Rudolf Virchow †

Nichts kennzeichnet die universale Bedeutung und im besten Sinn weltbürgerliche Persönlichkeit des Heimgegangenen besser, als die innige Teilnahme, mit der sein Verlust von der ganzen wissenschaftlichen Welt empfunden wird. Besonders interessant und eindringlich spricht diese Gesinnung aus den nachfolgenden Gedächtnisworten, die die Redaktion der ,Woche“ von einigen bedeutenden Autoritäten der medizinischen Welt erbeten hat.

Sir Joseph Lister (London) schreibt uns: Wenn wir die hervorragenden Dienste ins Auge fassen, die Virchow der Pathologie geleistet hat, wenn wir seine großen Erfolge auf dem Gebiet der Hygiene, seine führende Stellung unter den Anthropologen und Archäologen, wenn wir endlich seine rastlose politische Thätigkeit betrachten, so ergreift uns ehrfürchtiges Staunen, und wir müssen ihn für einen der ersten Männer seines Zeitalters erklären. Gleichzeitig gedenken wir mit Bewunderung seines ausgezeichneten Charakters, seiner Aufrichtigkeit in allen Dingen und seines unerschrockenen Mutes, Eigenschaften, die mit fast kindlicher Schlichtheit und seltener Liebenswũrdigkeit verbunden waren.

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Professor Cornil, Präsident der Société Anatomique (Paris), schreibt: Virchows Tod wird von allen französischen Aerzten, die sich auf dem Laufenden der wissenschaftlichen Fortschritte halten, schmerzlich empfunden. Virchow hatte nicht nur durch seine Zellularpathologie eine neue Auffassung der Heilkunde geschaffen, die ihn seit fünfzig Jahren an die Spitze der gelehrten Führer zahlreicher Generationen stellte. sondern dank seinen leitenden Ideen rationeller und positiver Philosophie ist sein langes Leben das vollkommene Vorbild eines untadeligen Gelehrten, eines unermüdlichen, durch erstaunliche Entdeckungen ausgezeichneten Arbeiters, eines liberalen, fortschrittlich gesinnten Volksvertreters im Landtag, Reichstag und Magistrat geworden. Er hat die Grundlagen zur Berliner Stadthygiene gelegt. Eine starke Persönlichkeit ist mit ihm vom Schauplatz abgetreten.

Professor Leo Popoff, Mitglied der Akademie, (St. Petersburg): Der Gedanke von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele kann sich dem Verstand nie so klar vorstellen, als wenn so grosse Forscher des Geheimnisses über Leben und Tod sterben, wie es Rudolf Virchow war. Der Tod giebt ihm die Unsterblichkeit.

Geh. Medizinalrat Professor Dr. Franz König (Berlin): Wer am Begräbnistag Rudolf Virchows die ernste Feier im Rathaus unserer Stadt miterlebte, wer gesehen hat, wie diese Stadt alles aufgeboten hatte, um den großen Toten würdig zu feiern, ehe seine sterbliche Hülle dem Schoß der Mutter Erde übergeben wurde, dem drängte sich ohne weiteres der Gedanke auf, wie viel Virchow dieser Stadt gewesen ist, und wie die Väter der Stadt die Bedeutung seiner Person aller Welt in dieser vornehmen Feier dankbar zeigen wollten. Aber unwillkürlich schweiften die Gedanken ab von der Bedeutung des „Bürgers“ Rudolf Virchow und dessen, was er für seine Stadt gethan. Wenn das nicht schon ganz von selbst geschehen wäre, so würde der Feiernde durch die vortreffliche, sachliche, das Wesen Virchows und seine Thaten schildernde Rede des Geistlichen zum Nachdenken in dieser Richtung getrieben worden sein. Und der Schluß dieses Nachdenkens würde sein, daß wir uns mancherlei von unserm Virchow wegdenken könnten, ohne daß dies seiner kulturgeschichtlichen Größe, die die Thaten, die er für die Menschheit verrichtet hat, dereinst den Nachkommen aufbewahrt, Abbruch thun würde.

