Eine ungekrönte Fürstenfamilie

Hierzu 8 photographische Aufnahmen von Dr. Träger. Zehlendorf.

Wenn hinten, weit in der Türkei,
die Völker aufeinander schlagen …

Faust

Dort hinten in der Türkei ist es auch in diesem Jahr, wie alljährlich, zwischen den einzelnen Nationen, zwischen Christen und Muhammedanern, zu argen Ruhestörungen gekommen, die mehrfach ein Einschreiten der Großmächte befürchten ließen.

Aber die türkische Pflaume ist noch nicht reif, und die Besitzer der Rentenbriefe können ruhig weiterschlafen bis zum großen Kladderadatsch. Leider hat sich nun zu den zwei großen unruhigen Faktoren, zu der serbischen und bulgarischen Nationalitätengruppe, ein drittes Element gesellt, das vorläufig noch nicht direkt hervorgetreten ist, aber immerhin zu den besten Hoffnungen berechtigt: das albanesische. Und wenn bis dahin auch noch mancher Tropfen den Berg hinabrinnen wird, so ist es doch verzweifelt lebensfähig und nimmt zudem in fast geschlossener Form mehr als den dritten Teil des Landes ein. Es wird ein politischer Faktor sein, sobald, der Not gehorchend, die religiösen Unterschiede in den Hintergrund treten. Vorläufig hindern noch Stammesabgeschlossenheit, Blutrache und Mangel an Verkehrswegen den allgemeinen Zusammenschluß. Man muß somit auch als Fremder immer froh sein, wenn man nur einen Zipfel dieses merkwürdigen, aber vorläufig noch recht unbekannten Landes näher kennen lernt; das Reisen im Innern ist nämlich kein Genuß. Ich zum Beispiel habe mich während eines längeren Aufenthalts in Montenegro notgedrungen nur für Oberalbanien interessieren können, kurz für alles, was von der serbischen Grenze herunter längs der montenegrinischen bis zum Skutarisee und noch ein gutes Stück weiter längs der Adria wohnt, für die Malissoren und die Miriditen. Diese ober- und mittelalbanesischen Stämme sind im Gegensatz zu den orthodoxen Vettern an der griechischen Grenze und den Muhammedanern im Innern fast ausschließlich Katholiken und sogar recht eifrige, die sich einer unbeschränkten Freiheit erfreuen und von der Regierung teilweise recht verhätschelt werden. Ihr Zentralpunkt ist Skutari, das albanesische Paris, Sitz des Erzbischofs. Zu den markantesten Erscheinungen auf dem Skutariner Bazar gehören nun die Miriditen, der vornehmste und streitbarste Stamm, der die südlich vom mittleren Drin gelegenen Berggegenden bevölkert.

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Ob ihr Gebiet 1000 oder 1400 Quadratkilometer, 20 000 oder 30 000 Seelen umfaßt, ist ganz nebensächlich, gezählt hat wohl noch niemand. Die Landschaft Miridita ist eben ein geschlossenes Ganzes, ein Staat im Staat, von dem man nicht so spricht, wie von irgendeinem beliebigen andern Stamm; die Miriditen respektiert man, schätzt sie höher ein. Sie halten auch auf sich, sie verüben keine Dummenjungenstreiche, wie es einzelne Malissorenstämme wohl thun, mit einem Wort, sie sind Gentlemen. Sie halten streng auf ihren Ehrenkodex, sie vergessen keine Beleidigung und genießen, wenn es nicht anders geht, ihre Rache kalt, oft nach langen, langen Jahren. Sie lassen nicht, wie die meisten andern Stämme, die Blutrache nach Zahlung einer Entschädigung aufhören, zumal nicht, wenn es sich um das weibliche Geschlecht handelt; gerade in diesem Punkt verstehen sie keinen Spaß, und die harmloseste Aeußerung kann zu einer ausgiebigen Blutrache führen. Manche Eigenschaften der Miriditen sind ja nicht gerade empfehlenswert, mit dem Eigentum nimmt man’s nicht sehr genau, aber manches andere entschädigt; einer borgt dem andern ohne Schein und Zinsen, Wucher ist überhaupt unbekannt, und Darlehns- oder Pfandgeschäfte giebt’s schon gar nicht, also idyllische Zustände. Sonst nährt man sich redlich von Viehzucht und Ackerbau, und den Wein trinkt man selbst, zu großen Reisen kommt man auch nicht, die Wege sind recht schlecht.

Junger Midrit
Palast der Fürstin Marcela in Kalmetit

Vor allen albanesischen Stämmen haben die Miriditen aber eins voraus: sie stehen schon seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts unter eigenen erblichen Fürsten. Im „Gothaer“ ist nun „Dera e Dzon Marku“ nicht verzeichnet; und der Fürstentitel wird zweifellos mehr aus Courtoisie gebraucht. Immerhin hat die Familie aber volles Anrecht auf ihn; sie ist seit 200 Jahren vollständig unabhängig und selbständig, und wenn auch der jetzige Fürst im Ausland in einer Art Verbannung lebt, der Stamm sieht in ihm immer noch den rechtmäßigen Inhaber der Gewalt. Was will man? Das Haus Petrovic Njegos ist schließlich nicht viel älter und auch nicht aus größeren Verhältnissen hervorgegangen, nur hat das Haus Doda und der Stamm der Miriditen nicht so viel Glück gehabt, wie die fürstlich montenegrinische Familie; dafür haben aber die Nachkommen des ersten Fürsten oder Kapitäns Dzon Marku, der um 1700 fiel, einen so feudal-blutigen Stammbaum, wie wenige andere Familien. Nach Gopcevic’s „Oberalbanien und seine Liga“ sind von den 19 im Stammbaum verzeichneten Mitgliedern des Hauses nur 6 eines natürlichen Todes gestorben, 9 fielen der Blutrache zum Opfer, 1 wurde von den Türken enthauptet; aber 8 Opfer der Blutrache kommen allein im Lauf von 15 Jahren (1825-1838) auf das Konto zweier Witwen, die teilweise sogar aktiv eingegriffen haben. „Nach beendeter Blutrache,“ heißt es bei Gopcevic, „zogen die vier überlebenden Männer in das Haus zu Orosi, in dem alle diese Unthaten geschehen waren, und auch die beiden Witwen, die sich gegenseitig höchsteigenhändig die Ehegatten umgebracht hatten, verkehrten freundschaftlichst, als ob nichts geschehen, miteinander.“ Das Geschäftliche war ja vollständig erledigt.

