Bitte, zu Tisch

1905, von J. Lorm. Wenn man eine Zeitlang der Ansicht gewesen, daß die einzige Kunst bei einem Diner auf seiten des Kochs liege, so ist diese Ueberzeugung längst dahin erweitert worden, daß die Genüsse des Magens dadurch erst vollwertig gewürdigt werden können, indem man auch gleichzeitig den Augen und den Ohren einen Schmaus bereitet.

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Wir sind infolgedessen zu einer Wissenschaft gelangt, die man “die Kunst des Dinierens” nennen könnte, und die darin besteht, seinen Gästen zugleich mit den glänzend zubereiteten Gängen auch interessante Leute zu servieren, deren Unterhaltung dem Mahl eine erhöhte Würze verleiht. Daß dergleichen “Dinerkünstler”, die vor allem geistvolle Plauderer sein müssen, ihren Ruhm auf die Dauer durch Magenverstimmungen bezahlen müssen, ist eine überflüssige Nebenerwägung, da ja jede Art von Berühmtheit eines kleinen Opfers wert ist.

Fürstliche Galatafel auf der Wartburg

Aber diese geistvollen Plauderer haben auch ihre Schattenseiten. Eines Tags konnte dem Grafen Potocki, dem Schwiegersohn des verstorbenen Generalintendanten des Kaisers Fürsten Anton Radziwill, 3/4 Stunden lang der Fisch nicht serviert werden, weil ein berühmter Mann, den Suppenlöffel, den man ihm nicht gut entringen konnte, in der Rechten, eins seiner geistvollen Feuilletons sprach. Auch liegt es nicht immer in der Macht der Hausfrau, dem Tischgespräch jene heitere Wendung zu geben, die eigentlich notwendig ist, um die Gäste in eine den lukullischen Genüssen gegenüber empfängliche Stimmung zu versetzen.

Kleine fürstliche Tafel am bayrischen Hof

Besonders angenehm ist es, wenn die Unterhaltung auf ein historisches Gebiet hinüberspielt, wie es auch bei jenem eben genannten Diner der Fall war, wo jemand es für notwendig erachtete, von Napoleon III. zu sprechen und dabei und nebenbei zu Unrecht bemerkte, daß der Kaiser die Frauen nicht geliebt habe. Der Redner fügte galant hinzu: “Er war zu sehr in Anspruch genommen, um sich mit derlei Kleinigkeiten abzugeben. Er hatte dazu keine Zeit!” – Glücklicherweise wohnte jenem Diner auch der lebenslustige Großfürst Alleris, – der vor kurzem seiner Funktionen als oberster Chef der russischen Flotte enthobene Onkel des Zaren, bei, der darauf philosophisch erwiderte: “O, dazu hat man immer Zeit!” – Die Stimmung war hergestellt. Zuverlässiger als der Ohrenschmaus, den man seinen Gästen serviert, bleibt immer das Wohlbehagen, das man ihren Augen bietet, und auf das bereits seit langem besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird: die Tafeldekoration. Welch ein weiter Weg liegt zwischen dem einstigen Arrangement eines Speisetisches (Abb. 1) mit seinen flachaufgelegten Servietten, seinem Pflanzenmittelstück, seinen Petroleumlampen und dem buntdekorierten Glasservice und der mit gipürebesetztem Tischtuch bekleideten kleinen Tafel, an der sieben bayrische Fürstlichkeiten Mahl einnahmen (Abbildung 3).