So wenden sich denn auch unsere Gedanken, als Trauergedanken über den Verlust, auf anderes. Vor dem Sarg erblicken wir tief trauernde Frauen und Männer, die Angehörigen unseres Verstorbenen. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf die Gattin. Wer es erfahren hat, wie sie in treuster Liebe und Sorgfalt für den Gatten, der gewohnt war, über der Arbeit und der Sorge für andere sich selbst zu vergessen, gewacht und gesorgt hat, der wird mit mir glauben, daß diese Frau zum Segen den Gatten überlebt hat, aber er wird auch den Schmerz ermessen, den sie fühlte, daß ihrem Leben das Licht und die Freude, sorgen zu dürfen, genommen ist.

Mit ihr trauern in gleichen Gefühlen die Kinder über den Verlust des sie über alles liebenden Vaters.

Zur Erinnerung an Rudolf Virchow

Aber dann sehen wir die große Gemeinde der Trauernden, die Berufsgenossen vom Aeltesten bis zum Jüngsten. Sie sind es in der That, die den Meister verloren, verloren den, der sie lehrte, wie sie denken, wie sie arbeiten sollten, sie alle von der Fakultät und ihren Vertretern, bis zum jüngsten Arzt und dem Studenten in bunter Mütze. Sie werden ihn fortan nicht mehr sehen mit dem geistvollen Auge, sie werden nicht mehr seine schlichten und wahren Worte hören, nicht mehr wird er ihnen zeigen, wie sie mit Messer und Pinzette, mit dem Mikroskop und Tierversuch die Wahrheit suchen sollen.

Aber so groß die Trauer ist, sie hat ein Trostmittel: das, was der Meister gefunden und zu einem stolzen Neubau unserer Wissenschaft geformt hat, das hat er bereits bei seinen Lebzeiten seinen Jüngern vererbt. Den stolzen Bau haben sie in sich aufgenommen, die Jungen wissen es gar nicht mehr, daß dem so ist, aber sie wohnen doch in ihm, und indem sie jenem, der ihn errichtete, folgen, bauen sie ihn aus, innen und außen.

Wenn auch so unserer aller, die wir den großen Meister in vielem vermissen, Trauer an seinem Ableben eine allgemeine und große ist, so wird sie doch gemildert in dankbarer Freude darüber, daß er uns bereits im Leben das Beste, was er schuf, vererbt hat.

Ein Verlust bleibt uns freilich im wissenschaftlichen und Kulturwettkampf der Völker. Wenn man bis jetzt in einem Namen das wesentliche zusammenfassen wollte, was das neunzehnte Jahrhundert in medizinischer Wissenschaft geleistet hat, so war dieser Name Rudolf Virchow. Neidlos erkannten die andern Nationen der gebildeten Welt diesen Namen an.

Deutschland hat keinen direkten Erben dieses Namens.

Deshalb soll sein Tod die Besten der Nation anfeuern, daß auch in der Folge uns ein Nachfolger Rudolf Virchows erwächst.

Geheimer Medizinalrat Professor Dr. B. Fränkel (Berlin); Der Tod Virchows bedeutet für unser Vaterland einen schweren nationalen Verlust. Keiner der jetzt lebenden Gelehrten genießt wie er die Anerkennung und Bewunderung der Welt. Wer einen internationalen medizinischen Kongreß besucht hat, wird sich des jubelnden Beifalls erinnern, mit dem, sei es in London, Paris, Rom oder Moskau, jedesmal das Erscheinen Virchows begrüßt wurde. Wenn er unter uns weilte, gehörten immer die Deutschen zu den bevorzugtesten Nationen.

