Ein Abend bei der Heilsarmee

Gegen sieben Uhr war’s. Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Aus den Wagen drängte der Menschenstrom die breite Treppe hinunter: Menschen, die ins Deutsche Theater wollten zu einem Stück von Hauptmann, ins Opernhaus oder zu einem Beethovenabend. Scharfe, intelligente Gesichter, wie man sie oft und viel in Berlin sieht, Leute, die durch den Verstand leben, mit der Vernunft urteilen, mit dem Gehirn genießen.

Und dann Arbeiter, ernsthafte, energische Gestalten. Eilig durch die Menge schlüpfende, magere, blasse Mädchen mit dem spitzigen, kritischen Ausdruck, der dem Berliner Mädchen so eigen ist, gleichviel ob es dem Volk, dem Bürgerstand oder den oberen Zehntausend entstammt.

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Ein rieselnder warmer Regen ging nieder, die Witterung war schwül wie im Frühling, und schwül, dumpfig war’s im Omnibus, der uns nach der Chausseéstraße brachte. Ein Dunst von feuchten Kleiderstoffen und feuchtem Stiefelleder, ein Dunst von Kellerluft und Armut schlug uns in den Germaniasälen entgegen. Hier wollte Booth, der General der Heilsarmee, der große Seelenfänger, vor dem Weihnachtsfeste zu seinen Heerscharen reden.

Booth, General der Heilsarmee

Als ich den Saal und das Publikum musterte, fiel mir eine Versammlung von Arbeitslosen in Rixdorf ein, der ich vor Jahren beigewohnt hatte. Verglichen mit der finsteren Spannung, die dort die Tausende beherrschte, machte diese Menge einen fast fröhlichen Eindruck, und doch hatte auch die Not und ein unbestimmtes Hungermagen in der Seele sie hergetrieben.

Die Hallelujamädchen, die bereits beginnen, mit ihren großen Hüten und ihrer zähen, stillen Wirksamkeit eine charakteristische Straßenerscheinung in Berlin zu werden, lachten und schwatzten durcheinander. Freudige Begrüßungen fanden statt, sogar die männlichen Offiziere der Armee umarmten einen Kameraden, der mit dem General von England herübergekommen sein mochte, stürmisch mit lautem Hallo. Ein hübscher, intelligent dreinschauender Junge, der trotz seiner sieben oder acht Jahre schon die rote Bluse der Armee trug und auf der Estrade in der Nähe des Generals einen hervorragenden Platz einnahm, wurde von der überströmenden weiblichen Zärtlichkeit beinahe zerdrückt.

Ein Mann mit einem kühnen Schnurrbart, dessen ganzes Gebahren höchst energisch, gewissermaßen „schneidig“ war, eröffnete in ziemlich schlechtem Deutsch die Versammlung.

Ein anderer von den Offizieren betete laut, die Hände auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Die Gemeinde sang ein Lied aus dem „Kriegsruf“. Uebrigens war ich erstaunt, wie wenige mit einstimmten. Dann das Solo eines jungen Kapitäns, der von den Hallelujamädchen fast so angeschwärmt zu werden schien wie ein neuer Tenor von den Damen des Berliner Westens.

Versammlung der Heilsarmee – die Musikkapelle

Endlich erschien der General Booth selber. Ein jauchzendes Halleluja tönte ihm entgegen, hunderte von Taschentüchern wurden geschwenkt; wer kein Tuch besaß, winkte mit den Händen.

General Booth ist ein Charakterkopf, dessen ungewöhnliche Schönheit ein glühendes Temperament und eine wirklich hervorragende Vortragskunst in gleicher Weise ausgearbeitet haben.

Einen herrlichen Farbeneffekt giebt das rote Hemd mit den auf die Brust gestickten goldenen Emblemen unter dem offenen dunklen Rock zu dem langwehenden weißen Bart, zu den silbernen Locken.

