Frauenturnen in Amerika

Jeder Arzt wird uns die Versicherung geben, daß wir, sobald die erste Jugend entschwunden ist, unmöglich ein wohlgefälliges Aeußere haben können, wenn wir die einfachsten Regeln der Hygiene unbeachtet lassen.

Vernunftgemäße Pflege des Körpers und die Ausbildung der physischen Kräfte vermögen in der That Wunder zu wirken. Schon innerhalb einer kurzen Zeit kann eine Besserung in dem Aussehen eines weiblichen Wesens bemerkt werden, das nach kaum begonnenen Korperübungen aus seiner krankhaften Gleichgiltigkeit zu erwachen scheint. Die Bewegungen werden lebhafter, die Augen bekommen mehr Glanz, das Gesicht eine frischere Farbe. Nach wenigen Wochen ist aus dem bleichsüchtigen Geschöpf, das nicht den geringsten Anspruch darauf hatte, hübsch genannt zu werden, eine kleine Schönheit mit kräftigeren Formen, graziösem Gang, rosigem Teint und interessantem Wesen geworden, ungeachtet des Umstandes, daß sie weder eine griechische Vase noch einen Rosenknospenmund oder sonstige dem Schönheitsideal entsprechende Züge aufzuweisen hat.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Wohl in keinem andern Land der Erde wird die Wahrheit des Ausspruchs „Physische Kraft bedeutet Gesundheit, und gesund sein heißt schön sein“ mehr beherzigt und durch deutlichere Beispiele bewiesen als in den Vereinigten Staaten. Es liegt nichts Weichliches, Verzärteltes in diesen Mädchen und Frauen; wenn es Amazonen sind, so doch ohne die weniger angenehmen Eigenschaften jenes „streitbaren“ Frauenvolks, von dem uns die bekannte Sage des Altertums erzählt.

Das Meisterschaftsboot der Studentinnen an der Bostoner Wellesley-Universität auf dem Wabansee
Gymnastische Zimmerübungen für Ruderwettfahrten im Einsitzer

Den beiden letzten Dezennien ist die volle Entfaltung dieser Schönheit zu danken. Die Amerikanerinnen von 1900 sind größer, ebenmäßiger gebaut und gesünder, als es ihre Großmütter waren, die in ihren Krinolinen und Schutenhüten, sobald der Herbstwind über die Stoppeln wehte, sich kaum noch ins Freie wagten, sondern fröstelnd und übelgelaunt sich in schwellende Polster schmiegten.

Spürt man den Ursachen dieser erfreulichen Wandlung in der physischen und psychischen Beschaffenheit der Frauen jenseits des Weltmeers nach, so wird man fast ohne Ausnahme die Wahrnehmung machen, daß turnerische Uebungen aller Art, die Ausübung der verschiedensten Sports, denen sich Onkel Sams Töchter mit Lust und Liebe, jedoch ohne Uebertreibung hingeben, von so vorzüglicher, heilsamer Wirkung auf Leib und Seele des Weibes sind.

Die moderne Athletin an Schweberingen
Das neue Korbballspiel der Amerikanerinnen – Der Ball im Netz

In keiner mit einer Universität in Verbindung stehenden Bildungsanstalt für Damen, in keinem Mädchenpensionat der Vereinigten Staaten fehlen heute die Einrichtungen zu allerlei Sports, Leibesübungen und Spielen im Freien. Den Studentinnen und den Zöglingen der Erziehungsinstitute wird in erster Linie Gelegenheit geboten, sich zu Meisterinnen im Rudern, Fechten und Schwimmen auszubilden. Die stets aus den acht gewandtesten Ruderinnen bestehende »rowingcrew« des Wellesley-College in Boston hat geradezu Berühmtheit erlangt. Unser Bild S. 1061 zeigt die geschmeidigen Mädchengestalten in ihrem Rennboot auf dem Wabansee, der sich unmittelbar vor der Thür der Lehranstalt ausdehnt. Jede einzelne Musentochter nimmt es mit dem Trainieren sehr ernst, um ihre Leistungen derart zu vervollklommnen, daß sie hoffen darf, auch einmal einen Platz im Championboot zu erhalten.

Nächst dem Rudersport ist es das interessante Korbballspiel, das sich zur Zeit der größten Beliebtheit erfreut und sogar das Lawn Tennis in den Hintergrund gedrängt hat. „Basket ball“ ist dem Fußballspiel der Männer ähnlich. Von den zwei spielenden Parteien sucht jede den Ball in einen ziemlich hoch angebrachten Korb hineinzubekommen. Die Partei, der dies trotz aller Bemühungen der Gegenpartei, den Ball zu erobern, gelingt, hat natürlich gewonnen.

Zimmerübungen an vertikalen und horizontalen Turnleitern
Das neue Korbballspiel der Amerikanerinnen – Der Kampf um den Ball

Auch jene Frauen, die ihre Studienjahre hinter sich haben, finden in den in jeder größeren Stadt vorhandenen Instituten für „Phyical Culture“ alles, was sie brauchen, um blühende Gesundheit zu erlangen oder sich dies kostbare Gut zu erhalten. Selbständige Mädchen, die einem aufreibenden Beruf obliegen, von gesellschaftlichen Strapazen angegriffene Damen der großen Welt, Künstlerinnen und andere Frauen, an deren Nerven das Leben hohe Anforderungen stellt, nehmen ihre Zuflucht zu diesen Anstalten, die sie nach mehrwöchigem Kursus verjüngt und mit neuen Kräften ausgestattet wieder verlassen. Meist sind die Damen so entzückt von dem Erfolg der gymnastischen Kur, daß sie sich als ständiges Mitglied einer „Klasse“ von Altersgenossinnen einschreiben lassen und fast täglich kurze Zeit die Körper und Geist erfrischenden Uebungen mit Hanteln, am Reck und an den Ringen vornehmen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 10.06.1901 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit “Grace”.