Und Virchow verdiente die allgemeine Verehrung. Wenigen nur ist es beschieden, so weit als es seinem Genius gelang, die Grenzpfähle des Wissens in das bis dahin Unbekannte hinauszutragen. Unter den Garben, mit denen jetzt die medizinische Wissenschaft als gesichertes Eigentum ihre Speicher füllt, sind eine erstaunliche Anzahl von Virchow gesät und geerntet worden. Die Entwicklung Virchows fällt in die Zeit, in der das Mikroskop in die Medizin eingeführt wurde; er fand demnach noch einiges unbeackertes Land vor. Aber trotzdem ist die Fülle der mustergiltigen Einzelbeobachtungen, mit denen sein eiserner Fleiß und seine unbezwingliche Energie die Wissenschaft bereicherte, geradezu überwältigend. Seine „Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin“ (1856) und sein leider nicht ganz vollendetes „Geschwulst-Werk(1865 -67), um nur diese Beispiele zu gebrauchen, sind geradezu unversiegbare Quellen des Wissens. Seine pathologisch anatomische Sammlung, die er noch kurz vor Abschluß seines Lebens zu einem Museum vereinigte, steht geradezu einzig in der Welt da. Ebenso vielleicht seine Sammlung von Schädeln.

Dabei beteiligte er sich hervorragend an der Gründung des ethnologischen, des märkischen und des Museums für Volkstrachten. Bei aller Vielseitigkeit aber geschah alles, und sei es auch nur die Untersuchung eines ihm vorgelegten Präparates mit der größten Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Virchow verfügte über eine bewundernswerte Allgemeinbildung. Als Jüngling schrieb er in seinen Freistunden eine Geschichte von Vorpommern und Rügen, und häufig, besonders in den anthropologischen Sitzungen, überraschte er durch sein eminentes geographisches und historisches Wissen. Dabei war er Sprachgelehrter. Er wußte den Wert eines präzisen eindeutigen Namens sehr wohl zu schätzen, und es verdroß ihn, wenn in der medizinischen Nomenklatur Fehler gegen die griechische oder lateinische Grammatik gemacht wurden. Je höher aber die philosophische Ausbildung Virchows steht, um so mehr muß die Fülle der Einzelbeobachtungen anerkannt werden, die er zuerst machte und die er in mustergiltiger Welse in den Annalen der Wissenschaft niederlegte. Keine allgemeine Klinik und ebenso keine der vielen Spezialitäten der Medizin kann an seinem Namen vorübergehen. In sehr vielen Abschnitten hat er geradezu grundlegend gewirkt.

Virchow war eine mitteilsame Natur. Was die stille Arbeit des Gelehrten als sichere Erkenntnis gewonnen hatte, das stellte er gern auf den Markt des Lebens; meistens in bewunderswert klaren Aufsätzen in der medizinischen Fachpresse, häufig vor seinen Kollegen in Versammlungen und Vereinen, Zuweilen, z. B. in der Trichinenfrage, in Broschüren für das große Publikum. Das „Archiv für pathologische Anatomie“, das er gründete, hat jetzt die unerhörte Anzahl von 170 Bänden erlebt, die unter seiner Redaktion erschienen sind. Häufig stellte er sich praktische Aufgaben. Als er im Jahr 1879 seine Abhandlungen aus der öffentlichen Medizin sammelte, wurden zwei starke Bände daraus. Auch hat Virchow in des Wortes eigentlicher Bedeutung Schule gemacht. Die Mehrzahl der jetzt lehrenden Meister nicht nur seines Spezialfaches sondern in der gesamten Medizin sind seine, oder seiner Schüler Schüler.