Der General empfindet mit vollem Recht, daß der Dolmetscher ihm Wirkung und Erfolg beinahe verdirbt. Und er trägt seine Farben stärker auf. Auf der mit Scharlachtuch behängten Estrade, von der das Plakat mit den großen Buchstaben der Ankündigung grell und hart herniederleuchtet, tobt er fast so stark wie Parazelsus, der große Wunderdoktor, wenn er sein Lebenselixir anpries.

Im Hauptquartier der Heilsarmee in Berlin – Generalsekretär Junker mit deinem Assistenten

Die Menge ist still, als er endet. Er selbst scheint bei nahe irritiert. Wird jemand den Weg zur Bußbank nehmen? Alles schaut und schaut vergebens.

Der General tritt ab, geht aufgeregt auf der Plattform hin und her, starrt ins Publikum. Auch der neben ihm stehende erste Offizier starrt ins Publikum. Plötzlich streckt er beide Hände aus und schreit: „Ich sehe eine Seele, die zu Jesus kommen will! Wie sie kämpft! Komm her, komm her zu uns! Komm zu Jesus! Betet alle für diese Seele!“

Alles fällt auf die Knie und betet. Eine Frau mit dem Antlitz einer Somnambule und einer unendlich weichen, sehnsüchtigen Stimme tritt an das Pult, betet laut, inbrünstig, ruft, lockt, bittet: „Komm zu Jesus! Komm zu Jesus! Komm zu Jesus!“ Ein Mann ruft abwechselnd mit ihr.

Während der Vorsitzende einige Formalitäten erledigte, wobei mir die praktische Art auffiel, mit der der Engländer die notwendigen Daten seinen Leuten durch scharfe, deutliche Wiederholungen einprägte, musterte General Booth sein Publikum. Und wie dieser Achtzigjährige beobachtete! Wie die Augen unter den kühnen Wölbungen der Brauen die Menschen aufs Korn nahmen und die einzelne Erscheinung geradezu in sich sogen!

Dann wieder, als er sich an dem mit Scharlachtuch bekleideten Pult zum Gebet niederwarf, den Kopf in die Arme vergraben, und die bleichen, nervösen Hände, aus dem blutroten Trikot auftauchend, das greise Gelock zerwühlten – da war’s ein Bild, das jedes Künstlerauge entzücken mußte. Der General sprach über den Vers: „Alles ist möglich denen, die da glauben.“ Neben ihm stand ein Dolmetscher der nicht nur seine Worte übersetzte, sondern auch seine Gesten und alle begleitenden Bewegungen wiederholte. Eine Rede war es nun eigentlich nicht zu nennen, eher eine Ueberredung. Die Stimme des alten Mannes ist durch eine fünfzigjährige Ueberanstrengung jedes Metallklanges beraubt. Auf das große und feierliche Pathos verzichtete er durchaus. Nie wandte sich Booth an „das Publikum“ oder „die Gemeinde“, sondern er hatte immer einen eingebildeten Einzelmenschen vor sich, und es wurde ein zudringliches eindringliches Unterhandeln mit dem Einen um sein Seelenheil.

Man hat einmal gesagt, der englische Nationalcharakter weise gewisse Aehnlichkeiten mit dem semitischen auf. Das trat hier bei dem General Booth stark hervor. Solche Bewegungen wie das Zusammenducken und Aufschnellen des Körpers und sein Hin- und Herwiegen, dieses Ausstrecken des Armes und das leidenschaftlich zornige Schütteln der Hände habe ich nur bei den Maklern der Börsen gesehen, das überzeugende freudige Lachen über die Schönheit des angepriesenen Gegenstandes nur bei den armenischen Teppichhändlern des Orients – seinen bohrenden, suggestiven Blick besitzen auch die Salesmen der großen amerikanischen Aktienunternehmungen.

Im Kinderasyl der Heilsarmee in Berlin-Schöneberg

General Booth befaßte sich nicht mit einer ungewissen Zukunft. Er sprach nicht von den Belohnungen im Jenseits, von einer ewigen Seligkeit. Er sprach von „heute abend“. Heute abend kannst du ein neuer Mensch werden! Heute abend kann der Mann dieser Frau ein neuer Mensch werden! Und es ist sehr nötig, daß sie einen neuen Mann herkommt!

