Von der sächsisch-thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig 1897

Längst schon haben sich die Pforten der sächsisch-thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig hinter einem glücklich unternommenen und einem erfolgreich durchgeführten Unternehmen geschlossen, so dass wir, wollten wir allein dem Tagesinteresse huldigen, kaum Veranlassung hätten, auf die Veranstaltung zurück zu kommen.

Man kann nun aber über die beständige Abnahme des didaktischen Werthes der immer häufiger auftretenden Unternehmungen dieser Art, über das fortschreitende Verkümmern dieses Werthes durch die wuchernde Ausbreitung desjenigen Theiles der Ausstellungen, der dem leeren Vergnügen gewidmet ist, denken wie man will, in architektonischer Hinsicht hat noch fast jede der bedeutenderen Ausstellungen des letzten Jahrzehntes künstlerische Ergebnisse von bleibendem Werthe gezeitigt. Bei der Leipziger Ausstellung war das in so hervorragendem Maasse der Fall. dass die verspätete Schilderung der bedeutenderen Bauwerke derselben schon dadurch gerechtfertigt wird, wenn sie nicht durch einen Umstand entschuldigt würde, welcher auch bei der Schilderung der Berliner Gewerbe-Ausstellung des verflossenen Jahres dem Interesse der Ausstellung nicht förderliche Schwierigkeiten bereitete: die Monopolisirung des Vervielfältigungsrechtes der Erscheinung ihrer Bauten und Anlagen. Infolge derselben gelang es erst nach Schluss der Ausstellung in Leipzig, brauchbare Vorlagen für eine bildliche Wiedergabe der bemerkenswertheren ihrer Bauten zu erlangen. Indem wir es unternehmen, einige derselben im Bilde vorzuführen, sind wir uns bewusst, der Ausstellung nicht jenen Raum zur Verfügung stellen zu können, den sie vermöge ihrer Durchführung beanspruchen darf, zumal jetzt nicht, wo nicht wenige Verpflichtungen zur Erledigung noch in diesem Jahrgange drängen und den Raum unseres Blattes empfindlich einschränken. Die nachstehende Veröffentlichung ist deshalb nicht als eine erschöpfende zu betrachten, sie bedarf im Gegentheil der Nachsicht der bei der architektonischen Gestaltung der Leipziger Ausstellung betheiligten Fachgenossen. Diese waren nach dem „offiziellen Führer“ die Hrn. Drechsler, Enger, Hannemann, Schmidt & Johlige und Tscharmann.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Man betrat die Ausstellung, deren Lageplan wir bereits auf S. 637 Jhrg. 96 u. Bl. gebracht haben, durch den Haupteingang, welcher nach den Entwürfen des Hrn. Architekten Heinrich Tscharmann seine architektonische Gestaltung und eine Auszeichnung durch 40 m hohe Obelisken erhalten hatte. In seiner Axe lag das imposante Hauptgebäude der Hrn, Schmidt & Johlige, von welchem das Kopfbild dieser Nummer die Aussenansicht des trefflich gelungenen Mitteltheiles, die Abbildungen auf S. 560 die Gesammtansicht und das Grundriss-System wiedergeben.

Das Gebäude war 245 m lang und 110 m tief; der stattliche Mittelbau entwickelte sich in einer Breite von 48 m und stieg an bis zu einer Höhe von 66 m bis zur Fahnenspitze der Laternen; vom Boden bis zur Plattform betrug die Höhe 46 m. Als System der Industriehalle ist das System aneinander gereihter Pavillons gewählt worden, um damit zu erreichen, dass sich die einzelnen Ausstellungsgruppen leichter trennen, eine intimere Behandlung zulassen und nicht durch unabsehbare Länge ermüden. Die gesammte Konstruktion ist in Holz ausgeführt, die Gründung erfolgte des sumpfigen Geländes wegen auf Pfählen. Der Bau wurde im Anfang August 1896 begonnen und rechtzeitig fertig gestellt. Die ursprünglich angenommene Halle hatte ein Flächenmaass von 15 000 qm; im Laufe der Entwicklung der Ausstellung erwies es sich als nothwendig, einen Anbau für die Ausstellung der gesammten Staatsbetriebe von 2500 qm Fläche, einen Anbau für die Gruppe Bergbau im Ausmaass von 1250 qm zu errichten und durch Ueberdachung eines ursprünglich frei gedachten Raumes weitere 4800 qm zu gewinnen, sodass die Gesammtfläche der Industriehalle nunmehr die Höhe von 23 550 qm erreichte.