Japanische Bankettafel

Die Vorliebe für die früher fast völlig unbekannten, spitzenbesetzten Tafeltücher kommt hier ebenso zum Ausdruck wie dies sehr vernünftige, weil praktische Tendenz, vor jeden Gast ein kleines Salz und Pfefferfaß und eine Glaskaraffe Rotweins zu stellen, während das silberne Prunkstück als Mittelzier des Tisches dem immerhin repräsentativen Charakter der Tafel entspricht, die unter einem mit Straußfedern und einer Krone gezierten Thronhimmel ihren Platz fand. – Weniger auf den eleganten Detail – als den wirkungsvollen Gesamteindruck müssen Tafeln hergerichtet werden, die auf eine große menge Gäste berechnet werden sollen, wie es bei unserer Abb. 4 der Fall ist. Hier tinkt jeder, was er will der Geschmacksrichtung des einzelnen kann weder äußerlich in der Herrichtung der Tische, noch “innerlich” in der Wahl des Menü Rechnung getragen werden – der Eindruck soll hauptsächlich durch die Dekoration des “Schauplatzes” zur Geltung gelangen, der am besten, wie auf unserm Bild, durch Fähnchen, Flaggen und grünes Reis erzielt wird. Daß man auch bei solchen “Massenabfütterungen”, wie man sich ungalant auszudrücken liebt, geschmackvoll sein kann, beweist unsere auf Abb. 2 wiedergegebene fürstliche Galatafel, die eine Fülle von Reichtum auf beschränktem Raum vereinigt, und deren enggedeckte Kuverte und lehnlose Stühle davon zu erzählen wissen, daß man hier nicht “ißt, um zu leben”, sondern nur, um einen zeremoniellen Vorgang zu erfüllen. Genußreich für den Egoisten, der in der Ergründung kulinarischer Meisterwerke nicht gestört sein will, gestaltet sich das an den kleinen runden Tisch (Abb. 5) aufzutragende Mahl. Ein durch verschleierte Kerzen schimmerndes Licht wirft sanfte Strahlen auf das alte Silber, spiegelt sich in den dünnen Gläsern und auf dem altfranzösischen Porzellan, dessen Form weniger gefällig als praktisch ist. Will man die Tendenz der Tischdekoration, wie sie sein soll, kurz zusammenfassen, so müßte sie – mit geringen, dem Geschmack des einzelnen entsprechenden Modifikationen lauten: für zeremonielle Diners und Soupers Kandelaber, Girandoles neben der Oberbeleuchtung, die durch Gas- oder auch elektrisches Licht in Blumenform unterstützt werden muß.

Endlich allein

Für kleine und allerkleinste Gesellschaft empfehlen sich Armleuchter, deren Kerzenlicht durch grün- oder rosaseidene Schleier noch gemildert wird. Junggesellen darf man es weiter nicht verübeln, daß sie, wie auf Abb. 6 unserer Bilder, die hängende Petroleumlampe noch ebenso “zum Wort” verstatten wie den Blumentopf als Tischmittelstück und die geflochtenen Porzellankörbe als Fruchtschalen.

Ein Junggesellendiner

Junggesellen sind eben bemitleidenswerte Geschöpfe, die nicht wissen können, daß man Fruchtschalen aus altem Meißner Porzellan wählt, silberne Prunkstücke zumeist als Zierde der Büfette an Ballabenden reserviert werden und diese Meißner Fruchtschalen mit ihren Rosen und Röschen auf Spiegel zu beiden Enden und in der Mitte des Tisches gestellt werden müssen, die mit einem Rahmen winziger Goldleiste oder, noch besser, mit einer Girlande Efeu oder Rosenlaub umgeben sein sollen. Das Glasservice darf keinerlei Dekor tragen, sondern nur einfach glattes Kristall sein, die Kelche auf einem langen Fuß ruhend, während die Wasser- und Weinkaraffen die bauchige Renaissanceform aufweisen. Sollte man über eine Krone verfügen, empfiehlt es sich, diese dem Glasservice in rotem oder grünem, goldgeschmücktem Email aufprägen zu lassen, oder sollte man verdammt sein, wappenlos durch dieses irdische Jammertal wanken zu müssen, wäre die Krone durch ein Monogramm zu ersetzen. Was die Tischwäsche betrifft, macht sich gegenwärtig durch amerikanischen Einfluß eine Neigung geltend, die appetitlichen weißen spitzenbesetzten Tischtücher durch eine Exzentrizität zu ersetzen, die wenig Aussicht auf Erfolg hat, und zwar durch eine den ganzen Tisch bedeckende Glasplatte, die in der Farbe des darunter liegenden Stoffes schimmert, der entweder ein goldgesticktes Meßgewand oder die Schleppe einer Bajadere sein muß. “Gusto ist G’schmacksach”, sagt man in Osterreich!

Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.