Heut abend kannst du eine neue Frau haben, die du lieben wirst, wie du die deine nur vor der Hochzeit geliebt hast! Nur hierherkommen und hier an dieser Stelle niederknien und Buße thun!

O wenn ich doch direkt zu dir reden könnte! Und in seiner Lebhaftigkeit packte er den Dolmetscher und stieß ihn von dem Rednerpult hinunter. Und der übersetzte dabei mechanisch weiter.

Ja, die echte Mischung von Fanatismus und Begeisterung mit einer phantastischen Kühnheit, die den erfolgreichen Religionsstifter von jeher ausgemacht hat, lebt auch in dem Gründer der Heilsarmee. Mehr von dem Stoff des Mahomed als von dem des Christus. Christus starb für sein Lehre, verbreitet haben sie Petrus und Paulus. Die sorgenmüde, verständige deutsche Hausfrau wird erfaßt, sie schämt sich so und schwankt doch endlich hin unter all den gaffenden Blicken zur Bußbank. Und in ihr kleines alltägliches Dasein braust der Sturm des großen Erlebens. Und ihr alter Mann steht und schüttelt den Kopf und blickt traurig auf die gefalteten Bände nieder. Sein Weib hinfort auf der Straße, im Verkehr mit den Verworfenen und Elenden, sie zu retten…

Ein Mädchen sah ich, ein junges Geschöpf, die Augen geschlossen, die Lider zitternd vor innerer Bewegung, in lautloser Zwiesprache mit Gott. Ihr Geist war entrückt – hätten Folterwerkzeuge sich in ihren Leib gegraben, sie würde es kaum gespürt haben! Eine Schönheit, die keinem modernen Künstler nachzuschaffen gelingt, lag auf dem Antlitz dieses kleinen Fabrikmädchens: die weltferne Andacht, die selige Versunkenheit einer Maria, die die Botschaft des Engels vernimmt.

Versammlung der Heilsarmee – der erste Offizier

Wahrhaftig: ein Rauschen geht durch den Saal – ein junger Bursche geht, geführt von einem Heilskapitän, gesenkten Kopfes nach vorn und läßt sich auf die Knie nieder.

Die erste Seele! Der Offizier schwenkt die Arme und ruft den Triumph hinaus: „Gott hat uns eine Seele geschenkt! Wo bleibt die zweite! Wer sich über die erste Seele freut, rufe Halleluja!“

Begeistertes Halleluja. „Ich habe nichts dagegen, wenn ihr noch einmal Halleluja ruft!“ Und so geht’s weiter, crescendo.

Die Menge steht, klatscht in rhythmischem Takt in die Hände, singt zwanzig, dreißigmal hintereinander in einem schnellen, nervenaufregenden Tempo den Abtrünnigen zu: Kehr zurück, kehr zurück, kehr zurück!“

Die zweite Seele! Wer sich über die zweite Seele freut, hebe die Hand auf! Wer sich eine dritte Seele wünscht, hebe beide Hände auf!

Die hunderte von verlangend ausgestreckten Menschenhänden haben etwas Erschütterndes. Neben mir steht eine alte, tapfere Kämpferin für Freiheit, Vernunft und Menschenrechte. Sie bricht in Thränen aus. „Wie arm müssen diese Herzen sein…“

Hin und her winden Mädchen und Männer mit den Abzeichen der Kadetten, Soldaten und Offiziere der Armee sich zwischen den Stuhlreihen hindurch, flüstern inständig mit den Einzelnen, knien bei diesem und jenem nieder, flehen, bitten und betteln um ihre Seelen. Ab und zu ein greller Jubelschrei: „Eine neue Seele – thut Buße! Eine liebe Frau, zwei Männer, wieder eine Frau! Zehn Seelen gewonnen!“ – Der General läßt seine Augen im Saal umherschweifen, ergreift mit seinem hypnotisierenden Blick die Bewegten, zieht sie an sich.