Mittelbau der Industriehalle. Arch. Schmidt & Johlige in Leipzig

Von technischen Einzelheiten sei neben der interessanten konstruktiven Durchführung des weitgespannten Mittelbaues erwähnt, dass die durch Ausstellungs-Gegenstände schwer belastete Fussboden-Konstruktion unabhängig von der Umfassungs-Konstruktion ausgeführt worden ist, sodass bei den schlechten Grundverhältnissen mögliche Senkungen vermieden wurden.

Bei der Gestaltung des Aeusseren, insbesondere des Mittelbaues, wurde von einer Wiederholung des Kuppelmotives zugunsten des Pavillonmotives abgesehen und mit letzterem eine grosse und eigenartige Wirkung erreicht. Die weiss gelassene Verkleidung der Holzkonstruktion bestand in Drahtputz. Die künstlerische Wirkung wurde erreicht durch die geschickte architektonische Gliederung, durch die weissen Flächen, die rothen Dächer, eine sparsame Vergoldung und, insbesondere am Mittelbau, durch einen gut gewählten plastischen Schmuck mit dem sehr eigenartigen Motiv der figurengekrönten freien Säule.

Die Erhellung des Inneren der Hallen erfolgte schliesslich durch Seitenlicht, welches zumtheil von laternenartigen Aufbauten der mit Dachpappe gedeckten Dächer in das Innere strömte. Jeder Pavillon des Inneren hat eine besondere Dekoration, entweder durch Stoffe, welche zumtheil mit Malerei versehen wurden, oder durch eine Ausschalung in Gewölbeform mittels Brettern erhalten.

Die letztere kam besonders den beiden Eckpavillons, in welchen Musik-Instrumente aufgestellt waren, zustatten. Der Mittelraum war als Repräsentationsraum aufgefasst und hatte eine entsprechende Ausschmückung erhalten.

Industrie-Halle

Die Kosten des Baues haben einschliesslich aller Vergrösserungen und Dekorationen den Betrag von 800 000 M. etwas überschritten, erscheinen aber mässig im Hinblick auf den Umfang der baulichen Leistung. Da dieser Bericht ausschliesslich den Bauten selbst gewidmet sein soll, so sei nur flüchtig erwähnt, dass die Sonderausstellung der kgl. sächs. Staatsregierung in ihrer architektonischen Gestaltung ebenso reich wie vornehm war.

Ausstellungshalle der Stadt Leipzig
Hauptgebäude

Die Stadt Leipzig, welche der Ausstellung ihre Sympathien in reichem Maasse zugewandt hatte, hatte sich auch mit einer in sich geschlossenen Abtheilung an dem Unternehmen betheiligt. Der architektonische Rahmen hierfür wurde nach Entwürfen der Hrn. Stdtbrth. H. Licht und Arch. Max Bischof geschaffen. Der Grundriss auf giebt die dem praktischen Bedürfnisse vortrefflich dienstbar gewesene Eintheilung der Ausstellungshalle der Stadt Leipzig, die Abbildung ihre wirkungsvolle Aussengestaltung. Die Hauptwirkung der letzteren war auf einen stattlichen Portalbau vereinigt. Die Halle bedeckte eine Grundfläche von etwa 1200 qm und gliederte sich in einen durchgehenden vorderen Theil und in einen U-förmig sich anschliessenden hinteren Theil; ein umschlossener Hof war der Ausstellung der Tiefbau-Verwaltung eingeräumt. Das Gebäude war im wesentlichen in Holz und Putz errichtet, nur der Mittelbau hatte die erwähnte monumentalere Gestaltung erhalten. Er sollte den architektonischen Akkord andeuten, in welchem bei reicheren Mitteln das ganze Gebäude errichtet worden wäre. Die farbige Haltung des ganzen Bauwerks war weiss; sie war in einen geschickten Gegensatz zu dem saftigen Grün des Rasens und dem dunklen Grün der Zierbäume gebracht.

Ausstellungshalle der Stadt Leipzig. Arch. Stadtbrth. Licht und Max Bischof

Dem Zuge der Ausstellungsmode folgend, hatte auch die Leipziger Ausstellung zwei in sich abgerundete Veranstaltungen aufzuweisen, welche es versuchten, unter künstlerischen Gesichtspunkten einmal ein charakteristisches Bild einer Dorfanlage aus Thüringen und das andere Mal einen Abschnitt aus der geschichtlichen Vergangenheit der Stadt Leipzig zu geben.