Virchows eigentliches Arbeitsgebiet, die pathologische Anatomie, beschäftigt sich mit Leichnamen. Aber der Zustand der toten Teile wird dazu verwandt, um die Störungen zu erkennen, denen die lebenden Organe unterworfen waren. Aus den Veränderungen der toten Substanz entwickelte Virchow in seinen Schriften und seinen Vorlesungen den lebendigen Krankheitsprozeß. Was seine feinfühlige Hand abtastete, was sein scharfes Auge erblickte und was sein beredter Mund in mustergiltiger Anschaulichkeit schilderte, das faßte sein philosophischer Geist vergleichend und sichtend zusammen. Nachdem er gefunden hatte, daß die Zellen sich nicht aus dem Leeren und Flüssigen bilden, sondern in direkter Erbfolge eine von der andern abstammen, bewies er, daß sein berühmter Satz „omnis cellula e cellula“ auch für die Pathologie galt, und so entstand sein berühmtes neues System der Zellularpathologie, das sich mit ungeahnter Schnelligkeit die Welt eroberte. Mag nun auch manche von Virchows Beobachtungen durch fortschreitende Erkenntnis sich als nicht einwandsfrei herausstellen, mögen Quadern des stolzen Baus seiner Zellularpathologie morsch werden, das höchste Verdienst Virchows aber wird scher für alle Zeiten stehn bleiben, nämlich seine Methode der Forschung. Er war es, der die allerdings bereits im Weichen begriffene naturphilosophische Anschauung aus der Medizin gänzlich vertrieb und an ihre Stelle die empirische Methode setzte. Seit Virchow bilden für die Medizin, wie für die Naturwissenschaften überhaupt, die mit aller Sorgfalt ausgeführten Beobachiungen und das Experiment die einzige Grundlage der Erkenntnis. Auf dieser Grundlage kann man Gesetze und Systeme erbauen. Aber alle diese Dinge sind der Beobachtung und dem Experiment unterworfen und müssen aufgegeben werden, sobald sie mit der voraussetzungslosen Beobachtung nicht übereinsummen. Mit dieser Methode gelang es Virchow die medizinische Forschung und das medizinische Wissen so gestalten, daß die Medizin jetzt allgemein als ein Zweig der Naturwissenschaften anerkannt wird. Freuen wir uns, dass es uns vergönnt war, diesen Unsterblichen als einen der Unsern unter uns wirken zu sehen!

Ehre seinem Andenken!

Persönliche Erinnerungen an Rudolf Virchow.

„Das ist ja auch republikanisches Blut!“, so redete mich R. Virchow eines Sonntagabends an, als er zum erstenmal bei seinem späteren Schwiegervater, dem berühmten Frauenarzt Karl Mayer, zum Besuch war.

Ich, ein dreizehnjähriger Obertertianer, war ihm natürlich nicht vorgestellt, aber er hatte gehört, daß ich Arnold Ruges Sohn war, und fragte nun sehr teilnehmend nach meiner in die Fremde vertriebene Familie und meinen noch sehr unbestimmten Zukunftsplanen. Er war damals noch ganz bartlos, und das gute, liebe, kluge Gesicht leuchtete derart in meine jungen Augen hinein, daß ich später ernstlich bedauerte, einen Teil desselben durch einen schönen Vollbart verdeckt zu finden.

Als ich dann 1855 als junger Student in Würzburg eingezogen war, fand ich die freundlichste Aufnahme in seinem Hause und habe dort in den folgenden zwei Jahren manchen glücklichen Abend, auch zwei sehr fröhliche Weihnachtsabende im Kreise seiner damals noch jungen Familie verlebt. Sein Familienleben war überaus glücklich; die ausgezeichnet liebenswürdige und reizende Frau sah mit zärtlicher Bewunderung zu ihm auf und hatte damals noch nicht die quälende Sorge, die ihr später nicht erspart worden ist, daß er sich gar zu viel an Arbeit zumuten würde. Stets hatte er Zeit für die Kinder, mit denen er sich viel und gern beschäftigte.