Medritenfürst Prenk Bib Doda (zur Zeit im Exil)
Midritenhäuptling

Der gegenwärtige Chef der Familie ist Fürst Prenk Bib Doda, geb. 1858. Ihn hat die Pforte in kluger Berechnung aus dem Land zu entfernen gewußt. Mit Ehren überschüttet, lebt er fern der Heimat in einer Art Verbannung irgendwo in Kleinasien; dem Wohlleben verfallen, ist er politisch tot. Desto energischer führt aber, so weit noch etwas zu regieren ist, die Fürstinmutter Marcela die Zügel der Regierung. Von Regierung kann ja eigentlich nicht mehr die Rede sein, die Familie hat wohl schließlich noch sehr großen Einfluß im Stamm, und ein energisches Mitglied könnte unter Umständen der Regierung unbequem werden, das ist aber auch alles. Die Fürstin Marcela, eine stolze, imponierende Erscheinung, ist die Witwe Bib Dodas, des größten Miriditenfürsten, der unter Omer Pascha in der Krim focht. Sie ist keine Miriditin, auch ursprünglich keine Katholikin. Die Geschichte ihrer Ehe entbehrt sogar nicht, wie man sagt, eines gewissen romantischen Hintergrundes. Fürst Bib Doda lebte in kinderloser Ehe mit einer Stammestochter, was die Fürstinmutter derart verdroß, daß sie ihre Schwiegertochter eines Tags einfach erschoß, um ihrem Sohn Gelegenheit zu einer neuen Ehe zu geben; eine merkwürdige Umgehung des Ehescheidungsverbots.

Ein lieblicher Reitweg
Bauernhaus

Der jugendliche Witwer raubte sich dann schleunigst das schönste Mädchen aus einem benachbarten muhammedanischen Stamm, die heutige Fürstin, die schließlich zum Katholizismus übertrat.

Der Wohnsitz der Familie ist zur Sommerszeit Kalmetit, und für die wenigen Reisenden, die der Miridita einen Besuch abgestattet haben, muß es ein Genuß sein, in zivilisierte Verhältnisse zu kommen.

Fürstin Marcela, Frl. Martha, Abbate Don Primo Docci, Prinzessin Davidica

Im Winter wohnt die Fürstin mit ihrer Tochter Davidica und ihrer sehr hübschen Nichte Martha in Skutari; sie erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit. Eine interessante Persönlichkeit, die in Orosi ihren Sitz hat, ist das geistliche Oberhaupt des Stammes Don Primo Docchi, ein geborener Albanese, der längere Jahre in Amerika gelebt hat. Der Herr Bischof ist zur Zeit wohl die einflußreichste Persönlichkeit im Land; er ist den wenigen Forschungsreisenden stets mit großer Liebenswürdigkeit entgegengekommen und hat auch auf seine Amtsbrüder in dieser Beziehung einen wohlthätigen Einfluß ausgeübt. Ohne die Unterstützung der Geistlichkeit wäre es recht beschwerlich, vielleicht unmöglich, die einzelnen Bergstämme zu besuchen.

In neuerer Zeit macht sich in Albanien eine bemerkenswerte Strömung bemerkbar. Man zeigt royalistische Gelüste und sieht sich nach Kronprätendenten um. So hat sich in neuster Zeit ein ehemaliger spanischer Diplomat Don Juan d’Aladro der erstaunten Welt als albanesischer Kronprätendent vorgestellt, der sich sogar auf eine Verwandtschaft mit dem albanesischen Nationalhelden Skanderbeg berufen kann.

Don Juan d’Aladro-Kastrioti

In seiner Proklamation vom 31. Januar 1902 an die „Fréres Albanais“ weiß der Prätendent sehr geschickt Töne anzuschlagen, die auf jedes albanesische Herz Eindruck machen müssen:

„Notre cri est: Le Seigneur soit avec nous! Le nom glorieux de Skanderbeg est notre banniére. Avec ce cri sur les lèvres, à l’ombre de ce drapeau, unissons-nous tous, musulmans, orthodoxes et. catholiques. Moi, humble serviteur de la patrie albanaise, je demande ‘honneur de combattre à vos cotes dans les saintes luttes de la delivrance.

O braves! o Albanais!“

Wieweit nun dieser Trick der sehr rührigen albanesischen Komitees Erfolg haben wird, lasse ich dahingestellt sein. Auf jeden Fall sind schon Ansichtspostkarten mit dem Porträt des „Prince D’Aladro-Kastrioti“ und dem albalbanesischen Wappentier erschienen – und das ist doch wohl die Hauptsache.

Dieser Artikel von Franz Genthe erschien zuerst am 01.11.1902 in Die Woche.