„Aber wir müssen mehr haben!“ ruft der Offizier auf der Plattform und fuchtelt mit den Armen in der Luft. „Betet, Freunde, betet! Gott wird uns zwanzig schenken!“

Die Musik wird lauter und wilder. Zum Harmonium und der Trompete stöhnt eine Handharmonika, Frauen schlagen rasselnd das Tamburin und springen hochauf in wilder Verzückung, wie Mirjam einst vor der Bundeslade sang und tanzte, wie griechische Bacchantinnen einst den Wagen des Dionys umjubelten. Es ist immer dasselbe. Und ob tausende und tausende von Jahren über die Menschheit dahinbrausen und Eisenbahnen und Telephone unser Besitz geworden sind und Wissenschaft und Frauenbewegung und Sozialismus – es bleibt immer dasselbe.

Die Musik schrillt, der Gesang wird inbrünstiger, die bleichen Wangen sind von Thränen überströmt, die Augen glühen, die Körper zucken und beben. Der Rausch, die Ekstase beginnt unwiderstehlich auf die Gemüter zu wirken. Sie wird spannend, nervenaufregend, diese Tragödie der hungernden Menschenseele. Junge Verbrechergesichter sieht man, in denen zum erstenmal die Sehnsucht nach Reinheit, nach Güte, nach einem Ideal, nach einem hohen heiligen Lebenszweck erwacht. Man sieht, wie da unter Thränen die menschliche Seele aus der Tierheit erwacht, man schaut sie in ihrem allerersten, hilflosen Kindheitszustand. Intime Dramen spielen sich zwischen Ehegatten ab.

Vierzig Seelen sind an dem Abend für die Heilsarmee gewonnen worden. Der General war mitten in dem wilden Taumel verschwunden.

Versammlung der Heilsarmee – die Hallelujamädchen

Die Heilsarmee hat in den letzten Jahren auch in Deutschland ganz ungeheuer an Boden gewonnen trotz ihrer äußeren Formen, die uns so lächerlich erscheinen. Und sie wird weiter Eroberungen machen. Denn sie überläßt den Erweckten nicht eine Stunde mehr sich selbst – diesem verwirrten, unbestimmten, widerspruchsvollen Selbst, mit dem er nichts anzufangen weiß. Welch ein Gefühl aber für den Enterbten, plötzlich in den Besitz von Glücksschätzen zu geraten, die er mitteilen kann. In unaufhörlicher Liebesthätigkeit schenken, fürstlich schenken zu dürfen, statt zu betteln!

Ehre, Ruhm und Anerkennung in einer Gemeinschaft zu erwerben, deren Werke sich nun schon über den Erdball strecken! Die Heilsarmee bietet die religiöse Erhebung in einem Kleid, das mit genialer Geschicklichkeit dem kindlichen Geschmack der Armen und Aermsten im Geist angepaßt ist, mit dem Instinkt für die Bedürfnisse der Volksseele.

Im allgemeinen denken die Menschen ja über vieles nach, aber wie wenige denken daran, ihr Leben als ein tägliches Opfer für eine Idee jubelnd hinzugeben! Seit die Sozialdemokratie anfängt, mit der Wirklichkeit vernünftig und nüchtern zu paktieren, beginnt auch sie ihre mystisch-religiöse Macht über die Gemüter zu verlieren. Und verschaffte sie wirklich einst allen Arbeitslosen Brot – es wäre vielleicht der Tag, an dem ihre Herrschaft begraben würde. Denn der Mensch lebt nicht von Brot allein. Die menschliche Seele würde Umschau halten nach neuen Göttern und neuem Märtyrertum. Und werden dann, nach Jahrhunderten, die Massen noch immer dieselbe Freude haben an bunten Mützen und rotem Tuch und an klirrender Musik? Werden ewig mit denselben äußeren Mitteln die armen Seelen gelockt und gefangen zu rührenden Thaten der Liebe? Werden es immer nur einige wenige bleiben, die in reifer Welt-· und Naturbetrachtung mit dem stillen Glück der Freiheit im Herzen sich zu höheren Menschen bilden?

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.