsarmee in ihrer öffentlichen und privaten Wirksamkeit zu sehen.
Die Armee selbst entstand in London – in der Stadt der Kontraste par excellence. General Booth, dem das eigentümliche Institut seine Entstehung verdankt, hat vielleicht in seinem Feuereifer nicht geahnt, welche Dimensionen sein Werk schließlich annehmen würde: ihn leitete zuerst der Gedanke, hilfreich den Enterbten beizuspringen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Lokalelend von London zu lenken. Noch heute merkt man überall der Heilsarmee ihre englische Entstehung an. Die Verquickung lärmender, weltlicher Propaganda mit den höchsten ethischen Forderungen der christlichen Religion, man möchte sagen die Verschmelzung der Trompete mit der Bibel, riefen in der ersten Zeit sogar in England selbst Befremden und tatsächlichen Widerstand hervor. Der wirklich gesunde Kern, der in den Forderungen des Generals Booth lag, siegte aber schließlich, und aus den unscheinbaren Anfängen entstand eine weitverzweigte, wohlgefügte Organisation, die heute beinah die ganze Welt umspannt.
Wenn sich die Heilsarmee in ihren rein religiösen Bestrebungen, mit ihrer Askese, mit ihrer Negierung aller weltlichen Freuden vielleicht nur als eine religiöse Sekte darstellt, über die man denken kann, wie man will, so liegt ihr Schwergewicht doch auf dem Gebiet der werktätigen, sozialen Arbeit, und hier hat sie überall, wo sie überhaupt Boden gefaßt hat, vielfach Erstaunliches geleistet und wenn auch in dieser Beziehung mancherlei Schatten auftauchen, so sind doch tatsächlich so außergewööhnliche Erfolge zu verzeichnen, daß die Minderwertigkeiten gar nicht in Betracht kommen können. Manchmal lügen ja Zahlen mehr als irgendwelche andere Angaben, und das alte Wort: „Zahlen beweisen“ trifft nicht überall zu, weil selbst die Statistik jongleurfähig ist. Tatsächlich aber sind die Nachweise der Heilsarmee überraschend, das Institut leistet in seiner Gesamtheit wirklich Bewundernswertes.
Das internationale Hauptquartier der Heilsarmee befindet sich in London. Der spiritus rector ist General Booth und von ihm gehen alle Anordnungen und Befehle aus, die die internationale Organisation in ihrer Algemeinheit betreffen. Natürlich bleibt den Kommandeuren der einzelnen nationalen Hauptquartiere ein großer Teil der Arbeit überlassen, die selbstverständlich den Eigenarten der betreffenden Nationen angepaßt sein muß.
Merkwürdigerweise haben die Kommandeure – um im militärischen Bild zu bleiben, kann man sagen die Korpskommandeure – es ausgezeichnet verstanden, sich den Lebensgewohnheiten der verschiedenen Nationen außerordentlich geschickt anzubequemen. Ohne bedeutendes Aufsehen in der Oeffentlichkeit zu erregen, wußten sie überall dort, wo sich allgemeine Mißstände offenbarten, einzudringen, und überall waren sie Helfer in der Not. In London gehen heute noch die Offiziere und Soldaten in die äußersten Viertel des Ostens, wo Elend und Verkommenheit herrschen, von denen man sich glücklicherweise in Berlin noch keine Vorstellung machen kann, und man bezeugt ihnen dort eine Achtung, die beweist, daß man vor diesen Sendlingen der Enthaltsamkeit trotz der eigenen Lasterhaftigkeit die höchste Ehrfurcht empfindet. Und diese Tapferen helfen entsagungsvoll ohne Aussicht auf Dank, nur aus dem Empfinden heraus, daß geholfen werden muß.
Das ist ja nun ganz selbstverständlich, daß die Organisation eines Instituts, wie es die Heilsarmee ist, eine außergewöhnliche Anzahl von Personen erfordert, die sich selbstlos in den Dienst der Sache stellen, und die außer der Begeisterung, die sie für den Beruf befähigt, auch ein großes Quantum von Organisationstalent und Verständnis für die verschiedenen Berufszweige in sich haben.
Womit beschäftigt sich die Heilsarmee? So ziemlich mi allen Dingen, an denen unser soziales Dasein krankt. Man sucht gewohnheits- und gewerbmähige Verbrecher an sich heranzuziehen, um sie auf die Bahn eines geordneten Lebens zu bringen; so weit es an ihr liegt, Arbeitslose aus der Welt schaffen, indem man ihnen Beschäftigung verschafft; in die untersten Schichten unserer Gesellschaft einzudringen, wo das dumpfe Elend herrscht, um dort hilfsbereit und praktisch zu wirken. Für diesen Zweck haben die Mitglieder und Jünger der Heilsarmee überall Einrichtungen geschaffen, die mustergültig sind.
Dem Berliner Hauptquartiet d. h. also der nationalen Organisation für Deutschland, steht Herr Oliphant mit seiner geistvollen Geattin vor. Wir abstrahieren hier von England, – aber es sind auch in Berlin Einrichtungen getroffen, die in jeder Beziehung bemerkenswert sind. Glucklicherweise kann sich Berlin nicht in jeder Weise mit London vergleichen – aber auch hier wo die staatliche, städtische und private Wohltätigkeit in ganz enormer Weise in die Schranken tritt, hat die Heilsarmee doch immer noch Terrain gefunden, wo ihre Hilfsbereitschaft segenreich wirken konnte. Sie hat Wöchnerinnenheime geschaffen, Samariterheime, Rettungsheime für gefallene Mädchen, Hilfsstationen aller Art – und dabei sorgt sie für die Ausbildung ihres Nachwuchses durch Kadetten und Kadettinnenschulen, deren Zöglinge rigoros und streng in den Anschauungen der Heilsarmee erzogen werden – auf dem Erdenrund beschäftigt die Heilsarmee 13 476 Offiziere und Kadetten, denen noch 2114 Personen ohne Rang attachiert sind, sie verkündigt ihr Evangelium in 31 Sprachen.
Die soziale Arbeit ebenso wie die erzieherische Tätigkeit der Heilsarmee wird sowohl ohne jeden äußeren Zwang wie ohne die Forderung einer Gegenverpflichtung ausgeübt. In allen den erwähnten Instituten stehen die Türen jederzeit offen, es wird auf niemand irgendwelcher Zwang ausgeübt: wer sich innerhalb der Heilsarmee nicht wohl fühlt, wer die Bestimmungen als lästigen Zwang empfindet, kann in jedem Augeblick das Heim der Heilsarmee verlassen.
Natürlich erfordern die Verwaltungen in den verschiedenen Ländern sowohl wie die Unterabteilungen in den einzelnen Ländern Hilfskräfte aller Art, kaufmännisch-technischer und geistlicher Natur. Die Heilsarmee hat in ihren Reihen ganz hervorragende Verwaltungsbeamte daher denn auch das wirtschaftliche Ausblühen der Heilsarmee in allen Kulturländern, daher die beträchtlichen finanziellen Machtmittel, die der Armee für ihre Propaganda und für den Ausbau ihrer inneren Einrichtungen zur Verfügung stehen.
Jedenfalls ist die Heilsarmee eine der merkwürdigsten sozialpolitischen Erscheinungen, und da sie nur Gutes bezweckt, muß ihr die Unterstützung oder wenigstens die Duldsamkeit aller Wohldenkenden gesichert sein.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 49/1903, er war gekennzeichnet mit „R. C.“.