Im Verkehr war er stets anregend, gut aufgelegt und zu Scherzen und Neckereien geneigt. Als ich beim Ausschmücken des Weihnachtsbaumes in die Höhe sah und dabei über eine im Wege stehende Kiste stolperte, rief er sofort; „Recht sol per aspera ad astra!“ In seinem letzten Semester in Würzburg forderte er mich auf, mit ihm Englisch zu lesen, dessen ich mächtig war, weil ich nach dem Abgangsexamen ein Jahr in England bei meinen Eltern gewesen war. Ich durfte nachmittags zum Kaffee kommen – „wenn der Mensch naturgemäß der horizontalen Lage zustrebt“, wie er sagte – und wir lasen zusammen einen Bericht über den Prozeß Palmer, eine Vergiftungsgeschichte mit Gattenmord aus den sogenannten höheren Klassen Englands, und einige Abhandlungen englischer Pathologen. Mit der größten Leichtigkeit fand er sich in das fremde Idiom und hat sich später oft und gern dessen bedient. So bin ich kurze Zeit selbst Lehrer meines unvergeßlichen Lehrers gewesen. Ganz anders gestaltete sich Virchows Leben in Berlin.

Da er stets zu jeder nützlichen und schwierigen Arbeit bereit war, und diese Willigkeit bald erkannt und wegen der stets unerwartet wichtigen und wuchtigen Ergebnisse immer wieder in Anspruch genommen wurde – war seine Zeit bald übermäßig besetzt.

Dennoch war er auch jetzt noch ganz für die Seinen vorhanden.

Ueberall griff er selbst ein, bei Tisch schnitt er vor und verteilte die Portionen an die Kinder und die Leute; er achtete auf die Kleidung der Kinder, im Winter, ob sie Halstücher und Handschuhe nicht vergäßen, er behandelte die Dienstboten in Krankheitsfällen selbst und soll sogar eigenhändig heiße Umschläge, die ihm nötig schienen, bei einem derselben gemacht und erneuert haben.

Stets war er auch für entferntere Verwandte oder Freunde mit Rat und That bei der Hand und opferte seine doch so unendlich kostbare Zeit oft in verschwenderischer Weise. Er wurde aber auch von unzählig vielen als Mensch ebenso schwärmerisch verehrt, wie er in der großen Welt als Mann der Wissenschaft und der That angestaunt wurde.

Zu seinem siebzigsten Geburtstag durfte ich ihm als Vorsingender des Zentralausschusses der ärztlichen Vereine die Glückwünsche und den Dank der Berliner Aerzte aussprechen, die alle in ihm ihren teuren Lehrer verehrten. „Auch die zweifellos Unsterblichen läßt die Zeit nicht unberührt,“ sagte ich ihm damals Aug im Auge. Jetzt hat er ihr seinen letzten Tribut gebracht, aber seiner Unsterblichkeit wird sie nichts anhaben, sein Name lebt ewig. R. Ruge

Die zum Schluß folgende geistreiche Skizzierung Virchow als Mensch verdanken wir einem vertrauten, seinem Famillienkreis nahestehenden Freund des Entschlafenen. D. R.

Wie war er wohl als Mensch? – Das Interesse an dieser Frage ist berechtigt, da ja eine Biografie eines großen Mannes viel Belehrendes bringt. – Von einer ausführlichen Schilderung soll heute abgesehen werden; nur einige Bemerkungen.· – Hochinteressant ist bei Virchow die Beständigkeit, der fehlende Wechsel seiner Anschauungen, Empfindungen und dementsprechend seines Verhaltens neben dem Wandel, dem er seine Gedanken, seinen ganzen Charakter gab. Beides, die Beständigkeit, wie der Wandel, auf einer Grundeigenschaft: gerecht zu sein, zu werden – beruhend.