Das Thüringer Dörfchen, ein Werk des Hrn. Arch. Fritz Drechsler in Leipzig, wollte ein anschauliches Bild der eigenartig intimen Stimmung der Dörfer des Thüringer Waldes den Besuchern der Ausstellung, welche den Thüringer Wald nicht kannten, darbieten. Nach dem untenstehenden Lageplan betrat man dasselbe durch einen, in eine Lehmmauer eingeschnittenen, von Thürmen flankirten Eingang und gelangte zunächst zur Elisabeth-Kapelle, die in dieser Gestalt einstmals am Fusse des Wartberges stand. An sie schloss sich ein romantisches Stück eines Kreuzganges, zu welchem die Cisterzienser-Abtei Georgenthal die architektonischen Motive des blühenden romanischen Stiles lieh (s. Abbildg. ). – Ein rechts vom Eingang stehendes Häuschen, ganz aus Holz errichtet, zeigte jenen Typus des alten thüringer Bauernhauses, in welchem noch Menschen und Vieh unter einem Dache wohnten. Das Häuschen stammte aus Langenbach. Aus Dornburg holte der Architekt das Motiv einer Schmiede, aus dem Lemnitzgrunde bei Lobenstein ein Gerberhaus, aus Lichtenberg eine Scheune und einen Taubenschlag, aus Pössneck die Motive zum Gemeindehaus, aus dem stillen Sormitzthale die Lindenmühle. Was erinnerte ferner lebhafter an Thüringen als das Wirthshaus „Zur grünen Tanne“? Die Lage der Wernesgrüner Schenke, die etwas abseits vom Dörfchen errichtet war, mag zugleich ein Bild des prächtig bewachsenen Geländes dieses Theiles der Ausstellung geben (siehe die Abbildg.).

Unfern des grosse Schönheiten aufweisenden Thüringer Dörfchens stand eine Nachahmung der Wartburg. Auch sie soll bekanntlich aus Thüringen stammen. Von ihr wollen wir aber nicht weiter sprechen. Mit ihr folgte der Architekt vermuthlich nur widerwillig einem ihm gewordenen Auftrag. Der offizielle Führer sagt: „Der Pallas enthält im Innern die genaue Nachbildung des grossen Sängerstreit-Saales der Wartburg, der hier zu Restaurationszwecken dient.“ Diese Restaurationszwecke! Ihnen ist nichts heilig!

Mit augenscheinlich grösseren Mitteln unternommen war eine Wiedergabe des „Alt-Leipziger Messviertels“ durch Hrn. Architekten Heinrich Tscharmann in Leipzig. Im Jahre 1497 bestätigte Kaiser Maximilian I. die alten Handelsprivilegien Leipzigs und dehnte das Stapel- und Messrecht der lebhaften Handelsstadt auf einen Umfang von 15 Meilen aus. Dieses für die weitere Entwicklung Leipzigs bedeutsame Ereigniss, die 400jährige Wiederkehr des Tages, an welchem die Grundlage geschaffen wurde für das im Laufe der Zeit errungene grosse Ansehen der Stadt als Handelsstadt, war der Gedanke, um welchen sich die Ausstellung überhaupt krystallisirte und welcher im Alt-Leipziger Messviertel noch zu einem besonderen Ausdruck gelangte.

Alt-Leipziger Messviertel – Blick in den Auerbachs Hof

Mit trotzigen Festungsmauern umschlossen, durch welche das Hauptthor der Pleissenburg Zugang zum alten Stadttheile gewährte, baute sich das Messviertel in malerischer Weise und in trefflicher Lokalfarbe auf. Einen Haupttheil des Viertels bildete der schon aus Goethes Faust I. Theil bekannte Auerbachs-Hof (s. Abbildg. ), wiedergegeben waren ferner das Beguinenhaus, das Hasenhaus, Barthels-Hof, die Heuwage und vor allem das giebel- und zinnengeschmückte alte Rathhaus, wie es vor dem durch Hieronymus Lotter bewirkten Umbau des 16. Jahrhunderts den Markt zierte.

Sächs.-thüring. Industrie- u. Gewerbeausstellung in Leipzig 1897

Eine Fülle historischer Erinnerungen ist in dieser kleinen Gruppe von Bauwerken, welche auf einer Fläche standen, die die Fläche des Thüringer Dörfchens auch nicht annähernd erreichte und gerade in dieser engen Zusammenrückung ein gutes Theil ihrer Gesammtwirkung fanden, vereinigt. Um nur neben Auerbachs-Keller noch eins zu nennen: rechts vom Beguinenhaus erhob sich „der güldene Apfel“, der ehemals am Ende des Brühls stand und Goethe im Jahre 1765 beherbergte. Hier liebte, wie der Führer – abweichend von den bisherigen Annahmen der Goethe-Biographen – erzählt, der junge Student und Dichter zur Abwechslung das Wirthstöchterlein Kätchen und schrieb, als er abblitzte, „Werthers Leiden“. Von Barthels 1523 erbauten Hof ferner, dessen damaliger Besitzer mit Entschiedenheit zur Sache der Reformation hielt, soll Luther zu einer vor dem Hause versammelten Menge gepredigt haben.

Vor dem Burgkeller des Messviertels stand das Standbild Kaiser Maximilians I.; auch das „Spindlerthürmchen“ war nicht vergessen, das seit 1595 säumigen Schuldnern zum unfreiwilligen Aufenthalte diente. Man darf alles in allem sagen: Es vereinigte sich im Alt-Leipziger Messviertel eine Gruppe gut nachgeahmter Bauwerke in erfreulicher Weise zu einer Stimmung, welcher das Zurückversetzen in die stilleren und gelassener dahinfliessenden Zeiten der vergangenen Jahrhunderte und insbesondere der Leipziger Renaissance nicht schwer wurde.

Für die Kunstabtheilung der Ausstellung war ein Gebäude geschaffen, dessen Entwurf dem Architekten. Hrn. Franz Hannemann in Leipzig übertragen war. Auch dieser Bau, welcher im Anfang für eine Boden-Fläche von nur 1600 qm geplant war, hat im Laufe der Entwicklung der Ausstellung Vergrösserungen erfahren, die seine Fläche auf 2100 qm brachten. Dabei blieb der Durchschnittswerth der in ihm aufgestellten Kunstwerke ein erfreulich hoher.

Kunstausstellungs-Gebäude. Arch. Frz. Hannemann in Leipzig

Die ungefähre Grundrissanordnung und Gruppirung des Gebäudes lässt sich annähernd aus der vorstehenden Abbildung ableiten. Für die architektonische Ausbildung war bei strengster Einfachheit der klassische Stil gewählt und es wurde dabei das, was die beschränkte Bausumme von 97 000 M. an Schmuck versagte, durch eine wirkungsvolle Gruppirung gut ersetzt. Das Konstruktionsgerüste des Baues ist durchaus in Holz durchgeführt und beiderseits mit Gipsdielen bekleidet worden. Die Gewölbe der Vorhalle wurden in Rabitz ausgeführt, die Ausstattung der übrigen Räume durch Stoffbespannung und Nesselblenden bewirkt. Im Gesammteindruck war, wie auch die Abbildung erkennen lässt, das Weiss vorherrschend und hatte lediglich durch die farbigen Portalsäulen, zwei Ausstellungsstücke aus bayerischem Granit, eine bescheidene Unterbrechung erhalten. Es darf bemerkt werden, dass sich die Kunstwerke einer richtigen und ausgiebigen Beleuchtung erfreuten und in den in ihren Abmessungen nicht übertriebenen Räumen zu einer guten Wirkung kamen.

Demselben Architekten war auch die Konstruktion der 188 m langen und 80 m tiefen Maschinenhalle mit einer Bodenfläche von gegen 17 000 qm übertragen worden. Künstlerische Gestaltungen aber hat sie nicht erhalten, die konstruktiven Anordnungen hielten sich innerhalb der Grenzen der bekannten Konstruktions-Grundzüge.

Unter den zahlreichen übrigen Gebäuden, die je nach der Summe, welche zu ihrer Errichtung zur Verfügung gestellt war und je nach dem künstlerischen Vermögen, welches ihre Urheber bekundeten, mit mehr oder weniger künstlerischem Aufwand errichtet waren, gestattet uns der beschränkte Raum nur noch eines herauszuheben und ihm eine kurze Besprechung zu widmen und zwar, weil bei seinem Entwurf der Künstler von dem ausgesprochenen Bestreben geleitet war, alte Pfade zu verlassen und neue einzuschlagen.