Seiner Beständigkeit entspringt das tiefe Festhalten der einmal geschlossenen Freundschaften: wir sehen ihn treu mit seinen alten Freunden zusammenhalten: Körte, Langerhans nicht er allein, die Frau, die Descendenz war und wurde eingeschlossen – Siegmund, Jagor, Schrimm, jüngere reihten sich an, Luecker, viele seiner ehemaligen Assistenten. Wer ihm verbunden war, blieb es; eine gleichbleibende, liebenswürdige Art, in seiner Häuslichkeit zu empfangen, zu begrüßen, fesselte den Neuherantretenden; immer lernte man zu, ohne belehrt zu werden,sei es, dass er erzählte, seoi es, dass erfragte. Eng verbunden mit dem Festhalten an alter Freundschaft ist der ihm stets bewahrte Familiensinn: es war kein pedantisches Festhalten an einem von ihm als richtig erkannten Vorsatz, diese Eigenschaft war ihm natürlich und deshalb so unmittelbar angenehm berührend. – Einer Einladung in die Familie oder zu einem Geburtstag der ihm Nahstehenden wurde immer stattgegeben. Es war ein rührendes Verhältnis zwischen ihm und seinem Schwiegervater, dem berühmten Karl Mayer, mit dem ihn auch wissenschaftliche Arbeit verband, und seiner Schwiegermutter. Der von harter, rauher Außenwelt heimkehrende, oft bittere Mann war zu Hause der zarte Gatte, der gute Vater; nach wenigen Minuten war der Grundton wiedergefunden, der ihn sein ganzes Leben mit der Gattin verband. – Wie sie es machte, wie er sich gab im eigenen Heim, ist nicht zu schildern: es war etwas so Persönliches, beiden Gatten Eigenes, was man nie vergißt, wenn man es kennen gelernt hat. – Wer kann die Empfindungen schildern, die nur der Tonfall des Wortes, der Blick der Augen, das Kommen, das Gehen, das ganze Verhalten hervorruft; stets erschien alles neu und doch immer war es wie früher.

Sonntagsnachmittag wurde oft mit der Familie Ausfahrt gemacht. Auch Muffel, der langjährige treue vierbeinige Geselle, merkte nichts von dem, was den Herren gelegentlich draußen berührt hatte: draußen blieb draußen. – Wie oft machte er der Gattin Sorge: wenn Aergernisse drohten, wenn Briefe etwas ankündigten – er verstand sie zu beruhigen; oft kamen recht eigentümlich duftende Kisten an, die bei Abwesenheit des Mannes schnell nach der Charité befördert wurden; gelegentlich kam Irrtum vor: so wurde ein silbernes Pokalehrengeschenk der Greifswalder Fakultät vom „Institut“ als nicht verwendbares Präparat zurückgeschickt. – Der Platz, an dem Virchow arbeitete, wurde immer kleiner: die Bücher mehrten sich – zuletzt konnte er an seinem Tisch nicht mehr arbeiten, und doch wußte er überall Bescheid; nicht nur einmal wurde er bei der Lampe arbeitend noch von der Gattin angetroffen, während andere schon ans Kaffeetrinken dachten; er schlief dann 1-2 Stunden, kam daher wohl auch oft zu spät zur Vorlesung. – Ja, die Vorlesung, und noch dazu früher in der Konfliktszeit. eben aus dem politischen Kampf am Dönhöffplatz – dann hinein ins Kolleg, jedes Wort durchdacht, intensiv anregend – nach Schluß zurück ins politische Getümmel, die Droschke stand schon bereit; – genau wurde im Kolleg da wieder eingesetzt, wo der Vortrag aufgehört hatte; oft ein schneller Blick in das Kollegienheft des Zunächstsitzenden und mitten in die Wissenschaft. – Wer mit Virchow etwas zu besprechen hatte, mußte dann mit nach dem Dönhoffplatz fahren; in der Droschke hatte er Zeit. Diese Hast und doch stets – die sich sofort wiederfindende Ruhe.

Die Möglichkeit, neue, hervortretende Dinge objektiv zu beurteilen.

Virchow war stets streng gegen sich: kein Wandel in steter Arbeit, ein stetes Schaffen, Neugestalten, im Vorschlag, in der Ausführung; – streng gegen andere, auch jüngere, aber die Strenge gegen sich blieb – gegen andere ließ nach.

Wer hätte als junger Mensch sich früher gern an Virchow herangemacht? Oft konnte ihn schon ein nachlässiges Sitzen eines Jüngeren zu bitteren Bemerkungen veranlassen.

Daß einer in seiner Jugend an „nichts“ denken konnte, war ihm unverständlich: er sah alles, beobachtete alles – wo er war, fand er etwas; wo keiner es ahnte, entdeckte er etwas. – Höchst interessant ist es, wie das ursprünglich Herbe einem natürlichen Wohlwollen Platz machte. Ja, er ließ sich gelegentlich „quälen“. Mit welcher Ruhe ließ er sich über ein wissenschaftliches Objekt ausfragen! Direkt freundschaftlich so weit es bei einem jungen Mann einem älteren gegenüber möglich war, stand er zu seinen Assistenten. Mit welcher Freude folgte er ihrer Arbeit; oft in Hemdsärmeln, wie es der Verkehr im Institut mit sich brachte, wurden die wissenschaftlichen Fragen erörtert.

Virchow war gerecht, sein Bestreben gerecht zu werden, lag tief gewurzelt in seinem Charakter, und er prüfte – er sah. Virchow war treu in seiner Freundschaft, unwandelbar in seinem Verhalten zu den Seinigen, streng und unwandelbar gegen sich und seine Arbeitskraft; und wunderbar, welche Aenderung in ihm später vorging: er wurde milder. Früher wenig empfänglich für Schnurren, hatte er später auch seine Freude dran; seine scharfe Denkungsweise ließ ihn fast den Humor als etwas Triviales, Unverständliches gelten, er faßte leicht so auf, wie es gesagt wurde, nicht wie es gemeint war.

Mit welchem Humor erzählte Virchow später, wie ihm das Beiraten polizeilich so schwer gemacht wurde, wie er eigentlich noch vor seiner Hochzeit, die schon festgesetzt war, auf polizeilichen Befehl Berlin verlassen sollte, als gefährlicher Mensch.

Mit dem Humor, der ihm früher fast fremd erschien, trat auch später mehr die Freude an angenehmen Zusammensein mit andern auf. Die Anthropologische Gesellschaft war wohl wesentlich die Veranlassung, daß er in Nachsitzungen vielen eine Freude durch seine Anwesenheit machte; stets mäßig, lernte er doch die Annehmlichkeit des Zusammenseins mit andern kennen; er nutzte dadurch der Sache enorm.

Wie wunderbar war die Schnelligkeit, mit der er arbeitete, mit der er sich sein Thema, das zu behandeln war, zurecht legte – wie hatte er stets alles bei der Hand! Kaum eine Stunde vor der Sitzung der Münchner Naturforscherversammlung wußte er noch nicht, was sein Thema sein würde, erst auf der Fahrt nach Breslau überlegte er seinen Vortrag, der sofort gehalten werden mußte: und doch war nachher jedes Wort, jeder Satz gehaltvoll. Beim Lesen Virchowscher Abhandlungen kann man keine Seite überspringen, wie es ohne Schädigung bei andern leider so oft möglich ist.

Eins war ihm ganz fern – das lag eben in seinem Wesen, gerecht zu werden und zu prüfen – sogenannter „Klatsch“ – und es nahte ihm auch wohl kaum einer mit solchen Dingen, was entschieden eine vornehme Auffassung voraussetzte. Treu, unwandelbar, wandelbar nur im Guten und reine Güte – ein Vorbild für die Jugend, bewunderungswürdig für die Alten: so war er als Mensch.

Die Beisetzung Rudolf Virchows am 9. September

Die Beerdigung Rudolf Virchows Abb. hat am 9. September nach einer großartigen Feier im Berliner Rathaus unter Kundgebungen stattgefunden, die noch einmal so recht darthaten, welcher allgemeinen Hochschätzung sich der große Gelehrte erfreute. Auf dem alten Matthäikirchhof wurden die sterblichen Ueberreste des Unsterblichen zur letzten Ruhe bestattet.

Diese Artikel erschinenen zuerst am 13.09.1902 in Die Woche.