Sächs.-thüring. Industrie- u. Gewerbeausstellung in Leipzig 1897

Es ist die nach den Entwürfen des Hrn. Arch. Tscharmann errichtete Haupt-Gastwirthschaft, ein stattliches Gebäude mit einem 1000 Personen fassenden Saal. Die Grundrissanlage und die architektonische Komposition gehen aus unseren Abbildungen sowie aus der umstehenden Konstruktionszeichnung hervor. Aus denselben wird man unschwer erkennen, dass die bestimmte Absicht vorwaltete, bei Oeffnungen, Raumabdeckungen usw. der geraden Linie den Krieg zu erklären und der geschwungenen die Herrschaft zuzuweisen. Wenn auch dieses Bestreben nicht aus heimischen Verhältnissen heraus entstanden, sondern vom Auslande eingeführt ist, so bleibt der Versuch deshalb für uns nicht minder interessant. Daneben her aber geht eine zweite, selbständige Absicht, dem Material in der äusseren künstlerischen Erscheinung nach Möglichkeit gerecht zu werden, wie das eben die neue Kunst, deren Bereich das Gebäude zuzuweisen ist, meint. Die hier erkennbare Anschauung ist nicht unerheblich verschieden von der bisherigen Anschauungsweise über das Material und seine Eigenschaften und besonderen Ansprüche. Die letzteren pflegten bisher nicht unbeachtet zu bleiben, nunmehr aber werden sie beiseite geschoben. Wurde bisher die Kunstform dem Material dienstbar gemacht, so wird nunmehr das Material der Kunstform unterworfen, die Kunst ist souverain; die gestaltende Kraft der Phantasie darf durch die Unzulänglichkeit des Materials nicht beeinträchtigt werden. Schreibt die Phantasie eine geschwungene Linie vor, so wird sie in Holz ausgeführt, selbst wenn tausend Strukturfasern dabei zerschnitten werden. Dabei bleibt das Material nicht minder Holz wie vorher. Dem Stein wird zugemuthet, was er ertragen kann, er bleibt deshalb nicht minder Stein. An die Stelle der Werthschätzung der struktiven Eigenschaften eines Materials tritt die seiner künstlerischen Eigenschaften. Wir glauben, dass sich darüber streiten lässt, bei welchen Bestrebungen die Kunst mehr gewinnt, ob bei einer engen didaktischen Abgrenzung oder bei einer weniger gebundenen, mehr der Phantasie ergebenen Freiheit.

Haupt-Gastwirthschaft. Arch. Tscharmann

Etwas von den letzteren Bestrebungen, freilich noch recht schüchtern im Vergleich zu dem, was Frankreich und Belgien auf diesem Gebiete leisten, enthält die Hauptgastwirthschaft. Sie ist ohne Frage ein sympathisches Gebäude und ist es für uns vielleicht nur deshalb in höherem Maasse, als z. B. die Arbeiten von Hankar es heute sind, weil sie noch keinen vollen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet, wie es bei Hankar’’s Werken wahrzunehmen ist. Wie lange aber noch wird uns das auffallen? Zweifellos nicht mehr sehr lange, denn die Entwicklung drängt allenthalben mächtig nach neuen Gestaltungen.

Haupt-Gastwirthschaft. Arch. Tscharmann

Den Abbildungen der Hauptgastwirthschaft haben wir nur wenig hinzuzufügen, sie sprechen für sich selbst. Hingewiesen sei auf die stattliche Weiträumigkeit und die Weichheit ihrer architektonischen Umgrenzung. Eine bescheidene Höhenentwicklung und die Geschmeidigkeit der Bohlenträger, die in der Vierung eine Spannweite von 22 m annehmen, haben diese Eindrücke bewirkt. Dunkles Holz helle Flächen, sparsame Farbengebung für ein schönes vegetabilisches Ornament ergänzen die Wirkung, bei deren Beurtheilung man billiger Weise den ephemeren Charakter des Baues nicht ausser Rechnung lassen darf. Der letztere bedeutet eine Weiterentwicklung neuer Gedanken, die schon auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung des vorangegangenen Jahres deutlich zu erkennen waren. An ihnen mit Augen vorbeizugehen, die durch die Schulbrille getrübt sind, würde heissen eine Bewegung unterschätzen, deren Einwirkung und Ergebnisse vorläufig noch nicht abzusehen sind, denn einstweilen gährt es noch, wo man hinblickt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 13., 17. & 27.11.1897 in der Deutsche Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „Amann“.